Katharina Conti

Maresia


Скачать книгу

habe sie so lange vermisst. „Ah Ana, ich würde mich noch ein Mal mit einem Mann einlassen, ein einziges Mal nur, und er wäre die Erfüllung aller Träume, die ich schon von ihm geträumt habe.“

      Fast gleichzeitig hören wir das Weinen, Ana geht hinaus, und ich? Was soll ich tun? Soll ich jetzt hingehen? Carlos’ Einladung hat echt geklungen, und er ist immer ein Freund gewesen. ‚Vicky, ich weiss, dass du es nicht getan hast, nein, warte, du verstehst nicht. Wir haben herausgefunden, wer es war und ich habe dafür gesorgt, dass das alle zu wissen bekommen.’ Mit dem Kindchen auf dem Arm kommt Ana zurück, setzt sich zum Stillen hin, ich setze mich zu ihr, ganz nah an den Dunst von Muttermilch, und leise sprechen wir über unsere Kinder, unsere Erfahrungen, die Anstrengungen, die sie kosten, beiläufig erwähnt sie Luiz, er ist auch noch da, hat Ansprüche, und dazu habe ich nichts zu sagen.

      „Gib sie mir endlich, Ana, sei nicht so gluckig.“ Sie lacht mich aus, von wegen Glucke, legt mir das Menschlein in die Arme; „hallo, mein Mädchen, ich bin deine Schwiegermutter. Du wirst Max heiraten. Sami ist zu alt für dich und er ist schon an deine Schwester versprochen“, wiege sie sanft hin und her, ihr Köpfchen an meinem Gesicht. So lange habe ich kein Baby mehr gehalten, habe vergessen wie klein sie sind, wie gut sie riechen.

      „Du bist schon zurück?“ Sie sitzen vor dem Fernseher, Gras liegt in der Luft, ich schlüpfe aus den Schuhen; „ist noch was übrig? Und was schaut ihr da?“ „Unmöglicher Schinken. Warum bist du schon zurück?“ „Motta war dort. Ich bin keine fünf Minuten geblieben.“ „Da hast du aber lange gebraucht. Hast du dich verfahren?“ „Nein“, und ich erzähle von dem Gringo, der gebeten hat, ihn mitzunehmen. „Sag mal, spinnst du?!“„Wieso?“ „Erzähl bloss, du nimmst in der Schweiz fremde Männer in deinem Auto mit.“ „Ja, klar, die ganze Zeit. Komm, ich steige schliesslich auch in ein Taxi.“ Er glaubt nicht recht gehört zu haben, kann sich kaum erholen; ich denke, dass er ein Problem hat, ein rein biologisches, lache ihn aus, weil ich sehr wohl in der Lage bin abzuschätzen, wann ich was riskieren kann, reiche den Joint an Ana weiter und sie legt ihn weg, lächelt. „Was? Er war nett, wirklich, wir haben noch was getrunken.“ „In welchem Hotel wohnt er denn?“ „Im Mofarrej.“ „Im Sheraton? Da bist du aber einen Umweg gefahren.“ „Einen kleinen, Gringos müssen zusammenhalten. Morgen fahr ich übrigens gleich nach dem Frühstück“; und immer wieder unterbrochen von dem unmöglichen Schinken, schwatzen wir von vergangenen Zeiten, alten Bekannten, freuen uns auf gemeinsame Tage.

      Nett hat er ausgesehen, sympathisch, doch, hatte etwas von einem alten Baum, und ich lache, denke, dass er das nicht gerne hören würde; seine Ausstrahlung natürlich, das Gesicht eher kantig, nicht unedel. Hat Motta nicht was von Lord gesagt? Ja, ja, der eine heisst Prince, der andere Lord, und durch die Kurven der Anchieta fahre ich dem Meer entgegen, weit über die Ebene von Santos hinaus geht der Blick, lässt einen Schimmer von Blau in Blau erkennen, und ich denke, dass der Gringo kein Amerikaner war.

      Ja, ja, konzentrier dich auf die Strasse, auf die Lastwagen, die dreissig fahren, von einem anderen mit fünfunddreissig überholt werden. Ich kenne das, habe das schon gemacht, bin bald unten, da kommen sie von allen Seiten; vergiss die Bodenmarkierungen, die sind falsch, das habe ich ihm noch gesagt, gut; und ich bin eingekreist, eingenebelt, es stinkt atemberaubend, aber ich kann das Steuer jetzt nicht loslassen, das Fenster nicht hochkurbeln, ich muss mich konzentrieren, mir die ekligen Dämpfe reinziehen, kann das, habe das schon überlebt, mehrere Male sogar, vorne rechts ist die Ausfahrt; und ich stelle den Blinker, sehe die Lücke, reduziere, gebe Gas, es reicht, nicht allzu knapp, die richtige Ausfahrt war es auch, Cubatão liegt neben mir, und ich kann endlich das Fenster hochkurbeln, aufatmen, der Verkehr hat nachgelassen, kann nach den Baumskeletten Ausschau halten, nachsehen, ob es mehr geworden sind. Öliggelb fällt der Regen in Cubatão und immer wieder ungläubig staune ich die Pflanzen an, die da trotzdem wachsen, die aufgeworfenen Hügel entlang der Autobahn überziehen, biege endlich ab, öffne das Fenster, atme ein, atme durch, fahre hinein in das Grün, das nur die Paarung von Glut und Regen im Schoss der roten Erde hervorbringen kann.

      „Mami, du bist da, ich bin so froh, bist du da“, und ich gehe in die Knie, werde umarmt, küsse, umarme, lasse mich einspinnen in ihre Geschichten vom Käfer im Badezimmer und Max reisst die Augen auf, weil er so riesig war, der Kakerlak; begrüsse die Familie, bedanke mich fürs Kinderhüten und ein Schwall von Ratschlägen, Vorwürfen, Ideen, wie man es besser machen könnte, „diese Schreie, also wenn das mein Kind wäre, und er beisst!“, prasseln augenblicklich auf mich nieder; und ich lasse mich wegzerren, „Mami komm endlich, wir wollen zum Strand, ihr könnt nachher schwatzen“, lasse mich entführen durch das Schattenlicht der Bäume hinunter zum Meer.

      „Du lässt dich tyrannisieren von deinen Kindern.“ „Wieso, weil ich ihnen eine Gutenachtgeschichte erzähle?“ Keinen Streit, komm, lass sie reden, wovon sie nichts versteht, es ist unwichtig, und still verlässt meine Schwiegermutter den Raum, schliesst leise die Tür. „Jetzt hat sie schon wieder geheult. Ich finde das unerträglich, sie sollte endlich darüber wegkommen.“ „Sie hat doch ein Kind verloren. Wie soll sie je darüber wegkommen?“ Dumme Kuh, warum versteht sie nicht!? „Bei dir ist es ja ziemlich schnell gegangen, Viktoria. Du siehst gut aus“, und ich möchte sie würgen, ohrfeigen, ihr das Gesicht zerkratzen, dieser miesen, muffigen Grossstadtschlampe, schlucke alles runter, erspare uns den Krieg; „ja, ich hab mich ausgeweint. Gute Nacht.“ Morgen fahren sie weg, graças a Deus, werden ihren Kummer wieder mitnehmen, morgen kommt Malu mit ihrer Bande, Sé mit der seinen.

      Er besucht uns, wie nett, scheint sich wohl zu fühlen, mag unsere Mischung. Sé mag er besonders. Sie müssen etwas gemeinsam haben; und ich schaue ihn mir an, wie er da Geschichten erzählt von Löwen, er sich kurzerhand entschloss, den Kampf für Portugal Profis zu überlassen, als er Nachts auf Wache ihr Gebrüll gehört, sich fast in die Hose gemacht hatte. „Nicht ein einziger Baum, auf den man hätte klettern können, queridos, nur Dunkelheit, dieses grausige Brüllen“; und unweigerlich kommen sie auf den brasilianischen Löwen, lassen keine Gelegenheit aus, um über die Krise zu sprechen, die Regierung und ihre Schweinereien. Als ob das jemals anders gewesen wäre; und ich erinnere mich an den ersten Plano économico, den zweiten und dritten, an die Diskussionen, die wir hatten, als sie den Analphabeten das Stimmrecht gaben, es Demokratie nannten; wie sie Henrique als Funktionär im Wahlbüro aufgeboten hatten und der Doutô andauernd gefragt worden war, wo man denn jetzt das Kreuz machen müsse. Stimmen ist Pflicht, und das Nichtbefolgen zieht ernsthafte Scherereien mit einem Departement der Sicherheit nach sich.

      Vielleicht war es einmal anders, vor langer Zeit, vor meiner Zeit. Für mich war es immer schon so, nur Fábio, Fábio ist nicht der Selbe, will mir an den Kragen, lauert schon lange; und dann renne ich durch die Küche, stosse die Hintertür auf, renne ums Haus, durch den Garten; hör auf zu rennen, du kannst nicht den ganzen Weg bis zum Strand rennen, hüpfe, ai, filho de uma cadela vadía, marschiere. Selber schuld. Nein! Er ist Gast in meinem Haus und er hat mich blossstellen wollen, weil er eifersüchtig ist, weil ich zu haben bin. Arschloch! Mieses, fettes, gemeines, besoffenes Arschloch! Selber schuld. Ja; und ich setze mich in den Sand, schaue hinein in das sich wiegende Silber des Mondes, schaue hinauf, suche nach dem Kreuz des Südens, finde so viele Kreuze am Himmel. Spielt es denn eine Rolle, was er denkt? Was er nicht denkt? Und ich lasse mich treiben, hinauf zu den Sternen, hinunter bis auf den Grund des Meeres, hinüber, zurück in den Osten, weiss einmal mehr nicht so recht, wo ich hingehöre.

      Vielleicht geht er jetzt auch. Vielleicht sollte ich ihn bitten zu gehen. Ach was, der ist alt genug, der kann machen was er will; er will nach Maresias und heute Abend kommen Ana, die Mädchen, Alzira, mit Luiz wird er sich gut verstehen, und ich schaue hinaus aufs Meer, hinüber zur Serra. Es wird regnen, später, wie fast jeden Nachmittag, lehne mich zurück, lasse mich von der Sonne bescheinen, lasse Bilder von meiner Nonna aufsteigen, wie sie morgens ohne Zähne aufwachte, ich mich weigerte, Anweisungen einer zahnlosen Alten zu befolgen; sehe mich Schlittschuhlaufen auf der Eisbahn im Dorf meiner Grossmutter, mich verabreden für den nächsten Tag, Samstag, am Montag fängt die Schule wieder an; und ich höre die Stimme meines Bruders am Telefon, die mich nach Hause befiehlt, höre mich streiten, weil er diesen Ton älterer Brüder drauf hat, weil ich Schlittschuhlaufen will, höre die Schreie meiner Mutter, sehe mich