Manuel Wagner

Ich bin normal, nur ...


Скачать книгу

und vor allem, weil die Patienten in schallisolierten Einzelzimmern liegen dürfen ohne andere kranke Nachbarn, die sie mit weiteren Krankheiten anstecken können oder schlimmer mit ihnen reden wollen. Die komplizierten unberechenbaren menschlichen Beziehungen werden vielleicht sogar in den Lebensbereichen außerhalb des Krankenhauses durch Beziehungen zu völlig perfekt funktionierenden Robotern ersetzt.

      Mein Verstand sagt mir, das ist alles zu unrealistisch. Verdammt! Denken wir an etwas Naheliegenderes, schlage ich vor. Mein Verstand und ich denken an mein zu Hause. Je schneller ich gesund werde, desto eher darf ich wieder dort hin, und habe meine Ruhe. Die Welt wird eine andere sein, wenn ich gesund bin, wenn ich wieder laufen kann. Sie wird eine schönere, bessere und vernünftigere sein als jemals zuvor.

      »Warum sollte das so sein?«, fragt mein Verstand.

      »Irgendwann muss es einfach passieren«, antworte ich.

      »Was passieren?«

      »Dass die Menschen ihre selbstverschuldete Unmündigkeit begreifen, und die Wahrheit erkennen.«

      »Hääääh, selbstverschuldete Unmündigkeit?! Das hast du bei Kant geklaut. Du hasst Kant!«

      »Ich meine, dass sie ihr wahres Ich erkennen, und soziophob werden wollen.«

      »Wie sollte das bitteschön passieren?«

      »Was weiß denn ich?! Das hier ist nur eine positive Wunschfantasie, mit der ich versuche, schneller gesund zu werden.«

      Schließlich werde ich aus meinen Gedanken gerissen, denn es gibt Essen. Jemand, offenbar ein menschlicher Pfleger, verkündet mir, dass ich zum ersten mal wieder feste Nahrung zu mir nehmen darf. Ich will mich gerade freuen, als ich sehe, was hier als feste Nahrung bezeichnet wird. Es handelt sich um wässrige Brühe mit viel zu weich gekochter Nudeleinlage. Eine menschliche Hand hält mir einen Löffel vor den Mund. Wie ein Tier werde ich gefüttert. Abgesehen davon, dass Tiere meist weit gesünderes zum Fressen bekommen. Jedes Vitamin, jeder Geschmack wurden weg gekocht. Warum schaffen es diese dummen Menschen nicht wenigstens hier, halbwegs gesunde Mahlzeiten zuzubereiten? Wir sind immerhin in einem Krankenhaus voller Menschen, die in ihrer Ausbildung gelernt haben sollten, was gesund macht. Die müssen doch merken, dass diese billige und nährstoffarme Kost nicht gesund ist, und deshalb kein Stück zur Genesung beiträgt. Als der Löffel in meiner Gesichtsnähe ist, öffne ich mechanisch meinen Mund.

      »Das war's wohl mit deinen schönen Gedanken«, stichelt mein Verstand.

      »Jaja, es ist hoffnungslos. Das wolltest du sicher hören. Ersticke doch an deinem Selbstmitleid.«

      »War nicht so gemeint. Du machst schon Fortschritte.«

      »Das musst du natürlich sagen, denn wenn ich sterbe, dann stirbst du auch.«

      »Da hast du ausnahmsweise einmal recht.«

      »Bald habe ich dich wieder unter Kontrolle.«

      Plötzlich ohrfeigt mich meine eigene linke Hand. »Niemals!«

      »Warst du das gerade Verstand?«

      Beide Stimmen verstummen, als ich merke wie mich die Person, die mich gerade füttert, irritiert anglotzt. Habe ich das Gespräch etwa laut geführt?

      Physiotherapie

      Ich springe aus meinem Rollstuhl heraus, laufe wie ein Irrer durch die Gänge und bin dabei so schnell, dass sich Usain Bolt wie eine Schildkröte fühlen würde. Ich bin auf der Flucht, auf der Flucht vor dem Personal, vor den anderen Patienten, vor jedem Menschen hier. Gerade übertreibe ich es mit den positiven Gedanken. So formuliert, betreibe ich Selbstbetrug. In Wahrheit sitze ich gerade entsetzt vor meinem Patientenerholungsroboter kurz PER. Er ist Physiotherapeut und in Wirklichkeit leider keine Maschine, sondern er ist ein Mensch, und Per ist sein Name. Dieser Mensch verlangt von mir nun Unmenschliches.

      Zur Begrüßung kam von ihm ein mit ironischer Miene vorgetragenes »Sooo jetzt werd ich's dir besorgen.« Hinsetzen, hinlegen, hinsetzen, hinlegen, hinsetzen, zur Seite drehen, richtig zur Seite drehen, die Beine anwinkeln, aufrichten, richtig aufrichten, Körper anspannen, mit den Händen abstützen, nicht nach hinten fallen, auf der Bettkante sitzen, sitzen, sitzen, atmen, atmen.

      »Wann komme ich weg von dem Bett?«

      »Heute nicht.«

      Hinlegen, atmen, zur Seite drehen, richtig zur Seite drehen.

      »Fass mich nicht immer an!«

      Die Beine anwinkeln, aufrichten, richtig aufrichten, Körper anspannen, mit den Händen abstützen, nicht nach hinten fallen, auf der Bettkante sitzen, sitzen, sitzen, atmen, atmen. Ich kann nicht mehr. Als ich schließlich aus Erschöpfung versuche meinen Geist aus meinem Körper zurückzuziehen, ist dann doch endlich Schluss. Voller Erleichterung probiere ich auch einen Witz.

      »Ich hatte mir meinen ersten Krankenhaussex irgendwie anders vorgestellt.«

      »Ja, ist schon scheiße, von einem Fremden so begrapscht zu werden, aber ich bin schlimmer dran als du.«

      Was für eine Frechheit, denke ich und frage: »Warum?!«

      »Ich bekomme Geld dafür, ich bin die Nutte in diesem Verhältnis.«

      »Aua!« Lachen tut noch weh. »Mag sein, aber es war für mich nicht einvernehmlich.«

      Per lacht. Ich lache vermutlich mit schmerzverzerrtem Gesicht.

      Nach der Tortur, die ich aus traumatisierenden Gründen nur in Ansätzen beschrieben habe, beichte ich Hündchen, dass ich es betrogen habe. Hündchen lacht gequält, weil es nicht weiß, ob ich das Gesagte ernst meine.

      »Es tut mir ja Leid, dass diese Aktion für dich so traumatisch war, aber das war sicher alles andere als Sex. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Hündchen grinst und seine Augen blitzen auf. »Wenn's dir wieder besser geht, dann gibt’s von mir einvernehmliche Physiotherapie, äh ich meine das andere.«

      »Wehe du nutzt meine Situation aus! Wenn ich wollte, könnte ich jetzt schon wieder kratzen und beißen.«

      Später kann ich nicht schlafen. Mein ganzer Körper kribbelt wie eingeschlafene Füße. Entweder ist es ein Zeichen dafür, dass mein Körper sich ins Jenseits verabschiedet oder dafür, dass er wieder gesund wird. Ich muss ja positiv denken. Es ist also ein Zeichen, dass er stirbt. Bestimmt fühlt sich so Verwesung an.

      Asbest schnupfen

      Die Physiotherapie zeigt ihre Wirkung. Man lässt mich den zerkochten Kartoffelgemüsematsch, den sie Schonkost nennen, nun alleine essen. Hündchen verbringt seine Mittagspause bei mir. Als es sein Essen auspackt, starre ich es entsetzt an.

      »Jetzt reg dich ab. Davon krieg ich schon keinen Krebs. Die WHO stuft Wurst nun doch weit weniger krebserregend ein als noch in der letzten Woche. Außerdem hatte ich Hunger und die Wurst hat mich angelächelt.«

      Mist! Die Wurst lächelt mich ebenfalls an. Ich blicke abwechselnd zu Hündchens Wurst und zu meinem Essen, dabei stochere ich in dem Gemüsebrei herum und denke daran, dass der blasse zähe Brei auf meinem Teller einmal frisch geernteter Blumenkohl gewesen sein muss, den man ohne Sinn und Verstand mehrere Stunden zu Tode gekocht hat. Wieso wollen die mich hier dazu bringen, dass ich Gemüse hasse? Mein Hass muss irgendwo anders hin.

      »Die WHO hat gar nichts abgeschwächt. Die Wurst steht zu recht zusammen mit Stoffen wie beispielsweise Asbest auf der Liste der krebserregenden Substanzen. Der Grund wieso sie scheinbar ihr Urteil relativiert haben, ist die Angst um ihr Leben.«

      Hündchen guckt so, als wisse es nicht, ob es die Wurst runter- oder hochwürgen soll. Meine Hoffnung, dass es ihm den Appetit verdirbt, erfüllt sich nicht. Hündchen schluckt runter.

      »Wieso sollten sie Angst um ihr Leben haben?«

      Ich führe einen Löffel mit Brei zu meinem Mund, dabei mache ich einen Fehler, ich rieche daran. Meine Stimmung verschlechtert