Christa Burkhardt

Der Patient der Patientin


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wandte sie den Blick zwei Häuser weiter. Dort lag die Praxis ihres Hausarztes.

      Sie hörte Frau Jablonski seufzen und sah, wie sie den Blick senkte. „Nicht mehr“, sagte sie. „Hab‘ mich pensionieren lassen, als es passiert ist.“ Passiert? Pensioniert? Wovon redete diese Frau? Nichts von dem, was sie sagte, passte zu ihrem Plan, einen sonnigen, freien Sommertag mit Nichtstun im Garten zu verbringen. Diese Frau passte nicht in diesen Tag. Diese Frau gehörte hinter den Tresen ihrer Hausarztpraxis. Heute. Schon immer.

      Solange sie denken konnte, war Frau Jablonski untrennbar mit der Praxis ihres Hausarztes an der Ecke verbunden. Ebenso wie die blau bezogenen Stühle im Wartezimmer und das Mobile mit den Möwen über der Anmeldung. Ihre großen, wachen Augen hinter der braun umrandeten Brille, die immer lächelten. Das Gefühl, hier gut aufgehoben zu sein, auch wenn man nie wusste, wie lange man würde warten müssen.

      Drei Kinder hatte sie mit diesen Augen groß werden sehen. Vorsorgeuntersuchungen, Bronchitis, Mittelohrentzündung, Hautausschlag, Platzwunden, verstauchte Knöchel, Frau Jablonski nahm alles in Empfang, was ihr Chef behandeln würde. Tatsächlich, sie war in den vergangenen 24 Jahren sicher öfter mit einem kranken Kind als mit einer eigenen Krankheit in dieser Arztpraxis gewesen. Sie war Mutter. Sie war berufstätig. Sie war nie krank. Dafür hatte sie keine Zeit gehabt. Sie kannte sich aus mit Hausmitteln, mit der Kraft und Wirksamkeit tröstender, geduldiger Hände, mit der heilenden Wirkung von Zuversicht und Zuwendung. Die Kinder waren aus dem Haus. Der Gang zum Arzt noch seltener.

      „Sie arbeiten gar nicht mehr bei Dr. Breitenbach?“, fragte sie. Frau Jablonski schüttelte den Kopf. „Ich hätte gern noch bis 65 gemacht. Das wollte ich eigentlich immer. Aber als es passierte, war alles anders. Die Stimmung. Die Kollegen. Dr. Wels ist eben nicht Dr. Breitenbach. Sie wissen schon, ich hab‘ doch immer für Dr. Breitenbach gearbeitet.“ Sie nickte und wieder raschelte die Brötchentüte. Natürlich wusste sie, dass es sich um eine Gemeinschaftspraxis handelte. Dr. Wels und Dr. Breitenbach. Sie war mit ihrer Familie Patientin bei Dr. Breitenbach gewesen. Dr. Wels kannte sie vom Sehen und von einer Urlaubsvertretung mit ihrer fiebernden Tochter. Und deshalb war auch ihr klar: Dr. Wels war nicht Dr. Breitenbach.

      „Ich weiß“, lächelte sie. „Mir ist Dr. Breitenbach auch lieber.“ Dr. Breitenbach. Seine ruhige Art. Seine einfühlsamen Fragen. Sein warmer Blick. Seine angenehme Stimme. Auch wenn man nur wenige Minuten in seinem Sprechzimmer verbrachte, man hatte immer den Eindruck, dieser Mann nimmt sich Zeit, nimmt einen ernst, will einem helfen und nicht nur schnell ein paar Pillen verschreiben.

      „Aber Sie wissen ja: Ich bin keine besonders gute Kundin. Toi, toi, toi, ich fühle mich gesund.“ Sie lachte und die Brötchentüte raschelte wieder. „Aber bitte richten Sie Dr. Breitenbach aus, dass ich ihm nicht untreu geworden bin. Ich war einfach nur seit zwei Jahren nicht mehr so krank, dass ich ihn – und Sie natürlich auch – gebraucht hätte.“

      Und da geschah etwas völlig Unerwartetes mit Frau Jablonskis großen, wachen Augen. Frau Jablonskis Augen füllten sich mit Tränen. „Sie wissen es gar nicht, oder?“, fragte sie. „Nein, was denn?“ Allmählich wurde sie neugierig. Und ungeduldig. Und beunruhigt. Frau Jablonski war eine Seele von Mensch, immer die Ruhe selbst und die geborene Arzthelferin. So aufgelöst kannte sie sie gar nicht. Sie wartete.

      „Er hatte einen Unfall“, sagte Frau Jablonski schließlich. „Er praktiziert nicht mehr. Er lebt in einem Heim. Es – es geht ihm nicht gut.“ Wieder raschelte die Brötchentüte. Unwillkürlich hatte sie sie fester gepackt. Sie riss die Augen auf. „Einen Unfall? Dr. Breitenbach?“ Sie hatte tatsächlich keine Ahnung gehabt.

      „Vor einem Jahr schon“, erzählte Frau Jablonski weiter, „keiner dachte, dass er überhaupt überlebt. Er lag im Koma. Mehrere Wochen. Und als er wieder aufgewacht ist, konnte er sich nicht mehr bewegen. Zuerst dachten sie noch, es würde besser mit der Zeit. Medikamente, Physio, Operationen, sie haben alles versucht. Wurde aber nicht besser. Nun liegt er da.“

      Frau Jablonski schaute sie mit ihren großen Augen, die ihr so vertraut und so lieb waren, an. „Sie haben ihn aufgegeben. Und er sich auch. In der Praxis war es seitdem nicht mehr das Gleiche. Ohne ihn. Also habe ich mich pensionieren lassen. Noch ein Jahr ohne Dr. Breitenbach? Das hätte ich nicht geschafft. Naja, nun habe ich Zeit für meine beiden Enkel. Aber ich muss oft an ihn denken, das können Sie mir glauben.“

      Sie ging nicht zum Briefkasten. Und auch nicht in die Stadtbücherei. Dr. Breitenbach. Ihr Dr. Breitenbach. Ein Vierteljahrhundert, ihr halbes Leben kannten sie sich. Ein Unfall. Schon vor einem Jahr. Wie konnte es sein, dass sie davon nichts mitbekommen hatte? Er hatte um sein Leben gekämpft und sie hatte keine Ahnung.

      Er praktizierte nicht mehr. Er konnte nicht mehr praktizieren. Ihr Arzt war ein Pflegefall. Ein hoffnungsloser Fall. Dabei war er kaum älter als sie. Hätten sie sich nicht als Arzt und Patientin kennengelernt, sondern als Studenten oder als Nachbarn, vielleicht wären sie Freunde geworden?

      In einem Heim lebte er jetzt. Was war mit seiner Familie? Er war verheiratet gewesen, das wusste sie, hatte einen Sohn und eine Tochter gehabt. Beide ein wenig älter als ihre eigenen Kinder. Wie ging es ihnen? Wer kümmerte sich um ihren Vater? Was machte die Frau? Sie war Arzthelferin gewesen wie Frau Jablonski, arbeitete aber vor allem für Dr. Wels. Was machte ein solches Schicksal mit einer Ehe? Mit einer Familie? Mit einem Leben?

      Diese Gedanken füllten den Rest ihres Tages. Sie ging nicht zur Post und auch nicht zur Bücherei. Wie konnte es sein, dass sich das Leben eines Menschen, der Teil ihres eigenen Lebens gewesen war, so veränderte und man nichts, aber auch gar nichts davon mitbekam? Sie griff zum Telefon, wählte die Nummer ihrer Tochter, zögerte. Was sollte sie sagen? Hallo Sarah, hier ist Mama. Weißt du schon, dass der Hausarzt deiner Kindheit einen Unfall hatte? Na toll. Was für ein Gesprächseinstieg! Wer weiß, auf welchem Fuß sie Sarah erwischen würde? Und was sollte ihre Tochter mit dieser Information anfangen?

      Ach, hallo Mama, gut, das zu wissen. Dann geh‘ ich mit meinen nächsten Halsschmerzen woanders hin? Ist sonst noch was? - Sarah lebte 200 Kilometer entfernt und hatte dort sicher ihren eigenen Hausarzt. Sie legte das Telefon wieder hin. Warum um alles in der Welt beschäftigte sie das bloß so? Der Unfall, das Schicksal eines Mannes, den sie als Arzt schätzte, aber im Grunde genommen überhaupt nicht kannte. Wie wenig wir doch voneinander wissen.

      Besuch ihn!

      „Ich bin wieder da!“, tönte Severins fröhliche Stimme aus dem Flur. Ihr Sohn hatte heute ebenfalls frei gehabt und war mit Freunden mit dem Rad unterwegs gewesen. Severin lebte in der Einliegerwohnung. Die war zwar klein, aber gleichzeitig zweckmäßig und gemütlich. Und für ihren Mittleren ideal. Er war kein Typ für eine WG und außerdem beziehungsscheu.

      Was du nur immer hast, Mama, sagte er stets, wenn sie ihn wieder einmal auf eine Beziehung, eine Frau in seinem Leben ansprach. Ich will nicht irgendeine. Die könnte ich an jeder Ecke haben. Jede Woche eine andere. Aber das will ich nicht. Ich will die Richtige. Und wenn ich die nicht finde, will ich gar keine. Punkt.

      So war Severin. Er führte ein ruhiges Leben, für ihren Geschmack zu ruhig für einen 22-Jährigen. Er hatte wenige, Hand verlesene Freunde. Aber auf die war Verlass in jeder Lebenslage. Auch diese waren eher stille Zeitgenossen. Laute Partys, Headbanging, durchzechte Nächte, Alkohol, Drogen, all das kam in ihren Lebensentwürfen nicht vor.

      Sie joggten gemeinsam, fuhren Rennrad, gingen schwimmen. Und danach saßen sie zusammen und sprachen über Gott und die Welt. Sie konnte sich nicht erinnern, einen von ihnen jemals mit einer Zigarette oder einem zweiten Glas Wein gesehen zu haben.

      Sie verstand auch nicht wirklich, was diese jungen Menschen genau miteinander verband. Severin arbeitete bei der Stadtverwaltung, Tom war Lehrer, Toni reparierte Fahrräder und Jenny, das einzige weibliche Wesen, das diese drei jungen Männer zu akzeptieren und in ihrer Nähe zu dulden schienen, war Logopädin. Aber sie hielten auf ihre stille, unspektakuläre Art zusammen, seit sie sich als Teenager in der 8. Klasse gefunden hatten.

      Wenn es nicht so gar nicht zu ihr passen würde, könnte sie glatt neidisch werden auf diese