Christa Burkhardt

Der Patient der Patientin


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      Natürlich, er war ihr Sohn. Sie liebte ihn und hatte ihn gern in ihrer Nähe. Aber weder ihrer selbstbewussten Tochter noch dem lauten, quirligen Lutz hätte sie die Einliegerwohnung in ihrem neuen Häuschen angeboten. Ihre Tochter war ihr zu ähnlich, eine Macherin, die planen, organisieren und die Fäden in der Hand haben wollte.

      Und Lutz, der Jüngste, war stets der Mittelpunkt, das Epizentrum jedweder action und Menschenansammlung, und ihr damit zu verschieden. Severin war weder das eine noch das andere. Severin war einfach nur er selbst. Ein stiller Zeitgenosse mit viel Tiefgang, besonnen, immer zufrieden mit sich und der Welt, sich selbst genug.

      Also saß sie gemeinsam mit Severin im Umzugslaster, nachdem sie das Familiendomizil verlassen und verkauft hatten. Das war jetzt drei Jahre her. Lutz zog, als er 18 geworden war mit seiner Freundin in eine große WG-Villa. Seine Unterschrift unter den Mietvertrag war der Startschuss gewesen, ihr Nach-Familienleben zu beginnen. Schon als sie das Nest damals bezogen hatten, mit der wenige Wochen alten Sarah im Maxi-Cosi, wusste sie, dass dieses Haus nicht für immer, sondern für die Familienzeit war. Und dafür war es ideal.

      Sie hatte das Haus geliebt, sie hatte die größer werdende Familie geliebt. Sie war gern Mutter gewesen. Immer. Gleich ob stillend mit zahnenden Säuglingen, ängstlich um zehnjährige Draufgänger besorgt oder ergeben-geduldig mit muffligen Pubertieren. Geklammert oder gegluckt hatte sie nie. Sie hatte auch nie der Zeit hinterher getrauert, als die Kinder noch klein waren. Solche Gedanken waren ihr völlig fremd.

      Als sie nicht mehr klein waren, folgten andere spannende Phasen, die erlebt und manchmal auch erlitten werden wollten. Und als sich drei Kindheiten in drei angehende Erwachsenenleben gewandelt hatten, zog sie gedanklich, emotional und räumlich einen Schlussstrich unter das Familienleben. Es war gut gewesen, wie es gewesen war, und nun begann etwas Neues.

      Nein, sie suchte nicht, sie fand dieses Häuschen mit dem kleinen, verwunschenen Garten, gleichzeitig zentral und ruhig, wie gemacht für ein Leben nach der Familie. Wie gemacht für eine reife, alleinstehende Frau, die ihr Leben bewusst leben und genießen wollte. Und die dazu gehörende Einliegerwohnung war wie gemacht für Severin.

      Ihre Tochter Sarah arbeitete in einem Reisebüro. Sie teilte sich eine Wohnung mit einer Kinderkrankenschwester in Nürnberg. Schon als Kind wollte sie in dieser Stadt leben, in der sie regelmäßig ihre Paten besucht hatte. Sie war 24 Jahre alt, beruflich viel unterwegs, und wenn sie nicht beruflich unterwegs war, war sie viel zu Hause. Den Tipp für die Wohnung hatte ihr damals ihr Vater gegeben. Er lebte mittlerweile zwei Querstraßen weiter ein zweites Familienleben mit Sarahs, Severins und Lutzens knapp dreijährigen Halbgeschwistern Fenja und Björn.

      Sie musste immer schmunzeln, wenn sie daran dachte, dass Jens nach der Ehe und der Familie mit ihr das gleiche Leben noch einmal gewählt hatte. Jens war Buchhalter. Ein Zahlen-Mensch wie sie. Warum sie ihn geheiratet hatte, konnte sie heute nicht mehr sagen. Er war da gewesen, und sie hatten selten gestritten. Sie konnten miteinander reden und miteinander schweigen. Er wollte Kinder, sie auch. Ihnen beiden gefiel das Haus. Das damalige Haus, das Familiendomizil.

      Ihre Ehe war nicht schlecht. Sie waren ein gutes Team als Eltern. Als Liebespaar waren sie eher dilettantisch. Aber sie hatten den gleichen Geschmack, was die Wohnungseinrichtung, die Mahlzeiten und die Urlaubsziele betraf und als Leseratten, auch hier mit dem gleichen Geschmack, immer ein Gesprächsthema.

      Als sie als Eltern-Team weniger und weniger gebraucht wurden, löste sich auch das Ehe-Team nach und nach auf. Die Trennung war kein Einschnitt, kein Drama, keine Katastrophe. Sie war logisch, organisch und fühlte sich für sie beide gut an.

      Sie teilten ihr gemeinsames Leben auf und arbeiteten auch dabei so gut als Team zusammen, dass für sie beide in jeder Hinsicht viel heraussprang. Jens begann sein zweites Familienleben, und sie wurde von der glücklichen Familienmanagerin zum glücklichen Single.

      „Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte Severin, frisch geduscht und mit dem Lächeln auf den Lippen, das man nach einem erfüllten Tag lächelt. Sie lächelte zurück und nickte. Severin ließ sich in den zweiten Liegestuhl fallen. Gemeinsam beobachteten sie das Treiben im Garten.

      Ein fleißig fütterndes Amselpärchen, Schmetterlinge, Hummeln, Licht- und Schattenspiele der sich leicht im Wind wiegenden Obstbaumblätter. Sie genossen die Geräusche der Umgebung mindestens so sehr wie ihr gemeinsames Schweigen.

      „Warst du in der Bücherei?“, fragte Severin schließlich. Bücherei? Stimmt, darüber hatten sie ja am Morgen gesprochen, dass sie seine Bücher mit abgeben und seine Lieblingszeitschrift mitbringen würde. Bedauernd schüttelte sie den Kopf. „Hab‘ ich nicht geschafft“, sagte sie. Severin grinste. „Zu viel mit Nichtstun beschäftigt?“, fragte er. „Du hast es erfasst“, erwiderte sie.

      Severin seufzte. „Das kenne ich.“ Wieder schwiegen sie. Die Amseln wurden unruhig, denn Kater Rhodos streifte durch den Garten und gesellte sich zu ihnen. Wenn er mich schon davon abhält, in Urlaub zu fahren, weil ich es nie im Leben übers Herz bringen würde, ihn allein zu lassen, soll er wenigstens einen Namen haben, der nach Sommer, Strand und Urlaub klingt, hatte sie vor zwei Jahren die Namenswahl begründet.

      „Immerhin besser als Malle“, hatte ihre Tochter gesagt, Rhodos auf den Schoß genommen und herzlich willkommen geheißen. „Wenn es danach geht, verpasste Urlaubsziele lebendig werden zu lassen, musst du dir noch ganz schön viele Katzen anschaffen.“ „Rhodos reicht mir“, hatte sie nur geantwortet, „überall anders komm‘ ich schon noch hin.“

      „Dr. Breitenbach hatte einen Unfall“, sagte sie nun zu Severin. „Du warst beim Arzt? Fehlt dir was?“ „Nein, ich habe nur Frau Jablonski getroffen. Sie hat es mir erzählt. Muss schlimm sein. Er liegt in einem Heim.“ Wieder schwiegen sie. Severin holte Eistee aus der Küche. Dann hingen sie wieder ihren Gedanken nach.

      „Er geht dir nicht aus dem Kopf“, sagte Severin. Sie streichelte Rhodos hinter den Ohren. „Nein.“ Sie tranken noch einen Schluck und schwiegen wieder. Dieses herrliche Schweigen, in dem die Zeit stillsteht und mit dem alles gesagt ist.

      Viel später stand Severin auf. Es wurde allmählich dunkel. Rhodos schnurrte immer noch auf ihrem Schoß. Er nahm Karaffe und Gläser und wandte sich zum Gehen. „Besuch‘ ihn“, sagte er und nickte zum Abschied.

      Herr Breitenbach?

      Ein L-förmiger Zweckbau. Beton. Grau. Fenster an Fenster. Keines davon sah bewohnt oder gar einladend aus. Kein wenig Grün davor. Parken war hier verboten. Fahrradständer gab es nicht. Als ob sich hier niemand aufhalten soll, dachte sie. Unwirtlich. Ungastlich. Unmenschlich.

      Sie wusste nicht mehr, warum sie Frau Jablonski nach dem Namen des Heims gefragt hatte. Aber sie hatte es getan. Und sie hatte sich den Namen sogar gemerkt. Nun stand sie davor. Besuch‘ ihn, hatte Severin vorgestern gesagt. Diese beiden Worte klangen seitdem in ihr nach.

      Für Severin war das Leben einfach: Wenn einen etwas beschäftigt, beschäftigt man sich damit. Sonst hört es nicht auf und hält einen von den wirklich dringenden Beschäftigungen ab. Wenn einem etwas durch den Kopf geht, denkt man darüber nach. Sonst bleibt es Wirrwarr hinter den Schläfen und macht Kopfschmerzen. Sonst wird es klarer Gedanke. Wenn du etwas tun willst, dann tu es. Halte dieses Kribbeln in dir nicht länger als nötig hin. Steh‘ auf und leg‘ los. Sonst lähmt es Kopf und Körper. Wie konnte einer mit 22 so weise sein? Sie war es heute, mit 51 oft noch nicht. Besuch‘ ihn.

      Nun stand sie da. Der Gehweg war schmal. Von der Bushaltestelle führte eine zwar kurze, aber enge und düstere Unterführung zum Eingang. War das so geplant, dass man sich schon auf dem Weg hierher dumpf und elend fühlen sollte? Wie auch immer so ein Heim hieß, lenkte der Name doch nur vor der einen wahren Tatsache ab: Hier war das Ende der Einbahnstraße. Hier ging es nur rein, aber nicht mehr raus. Endstation.

      Warum regnete es eigentlich nicht? In der Nähe dieses „Heims“ konnte es nur ein einziges Wetter geben: Nieselregen, bewölkt, 10 Grad Celsius. Die Art Wetter, die einen von innen frieren ließ. Dementorenwetter nannte ihre Tochter als eingefleischter