Christian Fülling

Traumgleiter


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höre dir zu.“

      „Wie du weißt, gehört zu jeder neuen Erfahrung, die das Wertesystem oder die Glaubenssätze eines Menschen herausfordern oder gar in Frage stellen, das Gefühl der Angst. Das hast du selbst gesagt.“

      „Hab ich das?“, sagte Borchardt lächelnd.

      „Ja, mein Guter, das hast du“, lächelte Theodor aus dem Skype-Fenster zurück. „Ich treffe mich erst heute Abend mit einem japanischen Kollegen zum Essen, deshalb habe ich jetzt Zeit. Sollen wir loslegen?“

      „Unbedingt.“

      „Die Angst, die du spürst, ist wahrscheinlich die, dass bei dir eine beginnende Psychose ausbrechen könnte.“

      „Ja, so ungefähr“, gab Borchardt widerwillig zu.

      „Und das halte ich für ausgeschlossen.“

      „Was macht dich da so sicher?“

      „Das, was du mir immer gesagt hast.“

      „Intuition?“

      „Ja. Deine vorläufige Deutung des Traumes ergibt für mich in Ansätzen Sinn. Du hast es im ersten Satz ja bereits geschrieben: du befindest dich auf unbekanntem Terrain. Du hast auch geschrieben, dass es um dein Navi geht. Auch das könnte ich so unterschreiben. Allerdings geht es nicht nur um dein Navi. Geh doch bitte mal in dich und lass mich wissen, welcher Impuls sich dir aufdrängt, wenn du jetzt an den Traum denkst.“

      „Da brauche ich nicht mehr in mich zu gehen. Es ist die Realität.“

      „Du hast ihn als sehr real wahrgenommen, nicht wahr? Und dennoch glaube ich nicht, dass es ein rein präkognitiver Traum ist.“

      „Weil er zu viele Symbole hat?“

      „Unter anderem. Martin, sei jetzt bitte nicht verwirrt, wenn ich ein wenig hin und her springe. Deine Halluzination im Wohnzimmer erinnert mich an eine Hypnagogie.“

      „Du meinst eine Pseudohalluzination?“, wunderte sich Borchardt.

      „Genau. Das meine ich. Eine Halluzination, während derer die Person weiß, dass es sich um keine reale Wahrnehmung handelt. Das war ja bei dir der Fall, nicht wahr?“

      „Ja, aber tritt eine Hypnagogie nicht ausschließlich beim Einschlafen und beim Aufwachen auf?“

      „So behauptet es die herrschende Lehrmeinung. Aber nur weil ein Phänomen in einem bestimmten Kontext auftaucht, heißt das noch lange nicht, dass dieses Phänomen in einem anderen Kontext nicht auch vorkommen kann.“

      „Und das könnte meine Befürchtung einer Psychose ausschließen?“

      „So ist es, zumal Psychotiker in der Regel auf eine Realitätsgewissheit beharren.“

      „Ja, aber es war alles so erschreckend real“, wandte Borchardt ein.

      „Das ist das Wesen einer Halluzination, Martin“, schmetterte Theodor ab. „Was mir darüber hinaus an deiner Traumdeutung auffällt ist, dass du gänzlich keinen Bezug auf die Tatsache nimmst, dass du bremst und trotzdem an Geschwindigkeit zunimmst. Du bremst, und der Tacho zeigt 333 km/h.“

      „Ich habe das nicht als wichtig erachtet.“

      „Ist es aber, meines Erachtens. Wenn du bremst und trotzdem an Geschwindigkeit zunimmst, was könnte das bedeuten?“

      Borchardt dachte kurz nach.

      „Und, mein Guter?“

      „Dass etwas anderes auf das Gaspedal drückt?“

      „Zum Beispiel.“

      „Mensch, du hast recht! Meine Güte, das würde ja heißen, dass es doch nicht nur ausschließlich um mich ginge.“

      „Dem stimme ich zu.“

      „Beziehungsweise, dass noch etwas anderes im Traum anwesend ist?“

      „Möglicherweise.“

      Für eine kurze Weile herrschte Stille. Borchardts Telefon klingelte. „Theodor, einen Moment bitte, das ist Samira… Ja mein Schatz.“

      „Papa, Marc will mich gleich noch sehen. Deshalb schaffe ich es heute nicht mehr“, sagte sie aufgebracht.

      „Tu, was du nicht lassen kannst, mein Schatz. Du kannst jederzeit zu mir kommen, auch nachts.“

      „Ich liebe dich, Papa. Tschüss.“

      „Ich dich auch. Tschüss. Sorry, Theodor.“

      „Kein Problem. Wie geht es Samira?“

      „Nicht so gut, ihr Freund hat wohl eine andere.“

      „Oh, das tut mir leid.“

      „Ja, mir auch. Also noch einmal: Die Tatsache, dass ich bremse und trotzdem an Geschwindigkeit zunehme, könnte bedeuten, dass etwas oder jemand anderes die Führung des Autos kontrolliert?“

      „So ist es. Außerdem befindest du dich in einem fremden Auto, nicht wahr?“

      „Mein Gott, das stimmt.“

      „Jetzt, wo du also merkst, dass du das Auto wohl doch nicht selber steuerst, taucht die Zahl 333 auf. Und du hast recht: Die Zahl 3 ist eine bedeutungsvolle Zahl. Martin, wie ich vorhin schon angedeutet habe, der Traum, die Depersonalisation und die Halluzination müssen irgendwie zusammengehören, eine Einheit bilden. Drei Phänomene ergeben einen Zusammenhang.“

      „Das ist gruselig.“

      „Und dennoch höchstwahrscheinlich etwas ganz Normales.“

      „Das sagt der Parapsychologe. Ich werde trotzdem das Gefühl nicht los, dass du mir etwas vorenthältst“, sagte Borchardt leicht verärgert.

      „Warte ab. Du kennst meine Herangehensweise. Ich will dir nicht meine Sicht der Dinge aufdrängen.“

      „Okay, du hast recht, mach bitte weiter.“

      „Was haben deiner Einschätzung nach alle drei Phänomene gemeinsam?“

      „Dass ich sie nur auf psychischer Ebene wahrnehme?“

      „Ja. Und was noch?“

      „Dass sie mir Angst bereiten.“

      „Ja, aber da ist noch etwas, etwas, das dir noch gar nicht in den Sinn gekommen ist. In allen drei Phänomenen scheint Nadine eine Rolle zu spielen.“

      „Na ja, bei der Depersonalisation aber nicht.“

      „Wirklich? In wessen Spiegel hast du denn geschaut?“

      „Den Nadine damals ausgesucht hatte“, wisperte Borchardt.

      Das, was Borchardt jetzt vordergründig wahrnahm, war die wachsende Gewissheit, dass er sich tatsächlich auf unbekanntem geistigem Terrain befand. „Okay, fahr fort.“

      „Ich schließe damit aber nicht aus, dass die Quersumme 9 noch eine weitere Botschaft beinhaltet…“, begann Theodor.

      „…Einen Moment mal. Stehst du dann im Traum für den Doktor?“

      „Ein gefühltes Ja. Ich bin mir jedoch nicht sicher. Also, Martin, an der Stelle, an der du deinen Kopf in den Korb rollen siehst, schaut ihr euch dabei in die Augen?“

      Borchardt schloss seine Augen und ging imaginativ zurück in den Traum. „Ja! Klar und deutlich. Du sagtest doch vorhin, dass die Emotionen während der Halluzination wahrscheinlich nicht meine waren.“

      „Martin, sieh mir bitte nach. Ich stecke wie du auch in einem Erkenntnisprozess. Es ist nicht so, dass ich sicher weiß, was das alles zu bedeuten hat. Du sagtest, dass du vor dem Spiegel das Gefühl hattest, dich durch deine Spiegelbildaugen anzuschauen.“

      „Ja.“

      „Im Traum schaut dein abgetrennter Kopf dich an beziehungsweise du schaust deinem abgetrennten Kopf in die