Monique Dée

Stoffwechsel


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Sie sperrten die weiße, hölzerne Tür auf und ergriffen Besitz von ihrem Domizil für eine Woche. Von einem Windfang und einer Diele mit ein paar knallroten Garderobenhaken und einem Jugendstiltischchen an der Wand kam man direkt in ein weitläufiges Wohnzimmer. Eine riesige anthrazitgraue Sitzgruppe stand um den Ofen herum.

      „Das nennt man Wohnlandschaft“, sagte Carolin beeindruckt. „Wisst ihr, dass ich kaum irgendetwas so gerne tue wie eine liebevoll eingerichtete Ferienwohnung zu erkunden? Es ist, als hätte man ein zweites Zuhause.“

      „Schreibst du neuerdings auch für Möbelmagazine? Oder für Ferienhauskataloge?“

      Carolin blickte zu Inga hinüber, die mit der Zunge zwischen den Zähnen zu ihr herüberblickte.

      „Dieses Haus haben wir nur ausgesucht, damit du eine Nachhilfestunde in südskandinavischer Geographie kriegst“, gab sie zurück.

      „Touché.“

      Inga grinste und nahm den Raum genauer unter die Lupe. In der Ecke gegenüber dem riesigen Sofa stand ein weißer Tisch mit sechs Stühlen drum herum, Jugendstil wie der im Flur. Große Sprossenfenster mit niedrigen Fensterbänken öffneten den Blick in den Garten, der herbstlich kahl war und eine Rasenfläche zeigte, die von hohen Heckenrosen eingerahmt war. Vereinzelte Blüten tupften ein paar Farbflecke in das etwas triste, herbstliche Bild. Neben dem Esstisch war ein breiter Durchgang, dahinter befand sich ein geräumiger Wintergarten. Carolin ging neugierig hin und lugte um die Ecke. Ein rotes Sofa stand an der Wand links neben der Tür, diesmal ein biedermeierliches, bezogen mit einem floralen Webmuster. Davor ein rechteckiger weißer Tisch. Rot und weiß schien das Farbkonzept in diesem Teil des Hauses zu sein. Zwei ausladende Korbsessel standen davor, zwei weitere in den beiden Ecken. Eine gläserne Flügeltür führte in den Garten, der inzwischen im Dunkeln lag. Windlichter mit dicken Kerzen standen auf dem Tisch und den antiken Beistelltischen. Breite Fenster gingen auch hier an den Seiten bis zum Boden. Carolin seufzte und freute sich darauf, hier nachmittags ihren Kaffee zu trinken.

      Florence nahm währenddessen die Küche ins Visier. Sie war ebenso großzügig angelegt wie die Sofaecke. Weiß und glänzend mit Arbeitsplatten aus rotem Kunststein. Die technische Ausstattung ließ nichts zu wünschen übrig: Spülmaschine, Waschmaschine, Mikrowelle, ein einzelnstehender knallroter Kühlschrank wie aus einem amerikanischen Spielfilm. Florence kannte die Marke, sie hatten zu Hause den gleichen. Sie öffnete die Schränke, um das Geschirr zu inspizieren. Weiße, schlichte Essteller mit großem Durchmesser. Ein Teeservice von Royal Copenhagen, wie sie erstaunt registrierte. Vermutlich nutzen die Eigentümer das Haus häufiger, die Antiquitäten hier und da deuteten darauf hin, dass sie einen persönlichen Bezug dazu hatten. Links neben der Küchenzeile stand ein alter Geschirrschrank, der abgeschlossen war. Darin befand sich dann vermutlich das Familiensilber, schlussfolgerte Florence. Na, das würde ich auch nicht x-beliebigen Feriengästen anvertrauen. Vorausgesetzt, sie hatte Recht mit ihrer Vermutung. Zwei kleine quadratische Fenster gaben Licht für die Köchinnen. In den Fenstern, auch im Wohnbereich, standen kleine Lämpchen, die bei ihrer Ankunft erleuchtet gewesen waren. Das verlieh dem Haus schon von außen ein anheimelndes Aussehen und verlieh einem das Gefühl, willkommen zu sein.

      „Kommt mal hierher“, rief Bernadette von oben.

      Sie stand im Badezimmer, das im Gegensatz zu den in Dänemark sonst üblichen Maßstäben riesig war. In der Mitte stand vor einer großen, halbrunden Dachgaube eine freistehende Badewanne auf goldenen Löwenfüßen. Die anderen nickten, gebührend beeindruckt.

      „Ich wette, durch das Fenster hier sehen wir morgen früh das Meer“, sagte Carolin zufrieden. Sie hatte das Haus gefunden und fühlte sich als stolze Entdeckerin. Florence nickte anerkennend.

      „Das hast du wunderbar gemacht, meine Liebe. Du hast einfach ein Händchen für sowas.“

      Carolin lächelte von einem Ohr zum andern.

      „Lasst uns die Schlafzimmer aufteilen“, schlug Inga vor. Sie nahmen nacheinander das Angebot in Augenschein, ein geräumiges Schlafzimmer mit breitem Doppelbett auf der einen Giebelseite und zwei Zimmer mit französischen Betten auf der anderen.

      „Florence und ich könnten das Doppelbett nehmen“, bot Bernadette an. „Wir sind es ja gewohnt, unser Bett zu teilen, da kriegen wir das hier wohl auch hin. Oder?“

      Florence nickte.

      „Ich bin schlaftechnisch unempfindlich. Jo schnarcht wie ein Sägewerk und ich schlafe tief.“

      „Jo schnarcht?“ wiederholte Inga. „Wie erfrischend. Endlich mal eine negative Eigenschaft. Das wäre ja sonst nicht auszuhalten.“

      „Jaime schnarcht auch“, meldete sich Bernadette.

      „Na, dann bin ich ja beruhigt. Ihr werdet euch also vollkommen heimisch miteinander fühlen und Carolin und ich brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, dass wir uns die Einzelzimmer unter den Nagel reißen.“

      „Ach, wer weiß… Vielleicht modifizieren wir auch die Verabredung mit dem Morgenkaffee, und den bringt ihr uns beiden umschichtig.“

      Florence lächelte verschmitzt und nahm zur Abwechslung mal Inga auf die Schippe. Die sagte aber nur nüchtern:

      „Einverstanden. Ich bin morgens eh´ früh wach. Das ist doch ein gerechter Ausgleich.“

      Daraufhin gingen sie zum Auto zurück, jede schulterte ihr Gepäck und sie zogen einträchtig in ihre temporäre Behausung ein.

      Ein Wagnis

      Am nächsten Morgen war Inga tatsächlich als erste wach und setzte wie versprochen einen Kaffee für die anderen auf. Florence und Bernadette saßen schon aufrecht im Bett und lasen, als sie ihnen die wohlduftenden Becher brachte, während Carolin noch tief in die Kissen gewühlt schlummerte. Man sah nur ein paar Zipfel ihrer blonden Haare. Inga stellte ihr den Kaffee auf den Nachttisch und ging wieder nach unten. Sie setzte sich in den Wintergarten, auf den sie sich am Abend vorher schon gefreut hatte und nahm ein Notizbuch in die Hand. Auf Reisen pflegte sie Tagebuch zu schreiben, vor allem, um es später ihrer Schwester vorlesen und sie auf diese Weise mit ihren Erlebnissen zu amüsieren. Sie liebte diese Stunde vor Tau und Tag, wenn sie die Welt für sich alleine hatte. Dann saß sie gerne auf Plätzen in südlichen Flecken dieser Erde und sah den Lieferanten zu oder beobachtete die Aufräumaktionen der örtlichen Müllabfuhr.

      Inga reiste gern und häufig, wie es sich für eine Geographielehrerin gehörte. Sie hatte weite Reisen hinter sich, die sie an die entlegensten Ecken der Erde gebracht hatten. Sie war in den chilenischen Anden auf Maultieren geritten und in Nepal gewandert, hatte die Küste von Sri Lanka erkundet und Death Valley durchstreift. Sie war in Angkor Wat und Machu Picchu durch die Ruinen gestromert, und Pompeji kannte sie auswendig, das war ihr Leib-und-Magen Ziel. Dahin fuhr sie mit jedem Geschichtskurs in der Abschlussstufe. Ihr größtes Abenteuer war eine Schiffsreise in die Antarktis vor ein paar Jahren, die sie mit ihrem Sohn Mattis zusammen unternommen hatte, als der seinen Doktor fertig hatte.

      Sie war also das Reisen gewöhnt. Nicht, dass es Routine gewesen wäre, dann hätte es ja auch keinen Spaß mehr gemacht, aber sie kannte sich aus auf den Flughäfen dieser Welt, auch auf den ganz kleinen. Sie beherrschte drei Sprachen so gut wie fließend und noch ein paar weitere bruchstückhaft, sie konnte sich in der Fremde durchschlagen. Sie hatte alle möglichen Transportmittel ausprobiert und geriet nicht in Panik, wenn sie mit dem Jeep mitten in der Wüste unter kreisenden Geiern eine Autopanne hatte. Aber all diese Erlebnisse und Erfahrungen nützen ihr gerade gar nichts. Denn jetzt hatte sie eine Reise vor sich, die ihr wirklich im Magen lag. Zusammen mit ihrer kleinen Schwester plante sie eine Reise zu ihrem Vater. Das allein wäre noch nichts Ungewöhnliches gewesen. Das Besondere an dieser Reise war allerdings, dass sie ihren Vater seit fünfundvierzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Als sie fünf Jahre alt war, hatte er die Familie verlassen – ihre Mutter, ihre kleine Schwester Astrid und sie selbst, und sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört.

      Sie schluckte einen leichten Kloß im Hals herunter und fragte sich, ob es wirklich richtig gewesen war, die Vergangenheit aufzuwühlen,