Katharina Conti

Maresia


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dichtes Gebüsch einen Abhang hinunter, fast verschwunden sind sie schon, und Max wirft ihnen Steine nach.

      „Nicht, Max! Keine Steine auf Leute werfen, wirf sie an den Baum, so, siehst du, getroffen, und jetzt du, ich muss nach Sami sehen.“ „Das ist eine Abkürzung, Vicky, mach dir keine Sorgen, Michael kennt den Weg, er ist nicht gefährlich.“ Ein kleiner Stein saust an meinem Kopf vorbei und schnell vor Wut ziehe ich mich hoch an einer Wurzel, packe den Wicht, habe doch gesagt, dass er das nicht tun darf, dass das weh tut, und warum muss ich immer ausrasten bevor er gehorcht? „Los, geh, geh und komm erst wieder her, wenn ich es sage!“ Empört schreit er auf, versucht Steinchen mit den Füssen zu schleudern, noch einmal gellt es durch den Wald und entkräftet lässt er sich zu Boden plumpsen, legt den Kopf auf seine Knie, weint über die Ungerechtigkeit der Welt und ich möchte mich neben ihn setzen, mit ihm weinen.

      „Er wird der erste Diktator der Schweiz seit Menschengedenken.“ „Seit was?“ „Seit Menschen gedenken.“ Seit Menschen denken, das muss ich mir merken, „wäre das nicht immer schon? Und Max wehrt sich nur für das, was er für seine Interessen hält.“ „Viktoria, er hat dich mit Steinen beworfen.“ „Es war nur einer, und ich habe ihn bestraft. Ich gehe davon aus, dass Steine auf Leute werfen keine Bedeutung in seinem Leben haben wird. Ansonsten kann er immer noch mit den Bäumen trainieren“, suche mir einen Stein, fixiere einen Baum, ziele, „diesen da, den treffe ich.“ „Das war Zufall.“ „Meinst du?“ Ich schleudere noch einen; „du störst meine Konzentration“, „und du müsstest mich eigentlich Sir nennen.“ „Was?“ „Ja, du müsstest mich siezen und mich Sir nennen.“ „Ah, zu spät, tut mir Leid. Kriegst du Schelte?“ Ich will sie doch nicht wissen, seine Nöte, nehme einen Stein auf, ziele und er wartet, bis ich werfe. „Wie denkst du über die Monarchie?“

      „Du störst meine Konzentration.“ „Sag mir, was du denkst.“ „Ich denke gar nichts. Ich bin Schweizerin, wir zerbrechen uns nicht die Köpfe über solche Sachen.“ „Du weichst mir aus, das tust du schon den ganzen Tag.“ „Warum sollte ich? Und warum über Dinge nachdenken, die mich nichts angehen? Ich bezahle keine Steuern hier und ich finde, du solltest mir keine solchen Fragen stellen, ich finde das“, mir fällt kein Wort ein, „unpassend?“ „Ja, genau, unpassend.“ „Und wieso findest du das? Hast du nicht eben gesagt, dass du dir über solche Sachen nicht den Kopf zerbrichst?“ Einen Stein brauche ich, nicht zu gross, nicht zu leicht, suche den Boden ab und er geht neben mir; „du bist eine Fremde, Viktoria, ein Aussenseiter, nur durch Zufall haben wir uns getroffen, werden uns nie mehr sehen. Wo also liegt das Problem, wenn ich mit dir über unpassende Dinge spreche?“ Laut ist seine Stimme geworden, fordernd, ich habe trotzdem keine Antworten für ihn, finde meinen Stein, richte mich auf.

      „Du hast recht, Richard, ich bin eine Fremde, und darum könnte ich auch alles Mögliche sein. Eine Spionin zum Beispiel. Was meinst du? Angesetzt auf Onkel Robby, und ich habe meine Sache so gut gemacht, dass er mich in sein Haus einlädt, zusammen mit den Königskindern“, drehe mich um, schaue auf den Baum, nur auf den Baum, fühle den Stein in meiner Hand, lasse ihn schnellen; „niemals! So gut könntest du gar nicht sein!“ Ah, wie recht er hat, so gut könnte ich niemals sein, und zaghaft schlingen sich zwei Ärmchen um mein Bein. „Desculpa.“ „Max, Amor, das darfst du nicht, Steine auf Leute werfen. Wenn du triffst, gibt das Löcher und tut weh. So, siehst du?“ Ich gehe in die Knie, nehme ein Steinchen, klopfe sanft auf seinen Kopf, „fühlst du wie hart er ist? Steinhart.“ Fest drückt er sich in meine Arme und lange halte ich ihn, so lange, bis er mich los lässt, bis er weiss, dass ich nicht mehr böse bin, höre ein Geräusch, ein Knacken, Schritte, atmen, sehe einen Schatten, Bewegung, zwei Männer, spüre seine Augen, und wie soll ich jetzt aufstehen?

      „Michael und Sami haben die Abkürzung genommen, Dad. Sie werden schon unten sein.“ Ganz locker hat er sich vor mich gestellt, wartet, bis ich hochkomme, dann hebt er Max auf seine Schultern, geht voraus und es wird eng, leicht abschüssig, zwischen den Bäumen sehe ich trübes Wasser glitzern, sehe es fliessen. „Richard! Die Steine! Stehen sie am Fluss?!“ „Nein, sie stehen unten in der Mulde, Vicky, und es ist nur ein Flüsschen. Willst du vorgehen?“ Sie sind zum Flüsschen, ganz sicher sind sie das, haben nicht widerstehen können, und geregnet hat es, viel Wasser wird es führen, kaltes Wasser; ich haste bergab, komme in eine weite Mulde, trete ein in einen verwitterten Kreis von Steinen. Verschieden hoch sind sie, verschieden breit, umgeworfen vielleicht vor langer Zeit, und Sami und Michael hocken zuoberst auf dem grössten Stein, sehen aus wie die Bezwinger eines unbezwingbaren Gipfels, sehen aus wie eine Waschmittelreklame.

      „Hat Ihnen das Buch gefallen, Viktoria?“ Wieso ist er schon hier, ich bin doch so schnell gegangen, „ich habe nicht mehr gelesen gestern.“ „Schade. Ich hätte gerne gewusst, welche der Geschichten Ihnen am besten gefallen hat.“ „Die mit dem Tabakladen.“ Warum hältst du nicht einfach dein Maul? „Ja, eben, ich habe es schon gekannt“, muss etwas tun, irgendetwas, jetzt gleich! „Ich mache ein Feuer.“ „Das geht nicht, Vicky, das Holz ist nass“, und Sami will wissen, was Michael eben gesagt hat. „Wetten, dass sie das kann? Mami, was heisst wetten? Sie kann es. Wetten? Wie viel? Mami, was heisst wie viel?“ Ah, mein Sohn, mein liebes Kind, so viel Vertrauen in meine Fähigkeit, mit nassem Holz Feuer zu machen; „zwischen dem Laub musst du nachschauen, unter dem Reisig, da ist es trockener“, und wir machen uns davon, sammeln Holz, machen ein Feuer.

      „Wo hast du das gelernt, Vicky, warst du bei den Pfadfindern?“ „Nein, aber wir waren immer im Wald und haben Hütten gebaut, Frösche haben wir auch gefangen und einmal fingen wir sogar eine Ringelnatter“, und ich denke an die kleine Schlange, habe keine Ahnung mehr, wie wir es angestellt hatten. „Was habt ihr mit ihr gemacht?“ Oh nein, so grausam; und er sieht mich an, sieht mich immer an, „Vicky?!“ „Was?“ „Die Ringelnatter!“, „wir haben sie in ein kleines Schwimmbecken gebracht.“ „Und dann?“ Das kann ich nicht sagen, „und dann?!“, „wir haben einen Frosch hinein geworfen“, und ich sehe ihn vor mir, den kleinen, grünen Frosch.

      In seinem Hals hatte es geklopft, schnell, und er war da gekauert, bewegungslos, mit seinem pochenden, gelben Hals, erstarrt, zu Tode schon. Ein Sprung hätte ihn gerettet, ein einziger nur, über den Rand des Planschbeckens hinaus, und ich schaue auf, sehe Nebel steigen, sehe seine Augen und er ist die Schlange, ich bin der Frosch und der kleine Junge vor mir packt meinen Arm. „Habt ihr zugesehen?! Vicky! Hast du zugesehen wie sie ihn gefressen hat?!“ „Sie haben ihn zum Springen gebracht, ich bin aber schon vorher weggelaufen.“ „Mädchen!“ „Ja, genau“, und zu gerne würde ich ihn etwas knuddeln, denke, dass man das nicht darf, überlasse ihm meinen Arm, bis er ihn los lässt, bis Robin nachschaut, was für Frösche der Mann uns eingepackt hat.

      „Wo geht ihr hin? Ihr geht nicht allein zum Fluss. Sami!“ Brummelnd ziehen sie ab, ich schaue ihnen nach, lasse meine Augen zu Richard schweifen, wie er bei seinem Vater sitzt, auf ihn einspricht. Was für ein seltsamer Junge und wie schnell er begreift, meine Angst vor dem Fluss; Robin frotzelt über Hexen, Steine, eisig kommt der Wind zurück, zerfetzt die Nebel, weht die Jungen herbei. Ich muss nach Hause, jetzt gleich, wir müssen gehen; Sami und Michael rennen, Max sitzt auf Robins Schultern und Richard geht neben ihm. Schnell gehen sie alle, nur er geht langsam, wie eine Schnecke. „Warum wollten Sie wissen, ob es hier einen See gibt, Viktoria?“ „Wegen dem Wind.“ „Wegen dem Wind?“ „Ja, er riecht nach See.“ Stehen bleibt er auch noch, hebt die Nase in die Luft und ich schaue hinein in den Wald. „Der Wind riecht nach Regen.“ „Und nach See.“ Fragen würde ich gerne, ob er ihn kennt. Grau wird er sein, nebelgrau; und wir gehen weiter, ich sehe einen Stab, wie ein Speer ist er geformt, hebe ihn auf, würde ihn gerne werfen.

      „Sie mögen Steine?“ „Ja, ich mag Steine.“ „Jedoch keine Findlinge aus den Glarner Alpen.“ „Lauschen Sie immer den Gesprächen anderer Leute, Hoheit?“ „Ja, meistens. Wie alt sind Sie, Viktoria?“ „Ich bin achtunddreissig.“ Es ist noch nicht so lange her, da war ich zwanzig, fünfzehn, dreissig, und jetzt bin ich bald vierzig. Ach, was soll’s, vierzig oder tot, dann schon lieber vierzig, und ich werfe den Stab. „Ein Akt der sinnlosen Auflehnung?“ Ja, genau, das ist es; und er steht vor mir, versperrt den Weg, ich schaue an ihm vorbei, schaue zu Boden.

      „Warum sehen Sie mich nie an, Viktoria?“ Weil ich falle,