Hannelore Kleinschmid

Wie ein Engel auf Erden


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Und überhaupt, kann eine Frau, die ihren Körper verkauft, vergewaltigt werden?

      Lange starrte ich auf das Zeitungsbild des Doktors. Er blickte nett und ein wenig verlegen in die Kamera. Wer konnte ahnen, welche Abgründe sich hinter der unauffälligen Fassade verbargen?

      Ich lächelte dem Konterfei zu - mit zusammengepressten Lippen, wie ich es mir als Kind angewöhnt hatte. Auch nachdem ich die Hasenzähne hatte ziehen lassen, hielt ich meinen Mund beim Lachen geschlossen. Zwar sehe ich vermutlich besser aus, aber zu meiner großen Enttäuschung brachten mir die Kunstzähne nichts. Ich fühlte mich genauso hässlich wie vorher.

      Der Hautarzt war ein Mörder. Seine Opfer hatte er entsetzlich zugerichtet. Zerstückelt worden seien sie, hieß es. Ich stellte mir vor, wie er es tat. Blut sah ich und ein großes Küchenmesser. Das Messer war scharf. Bewegte man es ein wenig, sprang die Haut auf. Zuerst blieb sie weißlich. Dann traten Bluttropfen hervor. Ein Rinnsal entstand. Woran erinnerte es?

      Ein lauter Knall riss mich hoch. Erschrocken blickte ich mich um. Der Wind hatte das Fenster aufgestoßen. Eine Tasse war heruntergefallen. Ich wusste nicht, wie sie auf die Fensterbank geraten war. Die Zeitung war auf den Boden gerutscht. Ich hatte geträumt.

      Mein Körper war gereizt bis an den Rand einer Explosion. Mit der Hand drückte ich beinahe brutal zu und löste das wunderbare Gefühl aus.

      Als ich mich wieder entspannte, verdrängte ich jeden beunruhigenden Gedanken. Ich hatte geträumt. Sonst war nichts geschehen. Doch das Bild von dem Messer, das die Haut ritzt, suchte mich heim. Es ließ mich nicht los und verstörte mich. Was hatte das Küchenmesser mit mir zu tun? Warum erregte mich der Schnitt auf der Haut, der zögerlich blutet?

      Mein Herz klopfte spürbar. Mein Puls flog. Mein Kopf fühlte sich leer an. Ich konnte nicht ergründen, was mir geschah.

      Das Koma hatte keine Erinnerungslücken hinterlassen.

      Oder doch? Wusste ich wirklich alles, was gewesen war?

      Ein Mensch über Fünfzig kann nicht mehr beliebig jedes Ereignis aus seinem Gedächtnis hervorkramen.

      Ich bildete mir ein, alles über mich zu wissen. Aber wenn ich jetzt an den sommersprossigen Jungen dachte, der mit seiner Familie in der Kellerwohnung unter Blaugrüns hauste, verschwamm das Bild im Nebel. Warum fiel mir der unscheinbare Knabe ein?

      Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern. Ich wusste nicht, weshalb mir das wichtig erschien, geradezu lebenswichtig.

      Doktor Blaugrün, der Medizinmann, deckte alles zu. Er schirmte mich ab, streng, mit drohender Gebärde. Unvermittelt hörte ich seine Stimme dröhnen: „Lass das, Beate! Tu das nie wieder!“ Das Nie klang langgezogen, als wollte es nie aufhören.

      Blaugrün hatte mein Leben im Griff, sogar über den Tod hinaus. Bis ich nicht mehr hatte leben wollen unter seiner ungnädigen Fuchtel!

      Mein Vater hatte mir vieles verboten. Unerbittlich mischte er sich ein. In der Schule beneidete mich niemand um den strengen Doktor. Geschrien hat er selten. Mit hochrotem Kopf „Tu das NIE wieder!“ gebrüllt hatte er vermutlich nur ein einziges Mal.

      So sehr ich auch grübelte, ich konnte das Grau nicht durchdringen. Stattdessen spürte ich fast schmerzhaft eine Leere im Hirn. Es ist das Koma, dachte ich. Oder der geistige Abbau im Alter beginnt bereits.

      Falls ich nicht erinnerte, was sich damals abgespielt hatte, würde es für immer verhüllt bleiben. Geschwister besaß ich nicht. Die Eltern waren tot. Nahe Verwandte gab es nicht hier in der Stadt. Auch keine entfernten. Die lebten seit Jahrzehnten in fernen Welten.

      Ich streichelte mich. So konnte ich das Unbehagen verdrängen. Später malte ich mir meinen Traummann aus und stellte mich mutig dem Gedanken an sein Glied.

      Ist einer bewusstlos - so dachte ich aus welchem Grund auch immer -, kann eine Frau wenig mit ihm anfangen. Hingegen vergeht sich mancher Mann sogar an einer toten Frau.

      Zwar sah man in der Ehemaligen die Gleichberechtigung als verwirklicht an, aber biologisch gesehen waren Frauen in einer wichtigen Hinsicht benachteiligt.

      Meine Theorie erschien mir überzeugend. Ich konzentrierte mich erneut auf angenehme Dinge, die ich mit kleinen Bewegungen untermalte.

      7.

      Es klopfte. Da ich nicht herein sagte, was das Personal im Krankenhaus wusste, zählten alle offenbar immer bis drei oder vier, bevor sie die Tür öffneten. So geschah es auch diesmal. Hereintrat der junge Arzt im Praktikum, dessen Anblick mich erfreute. Also fiel es mir nicht schwer, mich aus meinen Träumen zu reißen.

      Schlank und muskulös, hielt sich der Jungmediziner, was bei großgewachsenen Personen selten der Fall ist, ausgesprochen gerade. Spräche ich, fragte ich ihn, ob sein Vater ihm auch immer den Gehstock auf dem Rücken quer durch die angewinkelten Arme geschoben und "Geh gerade!" verlangt habe. Für mich war das eine Tortur gewesen, die mir bis heute Spaziergänge verleidet. Gebracht hat sie nichts, weil mein gekrümmter Rücken nicht durch Nachlässigkeit, sondern durch den Scheuermann bedingt ist. Als praktischer Arzt hätte mein Vater verformte Wirbel in Betracht ziehen sollen. Aber ich spürte sowieso, dass die Quälerei mehr mit seiner Enttäuschung zu tun hatte, nur eine Tochter statt eines Sohnes gezeugt zu haben, als mit meiner Körperhaltung.

      Der junge Arzt erschien mir als Musterbeispiel seines Berufsstandes. Aus blauen Augen blickte er die Patienten ernsthaft an und erweckte den seltenen Eindruck, zuhören zu können. Allerdings war ich unfähig, das auszuprobieren.

      Als ich wieder schreiben konnte, notierte ich jeden Tag zwei bis drei Fragen für die Ärzte und Physiotherapeuten. Nach dem täglichen „Wie-geht-es-uns-denn-heute?“, das ich mit Schütteln oder Nicken beantworten durfte, ohne dass je eine Reaktion darauf erfolgte, wurden im weißen Kreis ein paar Wortfetzen gewechselt, die ich nie verstand. Letzteres ist ärztliche Gepflogenheit und hatte nichts mit dem Zustand meiner Ohren oder meines Gehirns zu tun. Manchmal gelang es mir, den Zettel in eine Ärzte- oder Pflegerhand zu drücken und auf die erste Frage einen schnellen Satz zu hören.

      In den Zeitungen standen Überschriften, einen Gesundheitsminister Seehofer und seine Reformen betreffend. Von Kostendämpfung war die Rede, und dass alles viel zu teuer sei. Wenn die wöchentliche Reha-Visite an meinem Bett vorbeihastete, überlegte ich, warum das teuer sein sollte. Für diesen mir unbekannten Minister beeilte sich das medizinische Personal jedenfalls aus Leibeskräften.

      Holger Vormüller schien anders zu sein. Die misstrauische Stimme in meinem Hinterkopf warf ein: Noch ist er anders! Wird er ein richtiger Doktor, lernt er das Vorbeihasten schnell.

      Jetzt aber trat der schöne Medizinmann an mein Bett und blickte schüchtern, woraufhin ich in seine markanten Züge unter dem blonden lockigen Haar lächelte, um ihn zu ermutigen.

      "Liebe Frau Blaugrün," begann er, "ich habe da ein Anliegen." Das hatte ich mir gedacht, war jedoch in der glücklichen Lage, mich mit schlichtem Weiterlächeln begnügen zu können.

      "Sie haben sicherlich vernommen, dass Ihr Erwachen aus dem Koma an ein Wunder grenzt, noch dazu, wo Sie offensichtlich kaum Ausfallerscheinungen haben. Natürlich macht der vorübergehende Verlust der Sprache Ihnen zu schaffen."

      Ein netter Junge, dachte ich, was weiß er schon vom Leben und noch dazu von einem zweiten Leben!

      „Ich schreibe meine Doktorarbeit, und der Zufall will es, dass ich mir das Thema gewählt habe, inwieweit das menschliche Gehirn dazu in der Lage ist, ausgefallene Funktionen zu ersetzen. Mal vereinfacht gesagt."

      Dazu dachte ich keinen Kommentar, sondern ahnte, was folgen würde. Immerhin hatte man mir bereits mehr als einen Fragebogen vorgelesen, und ich hatte mit Kopfnicken oder -schütteln geantwortet, nachdem ich so wunderbar erwacht war und dadurch zum Ruhme des städtischen Gesundheitswesens beitrug.

      Holger Vormüller fragte mich etwas umständlich, ob ich in der Lage und willens sei, ihn - was der Chef genehmigt habe - zu einer Tagung in die frühere Bezirksstadt zu begleiten, die zur Landeshauptstadt aufgestiegen