Manuel Wagner

Ich bin normal, nur ...


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erscheint. Ich bin für Preise nominiert und die stehen demnächst auf dem neuen Einband, wie auch die Nominierungen und ein paar Lobeshymnen bekannter Autoren.

      Ich beruhige mich wieder und denke nochmal genauer nach. Es hat nicht irgendjemand mein Buch veröffentlicht. Hündchen kennt mich schon länger, als ich mich kenne. Es ist in Ordnung. Ich bin bald wieder gesund und dann habe ich die Kontrolle wieder und gebe sie nicht mehr ab. Es sei denn, mich sticht wieder jemand nieder, aber dann kenne ich das ja bereits und dann habe ich eben keine Kontrolle und übernehme eben keine Verantwortung. Was soll's? Dann weiß ich eben nicht, wie man ein Buch verlegt.

      Ich führe jetzt halt ein Stellvertreterleben. Hündchen, ich will einen Film sehen: Hündchen geh ins Kino und erzähl mir davon! Ich will Sex haben: Hündchen hab Sex und erzähl mir davon! Hündchen ich habe Appetit auf verfaulten, schwedischen Fisch: Iss ihn und sag mir, wie er schmeckt! Und übrigens: AUFESSEN! DENN DU HAST UNGEFRAGT MEIN VERFICKTES BUCH VERLEGT!

      Meine Wut macht mich müde. Immer diese Müdigkeit. Wenn ich hier noch lange bleiben muss, werde ich lebensmüde. Meine Augen werden schwer und das Buch fällt mir aus der Hand. Ich schlafe ein, so als hätte ich 16 Stunden am Stück Holz gehackt, dabei habe ich doch nur 20 Minuten ein Buch gelesen, mein Buch.

      Endlich frei!

      Ich gehe mit Krücken über den Krankenhausflur, dabei versuche ich den Blicken der vorbeigehenden Menschen auszuweichen. Ihr seid doch Krankenschwestern, Pfleger, Ärzte, Patienten! Habt ihr noch nie einen Menschen auf Krücken gesehen? Dank der Physiotherapie kann ich wieder alleine gehen, und das obwohl ich dachte, dass ich nie wieder mehr zu Kräften komme, nie wieder mehr richtig gesund werde. Zum ersten Mal fühle ich mich wieder gesund, bin voller Energie, aber ich muss noch bleiben. Ich möchte die Zeit schnell vorwärts drehen, die Krücken wegschmeißen und rennen. Eigentlich könnte ich auch in einem Rollstuhl sitzen und gefahren werden, aber das wollte ich nicht. Mein Körper soll machen, was ich will, auch außerhalb der Physiotherapie. Ich will mein ganzes Ich spüren. Ich humple also gegen der Empfehlung der Ärzte alleine weiter tollpatschig über den Flur. Ich versuche erneut dem Blick eines besonders neugierigen Menschen auszuweichen. Ich hasse diese Schaulustigen. Die sind Krankenhaus überall, denn allen ist langweilig, deshalb starren sie mich an, manchmal mitleidig, manchmal neidisch, manchmal missgünstig, aber immer voyeuristisch. Sie wollen wissen, was ich für ein Krüppel bin. Am liebsten würden sie meinen Rollstuhl schieben, um mir dabei indiskrete Fragen stellen zu können. Genau deswegen wollte ich Krücken. Mit den Krücken brauche ich keine anderen Menschen.

      Doch der Blick, dem ich gerade ausgewichen bin, gehört zu Hündchen. Sein Kopffell ist anders als sonst. Hündchen schwingt seinen Arm um meine Schultern. Dabei zieht es mich eng zu sich heran. Eigentlich würde ich mich wehren, aber es ist so schön, wenn es mich festhält, weil ich dann einen Teil meiner vor Überanstrengung schmerzenden Muskeln entspannen kann. Vielleicht nehme ich das nächste mal doch lieber den Rollstuhl, aber dann gibt es für Hündchen keinen Grund mehr, mir so schön nahe zu kommen. Es sind wohl nicht nur meine Muskeln, die Hündchen ganz nah bei sich haben wollen.

      Hündchen flüstert mir plötzlich etwas ins Ohr: »Sie ist frei.«

      Mein Herz beginnt zu rasen. Das Klopfen fühlt sich an, als würde ein Profiboxer mit der Frequenz eines startenden Helikopterrotors auf meine Brust eindreschen. »WAS?« Andere Leute um mich herum zucken zusammen. Wären Herzkranke dabei, würden sie umfallen. Ich will schreien, noch lauter schreien.

      »Bsss... sei still. Sie ist frei. Deine Angreiferin wurde freigesprochen.«

      »SIE IST…?« Ich bemerke Hündchens mahnenden Blick und versuche meine Stimme zu dämpfen. »Sie ist frei? Wie ist das möglich? Sie hat mich fast ermordet«, flüstere ich scharf, bleibe stehen und lasse mich immer mehr in Hündchens Arm sinken.

      Hündchen murmelt weiter: »Sie ist frei.« Hündchen holt tief Luft: »Deine Angreiferin hat mächtige Unterstützung bekommen. Fundamentalisten, die Soziophobie für ein Werk des Teufels halten, haben ihre Beziehungen spielen lassen. Sie hätte vor den Augen der Richterin ein Baby erwürgen können, selbst wenn es das Baby der Richterin gewesen wäre, wäre die Irre trotzdem freigesprochen worden.«

      Mein Mund steht offen. Hündchen will mich daraufhin küssen. Ich kann ausweichen. Meine Reflexe funktionieren wieder. Trotzdem, was soll das? Ich gucke Hündchen böse an, aber nur kurz: »Ist das Gerechtigkeit? Ich dachte es gibt eine unabhängige Justiz?«

      »Du glaubst an eine unabhängige Justiz?« Hündchen lacht. »Es geht wie überall auch dort um Macht und Geld. Ein Armer wird bestraft, ein Reicher nicht und jemand der von Reichen und Mächtigen unterstützt wird auch nicht.«

      Ich gucke Hündchen irritiert an. »Verschwörungstheorien sind doch nur für Spinner, die sonst nichts Sinnvolles im Leben zu tun haben.«

      Hündchen sieht oberlehrerhaft auf mich: »Das gilt für den Glauben an Verschwörungstheorien, nicht für das Wissen um die Wahrheit.«

      Ich zittere, lasse mich so sehr fallen, dass Hündchen mich nicht mehr halten kann. Ich rutsche auf den Boden. Von der unsanften Landung sofort wieder wachgerüttelt, blicke ich mich panisch um, denn sie könnte bereits wieder völlig legal hier sein, um ihre Tat zu vollenden.

      Hündchen kniet sich zu mir. »Es ist alles wieder gut. Es ist vorbei. Sie ist frei.«

      Ich versuche Hündchens Gesicht zu lesen. Es fällt mir schwer, aber ein unerwarteter Geistesblitz durchfährt mich. »Ist sie tot? Meinst du das damit?«

      »Sie ist frei.«

      Hündchens Echo macht mir Angst.

      Ich weiß ganz genau, was seine Worte bedeuten. Meine Lippen zittern vor Angst oder vor Erleichterung. Ich kann es nicht sagen. Niemand wird dieses Gefühl beschreiben können, das so stark, so vielfältig, so falsch und so richtig zugleich ist. »Du hast sie getötet.«

      »Sie hat Selbstmord begangen.« Es klingt nicht so, als hätte mich Hündchen gerade korrigiert. »Das Buch. Es hat funktioniert? Wieder! Funktioniert? Das war doch Spinnerei von mir oder? Das kann doch nicht sein.«

      »Es hat wie im Buch funktioniert. Sie ist gesprungen. Sie ist frei. Sie hat sich selbst von ihrer Krankheit erlöst.« Hündchen klingt unheimlich pastoral, so als würde es zu seinen Schäfchen von der Kanzel sprechen.

      »Bringen mich denn nicht jetzt ihre religiösen Unterstützer um?«

      »Nein machen sie nicht, weil sie Selbstmord begangen hat. Selbstmord ist die größere Sünde, die entweiht alles, was sie vorher getan hat.« Hündchen verdreht bei »entweiht« die Augen. »Sie haben ihre Meinung geändert.«

      Ich stehe auf und falle in Hündchens Arme. Ich spüre Hündchens warmen Atem ganz nah an meinem Ohr. Es ist ein schönes Gefühl. Mein Ohr vibriert ganz sanft und angenehm, als die Luft darum einen kurzen Moment in Schwingung gerät: »Es ist vorbei. Sie ist frei.«

      Im Gericht

      »Die Verhandlung war öffentlich«, erzählt mir Hündchen. »Ich musste einfach dabei sein. Stell dir vor: Auf der Anklagebank saß eine junge Frau im eleganten Kostüm. Sie machte ein aufmerksames Gesicht und erweckte mühelos den Eindruck, dem Gericht in der Angelegenheit helfen zu wollen. Ohne Aufregung erteilte sie Auskunft. Sie und ihr Anwalt sagten, es wäre ein Unfall gewesen, das Messer hätte die Mandantin vorher nie gesehen. Sie hatte sich gewundert, warum eine erwachsene Person im Zickzack und womöglich betrunken mit einem Messer herumrennt. Fingerabdrücke hatte es nicht gegeben. Sowohl du als auch sie hatten Handschuhe getragen, weil es am besagten Tag sehr kalt gewesen war. Keiner stellte Fragen zu ihrem Bruder. Weder Richter noch Staatsanwalt versuchten eine Verbindung zu dir, zum Opfer herzustellen. Trotz meiner Aussage bei der Polizei war ich nicht als Zeuge geladen. Auch der Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung war schnell vom Tisch. Die elegante Studentin spielte ihre Rolle perfekt. Sie bedauerte, dass sie nicht helfen konnte, weil sie kein Blut sehen könne und unter Schock gestanden hätte. Der Arzt der Mandantin, ein reicher Schönheitschirurg im Armanianzug