Christa Burkhardt

Der Patient der Patientin


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besuchen, aufmuntern wollten, waren irgendwann wieder gegangen. Er konnte es keinem verübeln. Nach einer Weile waren sie nicht wiedergekommen. Kein Wunder. Es war nicht auszuhalten. Keiner wusste das besser als er.

      Sie würde also auch wieder gehen. Er musste nur in seinem Tunnel bleiben. „Du kannst loslassen. Ich spüre nichts“, hörte er sich sagen und trat unbeabsichtigt ein Stück weiter aus seinem Tunnel. Sie sagte nichts. Sie sagte lange nichts. Sie hielt diese Stille aus. Diese Distanz. Diese unüberbrückbare Distanz zwischen seinem Tunnel und ihrem Sommertag. „Dann kann es ja nicht schaden, wenn ich Ihre Hand einfach noch ein wenig halte.“

      Hinterher hätten sie beide nicht sagen können, was letztendlich an diesem Vormittag in Zimmer 321 geschehen war. Wie es geschehen war. Er blieb in seinem Tunnel. Sie blieb unsicher. Aber am Ende gab es eine Verbindung zwischen ihm und ihr. Sie ließ seine Hand erst los, als sie ging.

      Sie war schon fast an der Tür, da hielt sie noch einmal kurz inne, zögerte. „Herr Breitenbach, darf ich wiederkommen?“, fragte sie. Er rührte sich nicht. Sie wartete. Langsam, ganz langsam drehte er den Kopf in ihre Richtung. Die einzige, winzige Bewegung, die er konnte. „Wenn du es aushältst.“ Sie schluckte. Er hatte recht. Genau das war der Punkt. Würde sie es aushalten? Hier, mit ihm? Mit dieser Hoffnungslosigkeit? Sie zuckte die Schultern. „Natürlich. Sie halten es ja auch aus“, sagte sie. Dann verließ sie Zimmer 321.

      Verlässliche Welten

      Schon als Kind hatte sie eine Schwäche für Zahlen gehabt. Die waren verlässlich. 2 plus 2 gab 4. Immer. Egal ob Tag oder Nacht, Regen oder Sonnenschein, gute oder schlechte Stimmung. Ihr Elternhaus war es nicht.

      Den Vater ihrer drei Jahre älteren Schwester kannte sie immerhin vom Sehen. Ihren eigenen kannte sie gar nicht. Nicht einmal ein Foto hatte ihre Mutter aufgehoben. One-Night-Stand sagte sie entschuldigend und pustete einer ihrer schwer zu bändigenden blonden Locken aus dem Gesicht.

      Der Vater ihres kleinen Bruders lebte bei ihnen. Zumindest manchmal. Er war Pilot und viel unterwegs. Und wenn es ihm nicht reichte, beruflich fern von Frau, Kind und zwei weiteren Kindern seiner Frau zu sein, machte er sich privat auf den Weg. Angeln, Segeln, Fernost war besser als das Mittelmeer.

      Ihrer Mutter war auch das Mittelmeer schon zu weit weg. Aber wenigstens zahlte er. Es dauerte mehrere Monate, bis alle in der Familie merkten, dass er dieses Mal wohl gar nicht mehr wiederkommen würde. Die Zahlungen behielt er bei. Also war alles gut.

      Sie waren ein eingespieltes Team. Mutter kochte, putzte und rauchte und hielt sich sonst aus allem raus. Ihre große Schwester kannte sich aus mit Schmuck und Make-up, knutschte mit jedem Jungen, der nicht bei Drei auf dem Baum war, vererbte ihr alle schicken Klamotten und lieh ihr Kassettenrekorder und Fahrrad. Dafür machte sie ihr die Mathe-Hausaufgaben und dachte sich Lügengeschichten als Alibi für ihre nächtlichen Streifzüge aus.

      Ihrem kleinen Bruder las sie stapelweise Kinder- und Abenteuerbücher vor, klebte ihm Pflaster auf die aufgeschlagenen Knie, feuerte ihn beim Fußballspielen an und lauschte seinen täglich wechselnden Berufswünschen. Pilot wie sein Papa war schon lang nicht mehr vorgekommen.

      Sie besuchte die Handelsschule. Der Zahlen wegen. Sie konnte Schreibmaschine, Steno und Buchführung. Als ihre Mutter eines Tages als neuen Freund Nummer X einen Anwalt anschleppte, beschloss sie, Rechtsanwaltsgehilfin zu werden. Später arbeitete sie in einem Notariat. Und voila, das tat sie immer noch, als sie Jens kennenlernte. Zahlen, Gesetze, Paragrafen. Ihre Berufswelt mochte ereignislos sein, aber sie war verlässlich.

      Für dieses Notariat erledigte sie bis heute immer wieder Schreib- und Übersetzungsarbeiten. Denn zwischen Schul- und Ausbildungszeit schob sie ganz entgegen ihrer sonst eher langweiligen Lebensweise ein Jahr als Au-Pair in Spanien. Wie sie darauf gekommen war, hätte sie weder heute noch damals begründen können. Vielleicht hatte sie einfach genug davon, immer nur den Menschen um sie herum in deren Leben Gesellschaft zu leisten?

      Die beiden Kinder dort waren pflegeleicht, die Eltern nett, die Gegend traumhaft. Als sie zurückkam, sprach sie fließend Spanisch, ließ sich – ganz Zahlen- und Faktenmensch – diese Sprachkenntnisse zertifizieren und hatte so seit ihrem 17. Lebensjahr stets ein freiberufliches Übersetzerstandbein.

      Dieses Standbein hatte sie emotional durch so manche vollgesabberte Kleinkinderquengelei und finanziell durch so manche Engpässe getragen. Auch heute noch hatte sie mehrere Kunden für Buchhaltung, Schriftverkehr und Übersetzungen, bestand aber stets darauf, zu Hause zu arbeiten.

      Büros waren ihr zu kalt, Kolleginnentratsch unerträglich und der Kaffee schmeckte zu Hause besser. Außerdem war sie – trotz ihrer modebewussten Schwester, die Visagistin geworden war – eher der Jeans und Schlabberpulli als der Hosenanzug und Kostümchen-Typ.

      Als in kurzen Abständen zuerst ihr Schwiegervater und dann ihre Mutter krank wurden und starben, entdeckte sie ihr Interesse für die Medizin. Nein, nicht für die Schulmedizin. Dafür hatte sie Dr. Breitenbach. Sie beschäftigte sich mit Heilkräutern, Homöopathie, chinesischer Medizin, Aromatherapie, mit allen möglichen Arten von Massagen und alternativen Heilmethoden.

      Nicht um ihre Kenntnisse beruflich zu nutzen, nein, sie sammelte Informationen wie andere Menschen Briefmarken, Autogramme oder Versteinerungen. Sie saugte unvoreingenommen und vorurteilsfrei alles auf wie ein Schwamm, glaubte an nichts, hielt aber alles für möglich.

      Vieles probierte sie an sich aus, an den Kindern. Nie war sie fanatisch oder verbissen, immer blieb sie neugierig und offen. Niemand hielt sie je für esoterisch. Und wenn doch, hätte er ihr Unrecht getan. Stück für Stück ergänzte sie die vertraute Zahlen- und Faktenwelt ihres Berufes um eine neue, unaufgeregt ganzheitliche Sicht der Dinge.

      Ihre Rückenschmerzen verschwanden, aber sie behielt es für sich. Ebenso wie ihre Wissenssammlung über Dinge und Zusammenhänge, die über ihre Zahlenwelt hinausreichten und diese so herrlich weiteten.

      Ein Gefallen

      „Herr Breitenbach?“ Zwei Wochen waren seit ihrem ersten Besuch bei ihm vergangen. Um an diesen anzuknüpfen, nahm sie wieder seine Hand. Heute lag er auf der Seite. Der Patient wurde regelmäßig bewegt, beübt und umgelagert, hatte ihr eine Schwesternschülerin auf dem Gang erklärt. Sonst würden die Glieder steif werden, der Kreislauf und die Lunge schlappmachen und er sich wund liegen. Sie hatte geschluckt. Der Patient. Das war alles, was von diesem Menschen geblieben war. Ein Patient. Eine Akte, die geführt und abgehandelt werden musste. Unwillkürlich dachte sie an das fensterlose Archiv in ihrer Kanzlei.

      Er öffnete die Augen. Sie versuchte sich so hinzustellen, dass er ihr aus seiner Perspektive ins Gesicht sehen konnte. Das war gar nicht so leicht. „Linda“, sagte er nach einer Weile mit seiner heiseren Stimme. Dann schloss er die Augen wieder. Sie ließ seine Hand nicht los. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Da sagte er: „Ich bin nicht gut in Besuch.“ Sie lächelte. „Ich auch nicht.“ Wieder schwiegen beide.

      „Hältst du wieder meine Hand“, fragte er plötzlich. Sie nickte. „Ich spüre nichts.“ Sie bekam eine Gänsehaut, aber seine Hand ließ sie trotzdem nicht los. Auf einmal seufzte er. „Ich dachte, ich bin schon weiter.“ Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Aber das war sein bisher längster Satz gewesen. „Weiter?“, fragte sie.

      „Ja, weiter.“ Er machte eine Pause, wappnete sich für die vielen Worte, die er gleich in eine Welt entlassen sollte, zu der er nicht mehr gehörte. „Es sieht vielleicht nicht so aus, aber ich arbeite an einem Projekt“, fuhr er fort. Sie stand immer noch unbequem, damit er ihr in die Augen schauen konnte. Er verdrehte immer noch Kopf und Augen, um sie anschauen zu können, während er sprach.

      „Mein Leben ist jetzt das hier. Aber das ist kein Leben. Mein Problem ist mein Verstand, denn er arbeitet. Er arbeitet tadellos. Als hätte er nicht mitbekommen, dass ich gar nicht mehr am Leben bin.“

      Er schluckte schwer. Das Reden strengte ihn an. Er machte eine Pause,