Christa Burkhardt

Der Patient der Patientin


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Daran arbeite ich.“ Er schluckte wieder.

      „Und jetzt bist du hier. Ein Mensch aus meinem Leben, das ich hatte. Und plötzlich erinnere ich mich wieder, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein, dieser Mensch zu sein. Dieser Mensch, der ich nicht mehr bin und nicht mehr sein kann. Ich dachte, ich bin schon weiter mit meinem Projekt.“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Die Verzweiflung im Raum, seine Verzweiflung war mit Händen zu greifen, und es gab nichts, was sie für ihn tun konnte.

      „Linda, kannst du mir eine Gefallen tun?“ Sie nickte. Ja, ja, natürlich! Alles würde sie tun. Wenn es denn etwas zu tun gab, das ihm helfen konnte, selbstverständlich würde sie es tun. Sie würde dafür alles stehen und liegenlassen. Sofort würde sie es tun! Unwillkürlich drückte sie seine Hand fester. Die Hand, die er nicht spüren konnte. Sie nickte. „Welchen denn?“ Er schloss die Augen, dann sah er sie wieder an. „Hilf‘ mir zu sterben.“

      Patrick

      Eine Pflegerin hatte ihren Besuch bei ihm abrupt beendet. Der Patient müsse jetzt umgelagert, die Bronchien müssten abgesaugt, Urin- und Kotbeutel geleert und dann müsse der Patient gefüttert werden. Sie könne gern ein anderes Mal wiederkommen, auf Wiedersehen.

      Wie betäubt schloss sie die Tür hinter sich. Sie war einfach gegangen. Wie hätte sie sich auch verabschieden sollen? Sie wollte gehen. Raus hier. Weg hier. Aber sie konnte nicht. Kraftlos sank sie auf einen der Stühle, die im Gang standen. Sie konnte nicht mehr. Was hatte er bei ihrem ersten Besuch gesagt? Komm‘ wieder, wenn du es aushältst. Aber sie hielt es nicht aus. Es war nicht auszuhalten. Es war zu viel.

      „Noch nicht oft hier, was?“, fragte auf einmal jemand und hielt ihr ein Glas Wasser hin. Dankbar nahm sie es entgegen. Ohne zu fragen, setzte er sich neben sie. Er war jung. Er trug die hellblaue Kleidung des Pflegepersonals und hatte seine Rasta-Mähne in einen Pferdeschwanz gezwungen.

      „Nach meiner ersten Woche hier auf der Station bin ich in die Heim-Kapelle geflohen und habe zwei Stunden lang Rotz und Wasser geheult. Konnte nicht mehr aufhören. Das musste raus. Alles. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Tränen ein Mensch auf einmal weinen kann. Das war bestimmt genug für zwei Leben. Weinen. In der Kapelle! Ich. Dabei habe ich mit Gott und Kirche nichts am Hut. Aber das musste sein.“

      Sie sahen sich an. „Patrick“, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen. „Ich mache hier FSJ. Parken vor dem Medizinstudium“, grinste er. „Diese Station ist echt hardcore. Und Felix hat es am schlimmsten getroffen.“ Sein Kopf zeigte Richtung Zimmer 321. „Du warst doch bei Felix? Er bekommt sonst nie Besuch.“

      Felix. Felix Breitenbach. „Warum bekommt er keinen Besuch“, fragte sie. Er hatte doch Familie. Seine Frau, die beiden Kinder. „Er will keinen. Das hat er so bestimmt. Als er die Diagnose bekam, hat er Tabula rasa gemacht. Er hat sich von seiner Frau scheiden lassen, seine Kinder zu einem Abschiedsbesuch herbestellt, einen Arztkollegen als Bevollmächtigten für den Fall der Fälle eingesetzt, und in seiner Patientenverfügung steht, dass er auf keinen Fall irgendwelche Reanimationsmaßnahmen möchte.“

      Durfte Patrick ihr das eigentlich alles erzählen? Sie war ja nur eine entfernte Bekannte. Eine ehemalige Patientin des Patienten. Sie wusste es nicht. Sie wollte es nicht wissen, denn sie wollte mehr über Felix Breitenbach erfahren. Sie hatte ein Recht darauf, dachte sie. Denn schließlich hatte er sie gebeten, ihm dabei zu helfen, sein Leben zu beenden. Da musste sie doch möglichst viel erfahren.

      „Sein Arztkollege taucht hier alle paar Wochen auf. Sonst besucht ihn keiner. Den Seelsorger des Hauses hat er rausgeschmissen.“ Patrick grinste. „Unsere beiden Psychologen auch. Hochkant. Die Physiotherapeuten muss er ranlassen, dagegen kann er nichts machen. Und uns Pfleger natürlich auch. Die meisten gehen nicht gern rein zu ihm. Er zieht so runter, sagen sie. Ich setz‘ mich öfter mal zu ihm ans Bett, wenn ich Zeit habe. Ich mag ihn und er tut mir leid. Er ist noch keine 55. Mein Vater wird heuer 60, managt eine Riesenfirma, geht Bergwandern und spielt Tennis. Und Felix ...“ Patrick schwieg.

      Spät in der Nacht brannte noch Licht in ihrem behaglichen Wohn- und Arbeitszimmer. Rhodos schnurrte auf dem Sofa neben ihr. Auf dem Tisch dampfte eine Tasse Kräutertee. Auf dem Schoß hatte sie ihren Laptop. Sie las. Sie recherchierte. Sie sammelte Informationen, Fakten, Zahlen. Das war ihre Welt. Darin war sie gut.

      Sterbehilfe. Ging das in Deutschland? In welchem Land war sie erlaubt? Unter welchen Umständen war sie erlaubt? Welche seriösen Optionen, Gesetzeslücken, Schlupflöcher gab es? Wie hoch waren die Kosten? Welche Unterlagen und Unterschriften waren nötig? Was gab es für Risiken? Fragen über Fragen.

      Sie las auf Internetseiten von Medien, Stiftungen, Bestattern, Patienten- und Angehörigenorganisationen und -vereinen, kämpfte sich durch Gesetzestexte, scrollte sich durch verschiedene Kirchen und Ethikratsseiten. Passive Sterbehilfe, indirekte Sterbehilfe, assistierter Suizid, aktive Sterbehilfe – ihr schwirrte der Kopf. Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Erlaubt in Belgien, Niederlande, Luxemburg. Draußen wurde es hell.

      Sie rieb sich die müden Augen und trat ans Fenster. Tja, Linda Keller, da stehst du nun, dachte sie. Da stehst du und weißt nicht weiter. Worauf hast du dich da eingelassen? – Auf gar nichts. Noch nicht. Willst du dich überhaupt darauf einlassen? Mal angenommen, du hast alle wichtigen Fragen beantwortet. Mal angenommen, du hast einen legalen Weg gefunden, Felix Breitenbachs Wunsch zu erfüllen. Mal angenommen, du hast ein Mittel zur Sterbehilfe in der Hand. In der Hand, mit der du bisher seine Hand gehalten hast. Was tust du dann? Gibst du es ihm? Schaffst du das? Kannst du ihn sterben sehen? Willst du das? Und wenn nicht? Kannst du ihn weiterhin leben sehen? So leben sehen? Sie wusste keine Antwort.

      Schmerzen

      „Herr Breitenbach?“ Heute lag er auf dem Rücken flach im Bett. Wieder nahm sie seine Hand. Sie war kalt. Das kannte sie schon. Aber heute war sie außerdem feucht. Sie wartete. Beobachtete ihn. Sein Atem ging langsam und schwer. Sie wollte ihm Zeit lassen. Er hatte bisher jedes Mal Zeit gebraucht, hier in diese Welt, in die Begegnung mit ihr zu finden. Aber dieses Mal kam er nicht an. Was war los?

      War er nur müde? Unmerklich schüttelte sie den Kopf. Wovon denn? Er hatte viel zu viel Zeit zum Schlafen und keine einzige Gelegenheit, sich müde zu laufen, zu arbeiten, irgendwie zu agieren. „Herr Breitenbach?“ Seine Lider flackerten. War er krank? Hatte er Fieber? Unwillkürlich sorgte sie sich, zog seine Decke höher ans Kinn, prüfte, ob er in Zugluft lag. Nein, durch das gekippte Fenster kam warme Sommerluft ins Zimmer.

      Er stöhnte. Hatte er Schmerzen? Er sagte etwas, aber sie konnte ihn nicht verstehen. Wortfetzen. Satzfetzen. Zusammenhanglos. Für sie unverständlich. Nicht an sie gerichtet. Er nahm sie gar nicht wahr. Was war hier los? Sie verließ das Zimmer und suchte jemanden vom Pflegepersonal. Sie hoffte, Patrick würde kommen. Aber der ließ sich heute nicht blicken.

      „Schwester?“, sagte sie schließlich, in der Tür zum Stationszimmer stehend. So ein Schwachsinn, dachte sie. Warum sage ich dieses Wort? Meine Schwester heißt Helen, lebt in München und arbeitet in einem In-Salon als Visagistin. Das hier ist garantiert nicht meine Schwester. Warum nenne ich sie so? „Schwester“, sagte sie gegen ihren Willen noch einmal. „Hm“, machte es hinter einem Stoß Akten auf dem Schreibtisch. Da saß eine Pflegerin, schrieb etwas auf einen Zettel, und tippte dann etwas in den Computer.

      Sie ließ sich nicht stören. Erst als sie fertig war, schaute sie auf. „Ja, bitte?“ „Mein Name ist Linda Keller. Ich besuche Herrn Dr. Breitenbach. Er wirkt heute auf mich, naja, irgendwie komisch. Anders als die letzten Male. Ich mache mir Sorgen. Deshalb wollte ich fragen, ob, also, ob alles in Ordnung ist oder ob er krank ist oder so.“

      – Was für ein blöder Text! Linda, reiß‘ dich zusammen. Du stehst hier in einem Pflegeheim. Hier gibt es dutzendweise Kranke. Deshalb sind sie ja alle hier. Weil sie krank sind. Deshalb läuft hier jede Menge Pflegepersonal herum. Deshalb gibt es Ärzte, Pflegebetten, Monitore und überall Notfallklingeln.