Christa Burkhardt

Der Patient der Patientin


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Diese Frage hatte kommen müssen. „Nein, das bin ich …“ – „Es tut mir leid, aber dann darf ich Ihnen keine Auskunft geben“, fiel ihr die Pflegerin ins Wort. Blöde Kuh, dachte Linda. Aber aufgeben wollte sie noch nicht.

      „Hören Sie“, versuchte sie es noch einmal, „ich möchte ja gar keine Auskunft. Ich habe lediglich beobachtet, dass Herr Breitenbach heute irgendwie anders ist als sonst. Ich mache mir Sorgen um ihn und wollte Ihnen das mitteilen. Denn Sie wissen sicher, was zu tun ist.“ Na also, Linda, geht doch. Du kannst einen vollständigen Satz sagen, lobte sie sich in Gedanken selbst, um sich Mut zu machen.

      Das Notebook wurde wieder aufgeklappt, zwei, drei Klicks ausgeführt, kurze Pause. Lesende Augen hinter einem Aktenstoß. „Herr Breitenbach hatte Schmerzen und ein entsprechendes Medikament bekommen. Vielleicht ist er deshalb heute ein wenig – müde“, sagte sie mit wichtiger Stimme. Linda überlegte. „Kein Grund zur Besorgnis“, sagte die Pflegerin, klappte das Notebook wieder zu, stand auf und wollte an Linda vorbeigehen. Sie zögerte. „Wissen Sie, er hat nur wenige gute Tage. Vielleicht haben Sie bei ihren bisherigen Besuchen solche erwischt? Wenn Sie mich dann entschuldigen würden? Ich habe zu tun.“

      Wenn Linda noch nicht verstanden hatte, dass die Pflegerin das Gespräch auf diese Weise beenden wollte, half ihr ein Leuchten über Zimmer Nummer 322. Erleichtert steuerte die Pflegerin darauf zu und ließ Linda stehen. „Die Pflicht ruft.“

      Zeitverschwendung, dachte Linda. Und irgendwie hatte die Frau ja recht: Sie war keine Angehörige und nicht auskunftsberechtigt. Was war sie eigentlich? Eine Freundin der Familie? Sicher nicht. Eine Bekannte? Genau genommen war sie nicht einmal das. Sie hatte Herrn Breitenbach nie außerhalb seiner Arztpraxis getroffen oder gesprochen, nie ein privates Wort gewechselt. Keine Angehörige. Was machte sie eigentlich hier?

      Langsam ging sie zurück in Zimmer 321. Schließlich war sie ja gekommen, um ihn zu besuchen. Wenigstens wollte sie noch eine Zeitlang seine Hand halten. Auch wenn er heute nicht gut drauf war, aus welchen Gründen auch immer. Nur wenige gute Tage. Konnte das sein? Schätzte sie die Lage, schätzte sie ihn so falsch ein? Gerade hatte sie Klinke in der Hand, als Patrick um die Ecke bog.

      Er nickte ihr zu, zeigte auf seine Uhr, hob fünf Finger einer Hand, zeigte dann in Richtung Zimmer 321 und betrat ein Krankenzimmer. Wahrscheinlich hatte er in fünf Minuten Zeit und würde dann zu ihr kommen. Also zu Dr. Breitenbach. Sein Zustand war unverändert. Sie nahm seine Hand und wartete auf Patrick.

      „Hat ein bisschen länger gedauert.“ Patrick grinste schief und trat neben sie. „Frau Walter ist ein kleines Malheur mit der Nudelsuppe zum Mittagessen passiert. Jetzt ist sie wieder frisch und ihr Bett auch.“ Sie nickte. Pflegealltag. Nun widmeten sich beide Herrn Breitenbach. Er schwitzte und sprach nach wie vor unverständlich.

      „So eine Sauerei“, empörte sich Patrick nach einer Weile, „der lallt ja richtig. Da konnten sie sich wieder bei der Dosierung nicht beherrschen.“ Er lachte bitter. „Oder wollten nicht.“ Er erhöhte das Kopfteil ein Stück. „Möchtest du einen Schluck Wasser, Felix“, fragte er und hielt ihm einen Schnabelbecher hin. Er trank gierig, schien aber immer noch nichts wahrzunehmen. Sie schaute Patrick fragend an. „Dosierung?“

      „Mit dieser Frage sollte ich vielleicht doch noch einmal in die Heim-Kapelle gehen“, sagte er schließlich leise, ohne Felix Breitenbach aus den Augen zu lassen. Zärtlich ruhte sein Blick auf seinem Schützling. „Aber da schweigt der Mann am Kreuz sicher vornehm. Und auch unser Pfarrer räuspert sich höchstens verlegen.“ Sie ließ Patrick Dampf ablassen und hörte ihm zu. Breitenbachs Hand ließ sie nicht los.

      „Was hat dir dieser Mann getan, hä? Großer Gott, was hat er dir getan, dass er hier liegt bei vollem Verstand, sich nicht rühren kann, nichts spürt, aber trotzdem Schmerzen leiden kann. Was hat er dir getan?“ In Patricks Augen standen Tränen. Er schaute sie an. „Wie perfide ist das denn? Das Einzige, was Felix Breitenbach spüren kann, sind wahnsinnige Kopfschmerzen. Wäre sein Schicksal nicht ohne schon schlimm genug? Warum muss er so leiden?“ Sie wusste keine Antwort.

      Patrick ergriff seine andere Hand. Sie saßen schweigend da. Ab und zu flüsterte er, sagte etwas. Aber weder Linda noch Patrick verstanden ihn. Die Worte waren wohl auch nicht für sie bestimmt. Felix Breitenbach war gar nicht da. Weggetreten. „Zugedröhnt“, sagte Patrick und „verantwortungslos“ und „ein Verbrechen“. Linda dachte an den Gefallen, um den dieser Mann sie gebeten hatte.

      Lebenshilfe

      „Ich bestell‘ mir ne Pizza, Willst du auch was, Mama?“, fragte Severin. Linda saß im Garten, ihren Laptop vor sich. „Gute Idee“, sagte sie, „für mich wie immer. Calzone, klein. Teilen wir uns einen Salat?“ „Unbedingt“, antwortete ihr Sohn und zückte sein Handy. „Ich mach‘ das hier noch fertig, dann ist Feierabend“, sagte sie und konzentrierte sich wieder auf die letzten Sätze des Dokuments, das sie gerade ins Spanische übersetzte.

      Sie war weit gekommen mit der Arbeit. Viel weiter als sie sich für heute vorgenommen hatte. Fast fertig. Der Rohentwurf stand. Fehlte nur noch der Feinschliff, und sie hatte noch eine ganze Woche Zeit bis zum Abgabetermin. So gut in der Zeit war sie lange nicht mehr gewesen. Naja, dachte sie. So dringend hatte sie auch noch nie eine Arbeit als Ablenkung benötigt.

      „In 15 Minuten“, sagte Severin, „ich hol‘ schon mal Teller und Besteck.“ „Hm.“ Sie machte Platz auf dem Tisch, streckte sich und ließ ihren Blick durch den Garten schweifen. Ihr kleines Paradies. Unwillkürlich verglich sie den Ausblick mit dem, den Felix Breitenbach in seinem Krankenzimmer hatte.

      Entweder bodenlange Gardinen, altbacken, grobmaschig und viel zu schwer. Oder zu selten geputztes, langsam blind werdendes Fensterglas in weißem Plastikrahmen. Oder – bei offenem Fenster – ein Blick auf das angrenzende Bürogebäude. Rot verklinkert, graue Aluminium-Fenster. Kein bisschen Grün oder Natur. Trostlos. Öde. Sie seufzte.

      Severin kam zurück. Außer Tellern und Besteck hatte er eine Karaffe Eistee und zwei Gläser dabei. Er stellte alles auf dem Tisch ab und goss Tee ein. „Was denkst du über Sterbehilfe?“, fragte sie. „Ich finde Lebenshilfe wichtiger“, sagte Severin, ohne groß nachdenken zu müssen. Er schien kein bisschen überrascht von ihrer Frage. Wahrscheinlich konnte ihn gar nichts überraschen. Er war ein ernsthafter Mensch, der sein Leben sehr bewusst lebte.

      Es gab wahrscheinlich keine Frage, die Severin Keller sich in seinem kurzen Leben noch nicht gestellt und mit seinen Freunden sorgfältig diskutiert hatte. „Wie meinst du das? Lebenshilfe?“, fragte sie. Er trank einen Schluck. „Ich finde, das Leben ist etwas so unglaublich Kostbares. Es ist das Einzige, was wir haben. Und wir wissen, dass es endlich ist. Das Sterben kommt sowieso. Statt sich für Sterbehilfe zu entscheiden, sollte man sich für ein lebenswertes, liebevolles, erfülltes und fröhliches Leben entscheiden.“

      Nachdenklich drehte sie das Glas in ihrer Hand. „Und wenn, zum Beispiel durch eine Krankheit oder einen Unfall – kein lebenswertes und erfülltes und fröhliches Leben mehr möglich ist?“ Severin legte den Kopf schief. Das tat er immer, wenn er überlegte. „Nie mehr oder nur vorübergehend nicht?“, fragte er. „Nie mehr“, sagte sie. „Sicher?“ „Sicher.“ Er zuckte mit den Schultern. „Dann ist es gar keine Sterbehilfe, ein solches Leben zu beenden, wenn der oder die Betroffene es beenden will. Dann ist das Lebenshilfe.“ Der Pizzabote trat ans Gartentor.

      An diesem Abend recherchierte sie wieder im Internet. Sterbehilfe. Lebenshilfe. Sterbehilfe. Dann fasste sie einen Entschluss.

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