Hannelore Kleinschmid

Wie ein Engel auf Erden


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Beine waren noch sehr zittrig, als erstmalig die paar Schritte zum Rollstuhl gelangen, und die Knie waren noch immer wacklig, als mich Karin zum ersten Mal im neuen Leben in meine alte Wohnung brachte. Wir fuhren in ihrem schönen Westauto, das ich mit Blicken bewunderte.

      Alte und neue Häuser in leuchtenden Farben grüßten mich unterwegs unbekannterweise, während die altersgrauen Gebäude dazwischen sich trübsinnig und schicksalsergeben dem Verfall überließen. Kurz bevor wir das Viertel mit den eintönigen Wohnblocks erreichten, an das ich mich in vielen Jahren als mein Zuhause gewöhnt hatte, staunte ich über die hellerleuchtete Tankstelle. Ich konnte mich nicht erinnern, was sich früher an diesem vielversprechenden Fleck befunden hatte.

      "Die Tankstelle ist super." schien Karin meine Gedanken zu lesen. "An allen Ecken und Enden findest du neuerdings Tankstellen, die zu jeder Zeit alles Mögliche für teures Geld verkaufen. Erinnerst du dich noch, wie lange wir manchmal mit dem Trabbi in der Schlange vor der einzigen Zapfsäule weit und breit gestanden haben? Naja, dafür spielte das Geld nicht so eine verdammt wichtige Rolle wie heute."

      Augenscheinlich kamen Karin und Fritz mit dem Geldverdienen unter realkapitalistischen Verhältnissen gut zurecht. Immerhin hatte Karin ihren Trabbi gegen den silbrig glänzenden Wagen eingetauscht, der nahezu geräuschlos dahinglitt. Schwindlig vom Schauen lehnte ich in seinen Polstern. Fürsorglich hatte mich Karin angegurtet. Fragen gingen mir durch den Kopf. Aber ich genoss die neue Erfahrung, dass man nichts versäumt, wenn man ein paar unbeantwortete Fragen erträgt.

      "Gleich wirst du staunen!" versprach meine Freundin. "Eure Häuser sehen nämlich irgendwie richtig toll aus. Erstaunlich, was so ein bisschen Farbe bewirken kann. Wenn sie hält!"

      Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich mich auf Karin und am Geländer hängend in den ersten Stock des Hauses hievte, in dem sich meine bejahrte Zwei-Raum-Neubauwohnung befand. Ich wusste, dass das Herzrasen nicht allein von der körperlichen Anstrengung herrührte, sondern vor allem von der Aufregung. In wenigen Augenblicken würde ich meinem Früher begegnen. Was würden mir meine Habseligkeiten über Beate Blaugrün sagen? Was würde ich in dem Zimmer empfinden, in dem ich hatte Schluss machen wollen?

      Für die frühere Beate schien es typisch zu sein, dass die Aktion Selbstmord nicht geglückt war. Warum ich mich umzubringen versucht hatte, reimte sich mein komatös geleerter Kopf mühselig zusammen. Wie Mosaiksteinchen fügte ich die Gründe aneinander. Doch wie verzweifelt ich am 2. Oktober 1990 gewesen sein musste, konnte ich nicht mehr nachempfinden. Es kam mir lächerlich vor, dass ich Dramatik in mein kleines Leben hatte bringen wollen. Aber Durchschnittsmenschen wie ich verzweifeln eben am Dasein, wenn Veränderungen sie aus den vertrauten Bahnen zu werfen drohen. Oder wenn jemand wie ich das denkt!

      Jedenfalls fühlte ich nichts von meiner damaligen Depression, als ich vor dem Bett stand, auf dem mich niemand anders als Karin gefunden hatte. Nur ein einziger Gedanke beherrschte mich, während ich - nach Atem ringend - meiner Wohnung wiederbegegnete: Sie war fürchterlich eng und vollgestopft mit allem möglichen Zeug. Hier bekam man keine Luft. Die schweren Möbel aus der Hinterlassenschaft meiner Eltern wirkten erdrückend. Dass ich das nie bemerkt hatte, wunderte mich.

      Nachdem mein Vater "nach langem, mit großer Geduld ertragenem Leiden" - wie ich in der Todesanzeige log - "eingeschlafen" war, floh ich die großen dunklen Räume, in denen ich mein Leben, seitdem ich denken konnte, zerronnen war. Mit meinem kleinen Gehalt als Bibliothekarin bei der Deutschen Reichsbahn hätte ich die Miete schwerlich aufbringen können, obgleich ihre Geringfügigkeit zu den sozialistischen Errungenschaften zählte. Die Riesenräume im ersten Stock der alten Villa, in denen sich die Vorhänge bei geschlossenen Fenstern bewegten, wenn draußen Wind wehte, fraßen Kohlenberge, waren aber nur schwer warm und sauber zu halten. Das hatte ich ausgiebig am eigenen Leibe erfahren. Mein Vater, der Arzt Doktor Blaugrün, hatte, solange meine Mutter lebte, stets eine Haushaltshilfe bezahlt. Erst nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, musste seine einzige Tochter als Dienstmädchen zur Verfügung stehen. Tatsächlich stand sie zur Verfügung, die brave Beate, deren Beruf der Herr Akademiker nie ernstnahm.

      „Bücherwurm, mach mal!" pflegte er anzuordnen. Fünfzehn Jahre habe ich als gehorsame Tochter den Haushalt geführt und mit ihm, ohne je zu widersprechen, die Wohnung geteilt.

      Warum fing ich kein neues Leben an, nachdem die Zwänge abfielen und ich von Vater und Wohnung befreit war?

      Ich weiß es nicht. Die herrschsüchtige Stimme hatte mich so lange im Zaum gehalten, was bei meiner Art nicht schwer war. Auch ohne sie blieb ich die gehorsame Tochter.

      Für mich kinderloses Fräulein verhießen die Bestimmungen über Wohnraumlenkung in der Ehemaligen nach Vaters Tod eine Ein-Raum-Wohnung. Doch mein geschäftstüchtiger Erzeuger hatte mich vorausschauend in einer Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft angemeldet, so dass ich eine AWG-Wohnung mit zwei Zimmern beziehen durfte.

      Braunkohle gab es im Land, und Kohleöfen erlaubten billiges Bauen. Zudem bedeutete für die werktätigen Menschen Ofenheizung eine echte sozialistische Hilfe zur Gesunderhaltung. Treppauf und treppab zu laufen, war für Bürger mit sitzender Tätigkeit staatliche Fürsorge. Asche runter und Kohlen hoch - lautete der Rhythmus, dessen Tempo sich daraus ergab, wie warm es einer haben wollte.

      Als ich jetzt gegen die kalte Ofenwand gelehnt stand, umschlossen mich meine vier Wände alptraumhaft, obwohl Karin die Wohnung gelüftet und einen Blumentopf zur Begrüßung auf den Couchtisch gestellt hatte. Das Gewächs mit den weißen Blüten, das an einen gebogenen grünen Plastikstab gefesselt war, sah ich zum ersten Mal. Trotz der vielen Blüten tat es mir leid. "Geht es dir nicht gut?" fragte die einzige Freundin. Offenbar spiegelte meine Miene etwas von dem Alptraum wider, der mich umfangen hielt.

      In meiner neuen Situation erlaubte die Frage keine eindeutige Antwort. Wenn ich nickte, besagte das: Ja, es geht mir nicht gut. Wenn ich den Kopf schüttelte, hieß es: Nein, es geht mir nicht gut. Um irgendeine Antwort zu geben, schüttelte ich den Kopf.

      Gewöhnt alle Schwierigkeiten des realsozialistischen Alltags zu meistern, würde mich Karin gewiss von Möbelstücken befreien können, die diese beiden Zimmer überfüllten.

      Ich war entschlossen, keines der früheren Gefühle in mir hochkommen zu lassen. Nie wieder im Leben wollte ich mich aus Verzweiflung umbringen.

      4.

      Als Karin mich nach dem ersten Besuch in meiner Wohnung wieder nach Pfaffi fuhr, starrte ich aus dem Fenster, schweigend, wie es meine neue Art war. In der Beziehung zu Karin fiel das nicht weiter auf. Wenn ich mich auf den Erinnerungspfad in die DDR begebe, höre ich Karin reden, sehe mich von Zeit zu Zeit nicken und zu einem wehleidigen Aber ansetzen, dem selten ein vollständiger Satz folgte.

      Im Laufe unserer Bekanntschaft wurde ich zu ihrem dritten Kind. Darin lag wohl der wahre Grund für unsere wunderbare Freundschaft. Das Mutter-Kind-Verhältnis war der Leim für unsere Bindung. Dabei war sie, seitdem ich sie kannte, nicht nur Hausfrau und Mutter, sondern zusätzlich für das Wohl und Wehe einer ganzen sozialistischen Kinderkombination zuständig, die Krippe und Kindergarten vereinte in einem Bauwerk, wie es sich überall in der Republik zweckgebunden wiederfand.

      In Karins Herz war so viel Raum, dass sie mich im zarten Alter von vierzig Jahren als Vollwaise in ihren Familienkreis aufnahm.

      Wir liefen zusammen. Wir joggten hintereinander her oder nebeneinander, und es war die schönste Zeit in meinem Leben. In meinem ersten Leben, füge ich zur Unterscheidung hinzu, denn das neugewonnene soll - wie ich mir selbst dauernd denke - nichts als genussreiche Zeiten bringen. Die Depressionen schicke ich sonst wohin, lasse sie den Bach runter und allein in die Hölle gehen. Im neuen Leben schlucke ich alle Pillen, derer ich habhaft werden kann. Wenn sie mir zu rosiger Stimmung verhelfen, muss nicht eine einzige von ihnen durch die Abflussrohre in die Kanalisation schwimmen.

      Dass ich mit Karin joggte, machte Fritz zwar manchmal eifersüchtig - sofern ein wortkarger Mann das überhaupt zu zeigen vermag -, in mir weckte der Dauerlauf jedoch Begeisterungsschübe. Übrigens bin ich keineswegs lesbisch. So zu denken, wäre falsch. Unter Karins Fittichen war ich zehn Jahre lang Kind und durfte es sein! Mehr war da nicht. Das schwöre ich.