Hannelore Kleinschmid

Wie ein Engel auf Erden


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"Bedenkzeit!"

      Freundlich lächelnd und in unangemessen väterlichem Tone Wohlbefinden wünschend, trat der junge Arzt ab.

      Mein Kopf beschäftigte sich nicht mit seiner Frage, sondern mit seinem Bilde. Ich zog ihn aus, legte ihn auf mein Bett im Schlafzimmer und ließ ihn dort liegen, wo ich - nur noch mit einem Hauch am Lebend hängend - gelegen hatte, als mich Karin fand.

      Wieder einmal bemerkte ich, wie es mich überkam, ohne dass ich der geringsten Nachhilfe bedurfte.

      Ich wollte mir keine Gedanken darüber machen, welches Chaos im Hormonhaushalt einer Frau herrschen muss, die die Wechseljahre im schwarzen Loch verbracht hatte, sondern genoss meine neuen Möglichkeiten ausgiebig, bis eine Schwester ins Zimmer trat. Weil sie nicht angeklopft hatte, durfte sie über mein verzücktes Lächeln staunen, falls sie wollte.

      8.

      An einem Abend, an dem die Sonne blutrot unterging, redete Karin hastig, wie sie gekommen war. Ohne Punkt und Komma sagt man dazu. Ich betrachtete die Sonne und malte mir aus, wie befriedigend es sein müsse, wenn man malen und das grandiose Schauspiel im Bild festhalten könnte. Plötzlich erschrak ich. Was war das? Was hatte Karin gerade gesagt? Die Worte waren durch mich hindurchgerauscht, aber ein einziges hatte getroffen. Vorsichtshalber achtete ich von nun an, auf Karins Worte.

      "Weißtdueigentlichwielangedujetztschonaufgewachtbist?" Sie hatte eine Frage gestellt, auf die sie keine Antwort erwartete. Es gelang mir nicht, Wörter aus dem Buchstabensalat zu filtern. Ich zog die Stirn in Falten. Zufällig sah Karin mich an. Daraufhin schüttelte ich ganz sacht den Kopf. Kein richtiges Nein sollte das sein, sondern ein bisschen Zweifel. "Washastdu?" fragte sie. Ich zuckte mit den Schultern. Sie hatte eine Erleuchtung: "Ich rede zu schnell, oder? Fritz beschwert sich dauernd darüber." Ich nickte und war wieder einmal erstaunt, wie gut der Mensch ohne Worte auskommt.

      "Also" sagte meine beste Freundin, "also," wiederholte sie langsam, "seitdem du aufgewacht und Rekonvaleszentin bist, machst du tolle Fortschritte. Das hat der Oberarzt vorhin zu mir gesagt. Ich bin ihm auf dem Flur begegnet. Sie denken daran, dich zu entlassen."

      Wahrscheinlich wurde ich blass, denn Karin fuhr fort: "Das ist ein Riesenerfolg für dich. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Wie du weißt, kann ich alles organisieren. Ich bin doch jetzt Amtsleiterin im Sozialamt und kenne mich aus."

      Von der Amtsleiterin wusste ich nichts. Ich hatte es nicht wissen wollen, weil es mich nicht interessierte. Jetzt stieg wie eine Flutwelle Panik in mir auf. Nach Hause! Nach Hause? Was sollte ich in den überfüllten zwei Zimmern! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich mich mit Alltagsdingen beschäftigte wie Einkaufen, Saubermachen und abends Fernsehen.

      In Pfaffenroda gefiel es mir. Ich war für nichts verantwortlich und bekam mehr Beachtung als je zuvor im Leben. Ein Ende dieser Geborgenheit hatte ich nicht in Betracht gezogen. So einfach war das!

      "Regdichnichtauf!" steigerte Karin für meinen plötzlich vollgestopften Kopf das Redetempo zu sehr. Ich ließ sie reden, bis ich nach Minuten das Wort Physiotherapie aufschnappte und festhielt. Jemand würde mir helfen und sich kümmern. Ob ich mir dafür einen Mann aussuchen könnte?

      "Du-wirkst-abwesend." sagte Karin mit deutlichen Pausen zwischen den Worten. "Hast-du-alles-verstanden?" Ich zog es vor, den Kopf zu schütteln. Nun lieferte sie eine leicht verständliche Kurzfassung: "Du darfst damit rechnen, bald hier entlassen zu werden. Wahrscheinlich wirst du aber noch längere Zeit Behandlungen erhalten. Von einem Physiotherapeuten, vielleicht auch von einem Psychologen. Je nachdem, was du brauchst. Dir wird weiterhin geholfen. In der neuen Zeit.“

      Mit kläglichem Lächeln nickte ich.

      Zum ersten Mal seit langem siegten beim Einschlafen trübe Gedanken. Es gelang mir nicht, in einen lustvollen Traum hinüberzugleiten.

      9.

      Am nächsten Morgen klopfte Holger Vormüller schon frühmorgens an meine Tür. Noch hatte ich nicht entschieden, ob ich für ihn als Versuchskaninchen auftreten wollte. Doch der junge Arzt fragte nichts, sondern erklärte mir stattdessen meinen Gesundheitszustand. Wie ein Patient sich fühlt, weiß der Halbgott am besten. Mir attestierte der junge Viertelgott, ich sei gesund. Ärgerlich griff ich zu einem Zettel. Das tat ich selten, weil mein Schweigen alles um mich herum so angenehm in Watte packte. Diesmal aber kritzelte ich:

      WARUM bin ich stumm?

      In mildem Tone begann das Vormüllerchen einem Kindergartenkind zu erklären, dass Kopf und Körper Blaugrün nach allen Tests viel besser funktionieren, als es laut Literatur bei so anhaltendem Koma zu erwarten gewesen sei.

      "Was nicht hundertprozentig in Ordnung ist, braucht einfach noch Zeit, um sich zu regenerieren.“ Er sah mir in die Augen, und ich schenkte ihm ein dünnes Lächeln.

      Der junge Mensch sah wirklich sehr gut aus. Ob ihm die Frauen scharenweise nachliefen? Ob er in festen Händen war?

      Einen Ring tragen die wenigsten, die als Mediziner arbeiten. Dafür machen sie hygienische Gründe verantwortlich. Einen Wimpernschlag lang wollte ich Holger Vormüller auf einem Zettel nach seiner Frau fragen. Doch ich besiegte die aufkeimende Neugier. Warum sollte ich meinen Träumen Fesseln anlegen? Stattdessen erfreute ich mich am Anblick des wohlgeratenen Mannes. Dazu musste ich nichts über seine Lebensumstände wissen.

      Bei aller Träumerei durfte ich allerdings nicht so verrückt werden, auf irgendeine glückliche Zweisamkeit in meinem Leben zu hoffen. Von Zeit zu Zeit war ein Blick in den Spiegel angebracht.

      "Wir können Sie in Bälde entlassen." erklärte mir Holger Vormüller.

      Als Antwort bekam er ein Achselzucken.

      "Das alles soll Schritt für Schritt geschehen. Zunächst können Sie den Sonnabend und den Sonntag tagsüber zu Hause oder - wenn Ihnen das nicht zusagt - bei Freunden verbringen. Nachts kehren Sie in unsere Obhut zurück. In Ordnung?"

      Ich nickte.

      "Wenn Sie das gut verkraften, entlassen wir Sie vom Freitagnachmittag an in den Wochenendurlaub.“

      Lächelnd nickte ich ihm zu. Dadurch ermutigt, wagte er die Frage, ob ich mich schon für eine Kongressteilnahme entschieden hätte. Ich wiegte den Kopf und genoss seinen bittenden Blick. Prompt reagierte mein Körper. Doch das blieb dem Vormüllerchen verborgen.

      Beglückt gab ich mich, nachdem er im Ärzteschritt davongeeilt war, meinen Phantasien hin, bis ich durch den Oberarzt gestört wurde. Während ich das geschäftige Blablabla über mich ergehen ließ, fühlte ich tief in mich hinein und fühlte mich weiblich wie nie zuvor. Vor den Augen des Mediziners ließ ich es mir gutgehen. Und er bemerkte nichts!

      Nichts würde ich je darüber verraten, dass mich aus ungeklärter Ursache Hormonströme durchflossen, als sei ich in der Blüte meiner Jahre.

      10.

      "Sie müssen sich mehr bewegen und anstrengen." sagte die Physiotherapeutin. "Sie müssen Ihre schützende Höhle, will sagen Bett und Zimmer, häufiger verlassen." sagte der behandelnde Arzt, als er vorbeikam. "Sie müssen in den Park gehen, wo die Sonne so wunderbar scheint." sagte die Stationsschwester.

      "Ist Ihnen nicht langweilig?" fragte die Hilfsschwester, als sie mit dem Tablett zur Tür hereinstürmte.

      Es war ein gutes Gefühl, all diesen Eindringlingen nur einfach mein Gesicht entgegenzuhalten, ohne dass sie meiner Miene irgendeine Antwort entnehmen konnten.

      Mir ging es gut in meinem weißen Bett. Noch ging es mir gut. Solange ich noch dableiben durfte.

      Ich hatte nur ein einziges Problem. Wie würde ich Karin dazu bringen, mich am Wochenende nicht zu bemuttern? Wenn ich schon gezwungen wurde, die schützende Höhle zu verlassen, wollte ich die Stunden unbeobachtet überstehen.

      Noch auf der Türschwelle brachte Karin es fertig, gleichzeitig mit dem GutenAbend und dem Wiegehtesdir zu versprechen, dass sie mich am Sonnabend um halb zehn Uhr morgens abholen werde.