Christian Fülling

Traumgleiter


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Außerhalb der Ordnung oder des Normalen

      „Nadine“: Starke Emotionen

      „Navi“: Mein Navi, Intuition

      „Panik“: Kontrollverlust

      „Navigationssystem, vorher nicht da gewesen“: Man war zu verträumt oder blauäugig

      „Doktor“: Eine bestimmte Person oder Arzt

      „Guillotine“: Etwas unwiderruflich Trennendes

      „Töte“: Vergessen, abschließen, loslassen

      „Sprechender Kopf“: Überanalysieren; nicht auf die innere Stimme hören

      Während er alles niederschrieb, offenbarte sich ein Grundthema. Die ersten zwei Quersummen könnten für den Hochzeitstag mit Nadine stehen: 18. Dezember. Das hieße, der Hinweis des Traumes ist besonders wichtig. Sein Unterbewusstsein hätte sich für jemand anderen entscheiden können. Es entschied sich aber für Nadine. Jahre hatte er nicht von ihr geträumt, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, und jetzt tauchte sie in so einem Kontext auf.

      Er schlürfte einen weiteren Schluck.

      Die „9“ musste ebenfalls eine wichtige Bedeutung haben. Aber da war kein Impuls in ihm, keine Idee, nichts. Oder ginge es nur um die „3“ an sich?

      Er betrachtete die Liste solange, bis sich für ihn ein stimmiges Bild erschloss.

      Er schrieb. „Ich befinde mich auf unbekanntem Terrain, auf einer Reise. Ich habe keine entsprechenden Erfahrungswerte. Ich will trotzdem so schnell wie möglich voranschreiten. Die Reise hat nur mit mir zu tun! Ich will zu schnell am Ziel sein. Ich agiere arrogant, als könne mir nichts zustoßen. Ich glaube zu wissen, wohin es geht, weiß es aber nicht. Ich fühle mich zu sicher. Meine Gefühle oder Intuition könnten mich täuschen. Mein Verstand oder Ego ist eingefroren; ich verlasse mich zu sehr auf meine Intuition! Ich unterliege einer Täuschung. Es geht um mein Navi, meine Intuition, mein Talent. Wenn ich nicht aufpasse, gerate ich in Panik. Ich muss wachsamer, achtsamer sein. Ich muss eine bestimmte Person aufsuchen, sonst verliere ich meinen Kopf. Und wenn ich meinen Kopf verliere, dann nur, weil ich nicht loslassen kann.“

      Er betrachtete das Niedergeschriebene und spürte, auf dem richtigen Weg zu sein, aber das reichte ihm nicht. Also aktivierte er sein Navi und scannte das Blatt mit den Stichpunkten von oben bis unten und zurück. Und währenddessen wurden einige Punkte unschärfer, verschwommener, während andere Punkte schärfer wurden und sich wie auf einem 3D-Foto in den Vordergrund drängten.

      Zusätzlich schlich sich ein weiterer Punkt, den er nicht aufgeschrieben hatte, in den Vordergrund seiner Wahrnehmung. Um auszuschließen, dass das am edlen französischen Tropfen lag, schaute er kurz weg, schloss seine Augen, öffnete sie wieder und betrachtete die Liste erneut. Nach wie vor stachen vier Punkte hervor: „Leere Autobahnschilder“, „333“, „Doktor“ und „Henker“. Wieso kam der Henker hinzu?

      Genussvoll trank er einen weiteren Schluck, holte den Laptop, schrieb in aller Ruhe den Traum auf, so wie er ihn einem Therapeuten erzählen würde, formulierte dazu Fragen und scannte seine Notizen ein. Dann öffnete er Outlook und schrieb: „Lieber Theodor, ich möchte Dich bitten, einen Blick auf den Anhang zu werfen. Ich spüre, dass der Traum wichtig ist. Ich komme nicht weiter. Da ich wieder in einem Kriminalfall verwickelt sein werde, könnten die Hinweise damit zusammenhängen. Nadine taucht auch auf. Wenn möglich, lass uns noch heute skypen. LG, Martin“

      Er schaute auf seine Uhr: 20:50 Uhr. New York City liegt sechs Stunden zurück, und Theodor könnte mitten in irgendwelchen Vorträgen stecken. Auf einmal musste er an Paulita denken, öffnete Skype, nahm sein Glas und lehnte sich zurück. Sie war offline.

      15

      Paulita war eine äußerst attraktive Spanierin, Ende dreißig mit aufregender Figur. Ihr kolumbianischer Vater hatte ihr eine feurige Latinaerscheinung vererbt. Ihre Konditorei, inklusive Eiscafé namens „Confitería Paulita“, war ein gemütlicher kleiner Laden an der Hafenpromenade. Und ihre Torten genossen auf den Kanaren einen sehr guten Ruf.

      Borchardt schätzte vor allen Dingen ihre natürliche Art. Sie hatte nichts Künstliches oder Arrogantes, obwohl sie allen Grund gehabt hätte, arrogant zu sein. Immer, wenn sie durch das kleine Venedig lief, drehte sich die Männerwelt nach ihr um.

      Der kleine Hafen und die dahinter liegende Gegend werden aufgrund mehrerer Kanäle, die vom Hafen in den Ort führen, gerne das Kleine Venedig oder Venedig des Südens genannt. Die zarten Gassen, die sich durch den Ort ziehen, tragen mit zu dem Erscheinungsbild bei.

      Borchardts Handy klingelte.

      „Hey, Tomas, ich war gerade in schönen Gedanken versunken.“

      „Hast du an deine Bekannte aus Gran Canaria gedacht, he?“

      „Fängst du an, Gedanken zu lesen?“

      „Du, pass auf, ich bin bei Ulrike und will dich nicht aufhalten.“

      „Schieß los“, sagte Borchardt leicht genervt.

      „Also, erstens, die Gesichtserkennung hat zu nichts geführt. Aber wie gesagt, wir haben es nur durch unsere Datenbank gejagt.“

      „Und wie sieht es mit der Brandenburger aus?“

      „Ich kümmere mich darum. Zweitens, du könntest übermorgen in Frau Vogts Wohnung.“

      „Übermorgen. Wann denn genau?“

      „Am besten am Vormittag. Hast du Termine?“

      „Das wäre Mittwoch. Nein, alles gut. Kann ich machen.“

      „Ich habe mit Natalie gesprochen und simse dir gleich ihre Nummer. Ruf sie einfach an und vereinbare einen Termin mit ihr. Sie weiß Bescheid.“

      „Was ist mit der AB-Aufzeichnung?“

      „Das gestaltet sich nicht so einfach. Das wird noch eine Weile dauern. Was machst du gerade?“, wollte Tomas wissen.

      „Ich relaxe ein wenig.“

      „Super, dann bis später, okay?“

      „Ja, mach’s gut, mein Lieber!“

      „Ach so, einen Moment, bevor ich’s vergesse“, rief Tomas hinterher.

      „Was denn?“

      „Frau Vogts Vater ist seit drei Tagen verschwunden.“

      „Wie bitte?“

      „Ja. Habe ich heute erfahren. Herr Vogt ist ein bekannter Kampfsportler und leitet ein Kampfsportstudio in München.“

      „Was heißt denn verschwunden?“

      „Ich hatte die Kripo München gebeten, ihn zu kontaktieren. Die teilten mir daraufhin mit, dass er einen Brief in seinem Dojo hinterlassen hat. Er würde für einige Zeit untertauchen und seine Tochter suchen.“

      „Wie bitte?“

      „Deswegen ist es ratsam, dass du auf jeden Fall bei Herrn Dupont vorbeischaust.“

      „Herr Dupont?“

      „Der Verlobte der Vermissten.“

      „Ich verstehe.“

      „Alles Weitere besprechen wir am Mittwoch, okay?“

      „Okay. Grüß Ulrike herzlich von mir.“

      „Mach ich.“

      „Wieso fühle ich mich schon wieder so ausgelaugt“, fragte er sich, während er das Handy auf die Couch fallen ließ. Er stand auf, gähnte lange, warf einen Blick auf den Wein, der nicht der Grund gewesen sein konnte, ging zum Eingangsbereich, wo ein mannshoher moderner italienischer Spiegel unmittelbar rechts neben der Wohnungstür