Manuel Wagner

Ich bin normal, nur ...


Скачать книгу

du? Eigentlich konnte ich ewig nicht trainieren.« Da fällt mir ein, dass Hündchen bisher außer auf meinen Armen und mein Gesicht noch nichts von mir nackt gesehen hatte. Dass Hündchen meinen freien Oberkörper sieht, wäre normalerweise eine Katastrophe, aber es stellt sich gerade ein erstaunliches Gefühl von »Es ist mir scheißegal« ein. Ich erkenne mich selbst nicht mehr. Ich bin ein Anderer.

      »Darf ich nochmal sehen?« Da habt ihr es. Hündchen will es natürlich nochmal sehen. Was sonst? Hündchen kann seine Erregung nicht verbergen.

      »Besser nicht!«

      »Doch zeig nochmal, dann erfährst du auch eine Überraschung. Ich habe etwas geheim gehalten vor dir. Ich arbeite schon seit dem ersten Tag deines Unfalls daran.«

      »Das mit dem Buch war Überraschung genug und ich war really not amused.« Dabei mache ich eine affektierte Geste. Ich habe Hündchen schon längst verziehen. Schließlich apportiert Hündchen Lebensmittel für mich, die ich zudem nur selten bezahlen muss. Mag ich vielleicht doch Überraschungen? Oder hängt es vielleicht nur von der Art der Überraschung ab? Ich bin unschlüssig. Trotzdem hebe ich kurz mein weißes T-Shirt hoch und nach wenigen Sekunden beziehungsweise nach dem Versuch Hündchens an meiner Narbe zu schnuppern, senke ich mein Shirt wieder. »Dann sag, was du mir mitteilen willst!«

      Hündchens Konzentration ist im erregten Zustand eine Katastrophe oder spielt Hündchen das nur? Jedenfalls spricht es ziemlich hastig, aber mit Pausen an den unmöglichsten Stellen. »Oh, sorry... An der Uni... wird jetzt... in deinem Sinne über Sozionormalität... geforscht, es läuft demnächst... eine Reportage über... Sozionormalität im öffentlich rechtlichen Fernsehen. Nur über das... Fernsehen erreicht man die Massen, alle... Generationen. Die Reportage wird... ausschließlich positiv sein. Dafür sorge ich. Und es wird bei einem... großem Sender ein TV-Experiment zu Sozionormalität geben.«

      »Ähm... Moment... Das ist jetzt... Das ist jetzt zu viel, viel zu viel.« Ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder einfach nur Lügner schreien und Hündchen rausschmeißen soll. Müsste ich jetzt nach Details fragen? Erwartet Hündchen das? Erwartet ihr das? Es klingt zu unglaublich, um wahr zu sein. Aber wieso sollte Hündchen lügen? Sowas wäre doch bestimmt leicht herauszufinden. Relativ emotionslos frage ich: »Wie hast du das geschafft?«

      »Ich habe das gemacht, was ich am besten kann.«

      »Du hast mit den Verantwortlichen geschlafen?«

      »Ich dachte, du sagst jetzt so etwas wie soziale Interaktion oder Psychologie, aber das auch, ja«, antwortet Hündchen etwas verlegen, gespielt verlegen natürlich.

      »Seit wann schämst du dich denn bitte für deine... ähm... Fähigkeiten? Ich kann dir nicht so recht glauben. Das klingt zu untypisch... ich meine nicht für dich, aber für diese Welt.«

      »Ich dachte eigentlich, dass du mir in die Arme fällst und mich abknutschst. Ich verändere die Welt für dich.«

      Ich sehe Hündchen enttäuscht an. Man merkt, dass mein Gesichtsausdruck unerwartet für Hündchen ist. »Kannst du jetzt bitte gehen. Ich muss nachdenken, denn ich wollte all das tun, was du jetzt für mich tust... ich weiß nicht, was ich fühlen soll und ich finde es komisch, dass ein Soziomane, den ich vor kurzem noch gehasst habe...« Ich zögere kurz, versuche Hündchen finster anzusehen, glaube aber nicht, dass mir dieser Blick gelingt. Ich fühle Groll, aber nicht gegen Hündchen. Es hat nicht viel falsch gemacht. Wie hätte es mich denn beteiligen sollen? Ich kann doch sowieso nichts mehr selber machen. Habe ich Hündchen jetzt finster angesehen oder nicht? Hündchen schaut verstimmt. Ich mag Überraschungen anscheinend doch nicht, auch wenn sie gut gemeint sind. Erst das Buch und jetzt die Forschung, die Reportage, eine TV-Show und dann dieses neue Wort s o z i o n o r m a l. Das ist einfach zu viel. Ist das überhaupt gut... Ich will es nicht wissen, jetzt nicht wissen. »Und ich weiß noch immer nicht, was ich über dich denken soll. Bitte geh jetzt, aber das Wort sozionormal anstelle von soziophob finde ich gut, richtig gut sogar.«

      Mit dem Begriff »soziophob« habe ich mir unnötig Feinde gemacht, die mich dafür niedergestochen haben. Das ist mir jetzt klar. Der Begriff war bereits (selbstverständlich fälschlicherweise) belegt für eine schwere psychische Erkrankung. Das Wort hat außerdem mit der Endung »phob« einen viel zu abschreckenden Klang, als dass ich damit jemals erfolgreich Werbung machen könnte. Ich danke Hündchen für die verspätete Korrektur mit einem Lächeln. Das reicht dann aber auch.

      Hündchen macht sich bereit zu gehen. »Schön, dass du das findest und glaub mir alles andere, ich schwöre, es ist wahr... Ich... ich... li... ach nichts. Ich bin schuld. Ich will es wieder gut machen... Ich... Verstehst du denn nicht?«

      Ich schubse Hündchen durch die Tür. »Du machst es gerade noch schlimmer...« Ich schlage die Tür vor Hündchens Nase zu. Draußen hat der Wind die Blätter so komisch bewegt. Womöglich irgend ein Mensch. Ich will Kontrolle. Ich muss von nun an immer wissen, was mich erwartet. Wieso empfinde ich gerade so viel Unbehagen?

      Für die Arbeitslosen

      »Man sollte ihnen Goldstatuen bauen. In jeder größeren Stadt müssten sie für die Arbeitslosen aufgestellt werden.«

      Hündchen sitzt auf meinem Sofa. Es ist wieder alles gut zwischen uns. Wir haben uns darauf verständigt, unser Streitthema vom letzten mal einfach zu ignorieren. Wenn ich bereit bin, darüber zu reden, dann soll ich es sagen und wenn nicht dann nicht. Noch bin ich nicht dazu bereit. Hündchen ist damit einverstanden. »Wären Goldstatuen nicht zu kostspielig? So eine Art Goldlack erfüllt bestimmt den selben Zweck.«

      »Aber mir tun sie so leid. Menschen sind dumm. Sie sehen nicht, wie wichtig richtig faule Arbeitslose für unsere Gesellschaft sind. Würden sie jeden angebotenen, miesen Job einfach annehmen, hätten Arbeitgeber kaum noch ein Interesse daran, Arbeit menschenwürdig zu gestalten.«

      Eigentlich könnte man jetzt denken, dass Hündchen mir widerspricht, aber es sagt: »Schade, dass die arbeitenden Menschen für angeblich stinkfaule Arbeitslose nicht dankbarer sind. Sie registrieren einfach nicht, dass ihnen die Verurteilung und Gängelung dieser Menschen selbst am meisten schadet. Wenn man Leute zur Lohnarbeit zwingen kann, gibt es keinen Grund, Arbeit attraktiv zu gestalten. Das bedeutet weniger Arbeiterrechte und geringere Bezahlung. Attraktive Jobs hingegen würden viel mehr Leute dazu bewegen, Arbeit zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu nutzen. Würde es stattdessen, wie vielleicht aus Neid von vielen Arbeitenden gefordert, eine noch viel härtere Gangart, womöglich sogar ein existenzgefährdendes Vorgehen gegen »faule« Arbeitslose geben, würde das besonders denen schaden, die diese Forderung stellen. Man kann davon ausgehen, dass Leute mit eher gering bezahlten Jobs über kurz oder lang doppelt so viel arbeiten müssten für das halbe Geld und zudem quasi über keine Arbeiterrechte verfügten, weil Nichtarbeiten de facto verboten wäre. Wenn als Alternative zur schlechten Arbeit nur Ächtung, Erpressung und Zwang durch die Ämter möglich wären, müssten sie jede Sklavenarbeit annehmen. Erst der Tod würde von der unerträglichen Mühsal erlösen.«

      Ich gucke Hündchen erstaunt an. »Du denkst auch so? Aber du bist doch... Du bist doch sozioman, extrem sogar!«

      »Kann sein, aber wie du vielleicht merkst, kann ich Menschen lesen und ihre Überzeugungen schnell nachvollziehen, vielleicht gerade wegen meiner extremen Soziomanie. Ich kann das nicht mal steuern.«

      Ich werfe Hündchen einen anerkennenden Blick zu: »Wow! Deine Soziomanie ist glaub ich irgendwie anders, weniger krank, obwohl du es teilweise noch viel stärker hast als andere, irgendwie jedenfalls. Oder?« Ich komme ins Schlingern. Ich überlege kurz und spreche schließlich weiter: »Also bist du auch der Meinung, dass man Menschen, die gegen »faule« Arbeitslose hetzen, eine Strafe beziehungsweise erzieherische Maßnahmen verhängen sollte. Sie sollten sich bei einem Langzeitarbeitslosen entschuldigen, ihn umarmen und sich bedanken. Selbst der Staat sollte dankbar sein, denn niedrige Löhne bedeuten niedrige Steuereinnahmen. Das heißt, ohne »faule« Menschen würden die Staatseinnahmen sinken. Man muss den Leuten klar machen, dass »faule« Arbeitslose einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft leisten und unsere Unterstützung verdienen. Dazu braucht es ungewöhnliche Methoden, wie zum Beispiel, Arbeitslose zu verehren.