Katharina Conti

Maresia


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wir waren wieder sehr glücklich und eines Tages waren wir es nicht mehr.“ „Warum?“ „Ich bin nicht sicher, aber es war so. Er ging für zwei Wochen nach Brasilien, kam vier Monate später zurück, kurz vor Weihnachten.“ Gedankenverloren sass sie da, schaute auf den Monitor, als teile er alle ihre Geheimnisse, dann nahm sie die Brille ab, schaltete aus und blieb sitzen. „Er wollte nicht mehr hier leben, wollte zurück nach São Paulo und ich habe nicht mitgehen können. Nicht nach Sampa, nicht mit zwei Kindern und drei Koffern, nicht noch einmal. Nicht mit ihm.“ Ungestüm schob sie den Stuhl zurück, sprang auf, ging hin und her, und da war sie wieder, diese Leidenschaft, die sie wohl zerreissen würde, wenn sie nicht ständig in Bewegung bliebe, sie abschüttelte.

      „Ich hatte plötzlich Zeit, so viel Zeit, so viel Raum, der sich aufgetan hat in diesen vier Monaten. Ich hatte sie doch schon verloren, meine Liebe, noch bevor er zurückkam und wieder fort ging; so viel Leere, die ich füllen konnte.“ Sie blieb stehen, schaute geistesabwesend vor sich hin, schien kaum mehr zu atmen, dann seufzte sie auf, schüttelte sich, als komme sie aus dem Regen; „wir konnten nicht mal zur Beerdigung fahren. Die Toten werden sofort begraben, am nächsten Tag schon, wegen der Hitze wahrscheinlich. Sie werden kaum genug Kühlraum haben für all die Leichen, die jeden Tag so anfallen in São Paulo. Ja, das wird es sein. Hast du Hunger?“ Entgeistert starrte ich sie an, erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund, sah so komisch aus in ihrem Entsetzen, dass ich zu lachen anfing, etwas verschämt fiel sie ein und so unverhofft nah war sie mir plötzlich, dass ich sie in die Arme nehmen wollte.

      „Das ist Max, er ist wach.“ Horchend hatte sie den Kopf erhoben, leicht lag ihre Hand auf meinem Arm, hielt mich sachte auf Distanz, „lass ihn bloss in Ruhe. Bitte. Er hat eine unglaubliche Laune nach seinem Mittagsschlaf. Hast du jetzt Hunger oder nicht?“, und langsam folgte ich ihr hinunter zu dem quengelnden Bübchen. Geduld brauchte ich, etwas Geduld nur; und dann gingen wir tatsächlich Schlittschuhlaufen.

      Ich hatte mich anstacheln lassen von spöttischen Bemerkungen über älterer Herren Knochen, und obwohl ich panische Angst hatte hinzufallen, nahmen wir Max in die Mitte. Schnell hatte er genug, sofort war ich bereit, mich mit ihm in das kleine Café zu setzen; und schwatzend, gestikulierend, zeigte er durch die Fensterscheiben auf seine Mutter, auf Sami, ging hierhin und dorthin, trank eine Cola; leise hatte es zu schneien begonnen und ich schaute hinaus in das schwindende Licht, schaute Sami und Viktoria zu, wie sie inmitten wirbelnder Flocken übers Eis kurvten.

      Wieder zu Hause kochte sie Spaghetti für uns und dann dauerte es eine Weile, bis die Kinder im Bett waren, ich meine Einladung anbringen konnte, die rundweg ablehnt wurde. „Viktoria, willst du mich beleidigen? Ich war fast zwei Wochen Gast in deinem Haus und“, „machst du Spass?“ Vielleicht hatte ich eindringlicher gesprochen als beabsichtigt, misstrauisch witterte sie nach dem vermeintlichen Spott, „nein, natürlich nicht, ich“, „Robin, ich will dich nicht beleidigen, wieso auch? Aber du bist doch ein Lord, ein echter meine ich; eben, und ich habe diese Angewohnheit in Fettnäpfchen zu treten und die stehen bei dir sicher in rauen Mengen an den unmöglichsten Orten.“ Weggeräumt sollen sie werden, ausnahmslos, versprochen, „und es werden auch Kinder da sein, Viktoria, mein Patensohn und sein Bruder, und du nimmst natürlich deine Kinder mit.“ Immer noch zögernd bedachte sie mich mit einem seltsam scheuen Lächeln, das ich erwiderte. Es gab nichts zu befürchten.

      Sie:

      „Aua! Sami, schnell! Schlag mich auf den Rücken, hier, fester, mit den Handkanten!“ Nie mehr werde ich meinen Kopf gerade richten können, nie mehr, und die Vorstellung, wie ich mit nach links geneigtem Kopf durch den Rest meines Lebens gehe, treibt mir die Tränen in die Augen. Ah, wie das schmerzt; „mit den Handkanten, hier.“ Er schlägt, Max weint, weil es mir weh tut, weil Sami mich nicht schlagen soll; die Maschine schüttelt und ich hasse es, hasse fliegen, Flugzeuge, kann nicht mal ausrasten, eingepfercht in dieser Toilette mit Wickeltisch von der Grösse eines Serviertabletts! Tief atmen, noch ein Mal, und was immer ich mir eingeklemmt habe wird locker, die Maschine schüttelt, ich reisse mich zusammen, führe uns torkelnd zurück auf unsere Plätze, setze die Kinder zurecht, schnalle sie an, wundere mich etwas über die Gurte, die eh nichts nützen würden, belehre mich über Luftlöcher und andere unerfreuliche Dinge zwischen Himmel und Erde; und ich decke sie zu, sie schlafen ein, schlafen tief und fest, hängen zusammengekrümmt in ihren Sitzen.

      Noch fünf Stunden; Jorge holt uns ab und morgen fahren sie alle an den Strand. Heute eigentlich; Jorge, Tante und Grossmutter. Wird schon gehen, sie bleiben nicht lange, dann kommt Malu mit ihrer Bande, Sé mit der seinen und wenn sie gehen kommen Ana, Luiz und Alzira; und ich versuche meine Ohren zu verschliessen vor dem immerwährenden Dröhnen der Motoren, meinen Bauch unter Kontrolle zu halten, weil es schon wieder schüttelt, versuche mir einzubilden, dass das Schütteln das Wiegen der Wellen ist, das Dröhnen das Rauschen der Brandung, was ich atme Luft, die nach Meer schmeckt, nach Wind, Salz und Wasser, doch es geht nicht so recht.

      Ohne mich werden sie fahren, und es wird gut gehen. Natürlich wird es gut gehen! Jorge fährt vorsichtig, nicht so schnell wie Henrique immer gefahren ist, und Sami kennt das Meer, kann auf sich aufpassen. Max! Sie müssen zwei Augen auf ihn haben, er ist so furchtlos, ein Helmkind, ich muss es wiederholen, immer wieder. Die Fenster! Sechster Stock! Zuerst muss ich nach den Fenstern sehen! Hör auf! Schluss! Es wird nichts passieren! Keine Unfälle, Überfälle, keine verirrten Kugeln, Entführungen, gar nichts, die Familie bleibt nur bis zum Weihnachtstag; und es schüttelt, schüttelt immer irgendwo über dem Atlantik. Tief atme ich ein, denke an das Willkommen der Sonne, an die Wärme des Sandes, die Kühle des Meeres, wie ich meine Seele waschen werde in seinen Wellen.

      Die Seele; die Indios sagen, dass es ihr zu schnell geht, sie nicht mithalten kann mit einem Flugzeug. Etwas mehr Zeit zwischen Zürich und São Paulo wäre nicht schlecht, doch, ein Stopp in Lissabon, genau, an der Quelle des Chaos warten, bis sie nachkommt; und still lache ich mich aus, suche etwas mehr Platz für meine Beine, versuche zu schlafen; einen Tag und eine Nacht für mich allein. Ich geh einkaufen, jawohl, kaufe mir das schönste Kleid, das ich finden kann, und dann endlich zieht der Frühstücksduft durch die Kabine, Sami wird es schlecht, ich halte die Papiertüten bereit, hasse es, hasse fliegen, wäre gern ein Vogel. Eine Möwe, in Maresias.

      „Wo hast du das gekauft?“ „Schön, nicht?“ „Hast du heute Abend etwas Bestimmtes vor?“ Sie lacht und ich drehe mich, wende mich, fange ihr Lächeln im Spiegel auf. Hab ich das? „Ich weiss nicht, ob ich hingehe und mit dem Kleid sowieso nicht“, ziehe es aus, lege es in den Koffer, von wo es wohl für immer in meinem Kleiderschrank verschwinden wird. „Geht es dir gut, Gringinha?“ Sanft ist ihre Stimme und ich setze mich zu ihr, lasse mich halten, wiegen, als wär ich ihre Kleinste. „Ja, es geht mir gut und den Kindern auch.“ „Hast du einen neuen Mann?“ „Fragst du das, weil ich nicht mit dem Kleid an die Party gehen will?“

      Aufgebracht plötzlich mache ich mich los, stehe auf, muss hin und her gehen, „ich halte das Trauerjahr ein“, schaue sie an, sehe trotzigen Ärger aufblitzen. Sie sind noch da, die alten Gesetze, schlummern tief in unseren Eingeweiden, können jederzeit geweckt werden; kalt ist mir plötzlich und irritiert schüttelt sie den Kopf. „Wie zynisch du bist, Vicky.“ „Ich bin nicht zynisch, ich bin eine Frau mit Anhang. Ich habe keinen Platz für einen Mann. Die Kinder brauchen mich.“ Immer noch schüttelt sie den Kopf, tadelnd jetzt, und ich weiss genau, was sie sagen wird. Aber sie hat Unrecht. Muss ich denn nicht neben ihnen hergehen, sie begleiten, damit sie so sicher wie möglich wachsen können, bis sie bereit sind alleine weiterzugehen? „Bis zum Tag, an dem sie es nicht mehr tun. Du solltest dich nicht nur auf die Kinder konzentrieren, du brauchst ein eigenes Leben, Vicky, und du wirst irgendwann auch einen Mann brauchen.“ Brauchen? Ich habe doch schon Kinder, ernähren kann ich sie auch. Brauchen; was ich wirklich brauchen könnte, gibt es nicht, ist ausverkauft, hat es vielleicht nie gegeben.

      „Ach was, Ana, ich warte auf den Prinzen.“ „In deinem Alter?“ „Ja, er muss ja nicht mehr zwanzig sein“, und ich lache, strecke ihr die Zunge raus; „nein, ernsthaft, darunter mach ich es nicht mehr. Aber er muss auf einem Pferd kommen, einem grossen, weissen Pferd, und dann verlier ich einen Schuh, er wird zum Frosch und wenn ich ihn nicht küsse, bleibt er es auch. Verstehst du? Zuerst muss man den Frosch küssen! Ein Vertrag wäre natürlich auch eine