Hannelore Kleinschmid

Wie ein Engel auf Erden


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zuerst baden ! schrieb ich auf und malte ein weiteres Bitte ! dazu. Ich brachte den Mann ins Bad. Dort registrierte ich, dass Karin an alles gedacht hatte. Ein Ölradiator stand in dem engen Raum. Auch im Wohnzimmer befand sich ein solches Heizgerät, das zu DDR-Zeiten von Westverwandtschaft gespendet wurde. Die volkseigene Wirtschaft sah aus Gründen der Stromersparnis von einer Produktion ab.

      Der Besucher badete, während ich Jacke und Mütze ablegte. Die Sonnenbrille vertauschte ich mit dem Alltagsmonstrum. Beim Rauschen des Wassers spähte ich in das Wohnzimmerbuffet, in dem sich meine Minibar befunden hatte. Wie erwartet, standen dort einige Flaschen. Auch den Kühlschrank hatte Karin gefüllt. Ich war gerührt. Freilich konnte das vom Rotwein kommen.

      Ich deckte den Couchtisch, der von der Sitzgarnitur eingeklemmt wurde, mit ein wenig zu essen und viel zu trinken. Dabei nahm ich mir vor, über meinen Alkoholspiegel zu wachen.

      Der Mann soff und redete, als müsse er mit Letzterem Karin Konkurrenz machen. Obwohl mir der Wein schmeckte und ich mich in die Sofaecke kuschelte, ging mir der Wortstrom, der sich feucht aus seinem Munde ergoss, auf die Nerven.

      Meinen Vorsatz fest im Kopf, das Leben genießen zu wollen, ging ich ins Bad und kramte in dem Schränkchen, das mir als Hausapotheke diente. Ein bisschen alt, dachte ich, als ich eine Packung mit harmlosen Purdorm aus DDR-Zeiten, hervorholte. Ich wusste, dass man sich mit diesem Schlafmittel nicht umbringen kann. Verwundert beobachtete ich, was ich tat. In einem Wasserglas löste ich einige Tabletten auf und übergoss sie beim Weg zurück zur Couch mit einer echt sowjetischen Portion Wodka. Ich hatte mich noch nicht von der Sowjetunion verabschiedet, obgleich es sie nicht mehr gab. So dachte ich das Wort „sowjetisch“ statt „russisch“.

      Mein Gast nahm den Trank und schüttete ihn hinunter, ohne zu schlucken.

      Wortlos, aber auch gedankenlos verfolgte ich, wie ihn der Schlaf übermannte. Den Versuch, ihn durch meinen Möbelkramladen aufs Bett zu schleppen, gab ich schnell auf. Ich begnügte mich mit der Couch. Zuerst räumte ich den Couchtisch leer, damit nicht ungeschickte Bewegungen Scherben verursachten. Dann zog ich den Mann aus. Dabei rümpfte ich die Nase, als ich seine Hosen bewegte. Dass er schnarchte, störte mich nicht. Früher hatte mich die Sägerei anderer gestört, obgleich ich selbst ausgemeckert wurde, wenn ich neben jemandem schlief. Was selten genug geschah. Höchstens bei Klassenfahrten. Dass ich schnarchte, war mir unangenehm, aber ich konnte wie alle Leidensgenossen nichts dagegen tun.

      Der nackte Säufer war im Schlaf impotent. Was ich erwartet hatte, weiß ich nicht. Ich verging mich an ihm, so gut ich konnte. Noch war meine Phantasie begrenzt. Die geringe Erfahrung engte meine Möglichkeiten ein. Aber ich fühlte mich gut und besser und wurde wilder. Ich presste meinen Körper auf seinen.

      Draußen wurde es Nacht. Ich hätte ins weiße Zimmer zurückkehren müssen. Doch ich war anderweitig beschäftigt! Meine lustvollen gymnastischen Übungen währten eine ganze Weile. Müde und befriedigt zog ich mich schließlich in mein Bett zurück, ohne auf die Uhr zu sehen oder an die wartende Schwester zu denken. Ich dachte nicht einmal daran, wie unglücklich ich auf dieser Matratze gewesen sein musste, als ich mir das Leben nehmen wollte.

      Gegen das Eindringen der Welt stopfte ich mir Watte in die Ohren und schlief augenblicklich ein.

      14.

      Als Karin an mir rüttelte, tauchte ich wie aus einem Koma auf.

      Mit Bedacht wähle ich den Vergleich.

      Es dauerte eine Weile, bis ich mich orientierte. Erstaunlicherweise lag ich in meinem Bett. Mein Kopf fühlte sich an wie eine Wattekugel. Warum war Karin hier? Was bedeutete das aufgeregte Schütteln und nervöse Reden?

      Ich versuchte herauszufinden, was geschehen war. Vage begann ich mich zu erinnern. In meinem Wohnzimmer lag ein nackter Mann auf der Couch. Ich war mit einem Bettler und seiner Rotweinflasche hierhergekommen. Inzwischen hätte ich längst nach Pfaffi zurückkehren müssen. Vermutlich war Karin deswegen herbeigeeilt. Scham stieg in mir auf, die sich allerdings mit angenehmen Gefühlen verband. Unter Karins Redeschwall kam ich mir wie ein ertappter Pennäler vor.

      In der Erweiterten Oberschule hatte ich mich immer ertappt gefühlt, wenn der Pauker die Stimme hob. Ich errötete bis an die Haarwurzeln, obwohl ich nie schuld und fast nie gemeint war. Sprach mich der Lehrer an, senkte ich den Kopf und stotterte. Dafür erntete ich mitleidige Blicke. Nie erfüllte ich die Erwartungen anderer. So empfand ich es jedenfalls. Dass meine Ansprüche an mich selbst zu hoch waren, weil sie sich mit denen meines Vaters deckten, konnten mir weder gutmeinende Lehrer noch die wenigen Wohlgesinnten klarmachen.

      Mein Vater war stadtbekannt. In den fünfziger Jahren wurden die Honoratioren alten Stils noch nicht gänzlich von Parteifunktionären verdrängt. Ärzte galten auch unter den Kommunismus-Gläubigen als Götter in Weiß. Herr Doktor Blaugrün genoss das sichtlich. Er ließ sich auf die neuen Herren ein. Sie dankten es ihm, indem er zum stellvertretenden Chef der Poliklinik aufstieg. Zeitgleich beantragte er das Mitgliedsbuch der SED. Meine Mutter kritisierte seinen Karrierismus.

      Die beiden stritten, wobei Irene Blaugrün, geborene Schwetzinger, die neutrale Österreicherin herauskehrte, die sich nicht kaufen ließ. In Linz geboren und aufgewachsen, kam sie als junge Frau noch vor ihrem Land heim ins Reich und zu meinem Vater, so dass sie 1949 ohne Wenn und Aber DDR-Bürgerin wurde. Seit dem Mauerbau, den sie um vier Jahre überlebte, sah sie ihre Heimat nicht wieder.

      Meine Mutter brachte österreichische Begriffe in unser Familienleben. Vergebens, aber unermüdlich fragte sie im Laden nach Karfiol und Paradeisern. Dabei gab es im Konsum gelegentlich sogar Blumenkohl oder Tomaten. Zu Hause wurden Palatschinken, Schmarrn und Nockerl zubereitet, und stets führte eine Bedienerin den Haushalt.

      Alles in allem mischte sich Mutter wenig in das Leben anderer ein. Zu den anderen gehörte auch ich, ihre Tochter, von der alle Welt annahm, sie sei ein verhätscheltes Einzelkind. In meiner Erinnerung tritt die Mutter als freundliche Frau auf, die sich oft leidend in ein abgedunkeltes Zimmer zurückzog. In Gedanken schien sie ausdauernder im fernen Österreich zu weilen als bei uns. Ich vermute, dass sie, auf die Vierzig zugehend, nur ihrem Mann zuliebe ein Kind bekam.

      Irene Blaugrün blieb eine Fremde, die fremden Dialekt sprach und die Blicke der Mitmenschen auf sich zog. Mir war es peinlich, wenn sie angestarrt wurde. Ich glaube, sie hat nie bemerkt, dass hinter ihrem Rücken getuschelt wurde, sie sei die komische Frau vom Doktor. Jedenfalls wollte das Kind an ihrer Hand im Erdboden versinken, während sie geistesabwesend dahinschritt.

      Beim Blick zurück erscheint mir die Schule als Ort des Schreckens, wenngleich ich eine durchschnittliche Schülerin war.

      Nach der achten Klasse durfte zur Erweiterten Oberschule wechseln, wer sich zusätzlich zu guten Leistungen für den Sozialismus engagierte. Arbeiterkinder wurden bevorzugt. Vor dem Mauerbau erhielten auch Ärzte zeitweise Privilegien, damit sie sich nicht in den Westen absetzten. So ebnete mir Vitamin B wie Beziehungen den Weg zum Abitur. Ich dachte damals, dass mich deswegen alle verachten müssten.

      Jetzt war ich verachtenswert, weil ein nackter Mann auf meiner Couch schnarchte.

      "Was hast du dir eigentlich gedacht," fragte mit Erzieherstimme Karin, "dass du hier einpennst.“

      Ich schloss die Augen. Die Stimme wurde noch strenger:

      "Ahnst du, was für Gedanken wir uns alle gemacht haben?"

      Ich öffnete die Augen.

      "Auf dem Weg hierher bin ich fast verrückt geworden." klagte Karin, ohne dass ich mich um ihren Geisteszustand sorgte. Sie war viel zu vernünftig und beherrscht, um je Zweifel an ihrem Verstand zu wecken.

      "Du musst vernünftig sein." sagte sie, noch immer über mich gebeugt. Es erleichterte mich, nicht antworten zu müssen. Ich ließ die Augen offen und wartete, was weiter geschähe. Die Moralpredigt dauerte an, ohne dass mein Besucher erwähnt wurde. Ich begann zu hoffen, er habe die Wohnung rechtzeitig verlassen. Mir fiel auf, wie sehr ich noch immer dazu neigte, mein Verhalten erklären zu wollen. Dabei durfte ich tun und lassen, was mir gefiel. Niemandem war ich Rechenschaft schuldig. Immerhin war ich schon ziemlich lange