spät.“ Er grinste sie kurz an, dann nahm er seine Kleider und begann sich schnell anzuziehen. Sie stützte sich auf ihre Ellbogen, um ihm bei Anziehen zuzusehen. Sie hatte nicht vor, so früh schon aufzustehen. Und da sah sie, dass sie nachts doch keinen Albtraum gehabt hatte.
Über den Spiegel, der außen am Kleiderschrank angebracht war, beobachtete Rayan, wie sie seinen Rücken anstarrte.
Das Sonnenlicht machte den Anblick eher noch schrecklicher, da sich so die Narben im deutlichen Kontrast von seiner braunen Haut abhoben. Allerdings war es im Hellen leichter zu ertragen als in der Schwärze der Nacht.
Er hielt einen Moment lang beim Anziehen seines Gewands inne und suchte über den Spiegel ihren Blick: „Kein schöner Anblick, was?“ Dann verdeckte der Stoff den Rücken und riss sie aus ihrer Starre.
„Was ist passiert? Wer hat dir das angetan?“
Er drehte sich um, setzte sich noch einmal neben sie. „Hör zu, das sind Gespenster der Vergangenheit. Das ist so lange her! Mehr als zwanzig, nein sogar mehr als fünfundzwanzig Jahre. Lass es gut sein, bitte!“ Das letzte Wort sagte er fast flehentlich, dann küsste er sie auf die Stirn und sprang auf.
„Ich muss los, ich sollte seit einer Stunde beim Training dabei sein. Lass’ dir Zeit, schlaf dich aus, wir sehen uns nachher beim Frühstück.“
Er nahm noch seine Ledermanschetten für die Arme, an denen er seine beiden silbernen Dolche festmachte, warf sich eine der weiten Westen über sein Shirt und war aus dem Zimmer.
Carina fing an zu rechnen. Sie wusste von ihren Recherchen, dass er zwei Jahre älter als sie und 1973 geboren war. Vor fünfundzwanzig Jahren? Das hieß etwa 1989. Vielleicht sogar noch früher, denn er hatte „mehr als“ gesagt.
Da war Rayan maximal 15-16 Jahre alt gewesen! Und wieder packte sie Entsetzen. Wer tat so etwas einem Jugendlichen, noch ein halbes Kind, an?
2014 - Tal von Zarifa - Kampftraining
Rayan schnallte sich während des Gehens seine Lederarmbänder an und befestigte die beiden Dolche. Das war sein übliches Trainingsoutfit.
Normalerweise war er immer der Erste. Er liebte es bei Sonnenaufgang aufzustehen, meist sogar noch etwas früher. Dann ging er, ohne zu frühstücken, auf den Trainingsplatz und begann mit seinen Übungen. Bis die anderen Männer eintrafen, war er bereits mit seinen Einzelübungen fertig. Nur wenn er auf Reisen war, nahm er nicht am morgendlichen Kampftraining teil.
Einerseits brauchte er die körperliche Bewegung, weiterhin wollte er so fit und in Form wie möglich bleiben und drittens wollte er immer, wenn er da war, auch ein Auge auf die Fortschritte der Kampftechniken seiner Männer machen.
Als er 2001 nach dem großen Kampf das Training der Männer übernommen hatte, waren sie alle höchstens mittelmäßig.
Ruhi hatte sie so gut er konnte ausgebildet, aber er kannte lediglich alte Gewehre und Säbel. Rayan hatte mit seinen Beziehungen eine erstklassige Bewaffnung organisiert, was es leichter machte, für jeden der Männer individuell die am besten geeignete Waffe zu finden.
So hatte Hanif sein Scharfschützengewehr, denn er konnte unglaublich gut schießen und er selbst hatte die Begabung für seine Präzisionsmesser und sein japanisches Schwert.
Außerdem musste jeder der Männer am Nahkampftraining teilnehmen, ob er wollte oder nicht. Dies hatte Ruhi vorher überhaupt nicht betrieben.
Diejenigen der Männer, die sich am geeignetsten für den Nahkampf herausstellten, nahm er gerne als seine Leibwächter an, wie Jassim. Die Männer empfanden es als besondere Ehre, das Leben ihres Scheichs schützen zu dürfen.
Bedauernd dachte er wieder einen Moment an Ibrahim, den er damals in seiner Zeit bei den Rebellen als wahren Freund gewonnen hatte. Er hatte befürchtet, sein Vater hätte ihn und die anderen töten lassen, doch nach der Vernichtung der Rebellenstadt, hatte sein Vater mit Ibrahim und den anderen Anführern einen Vertrag ausgehandelt und einige der Familien kehrten sogar ins große Tal von Zarifa zurück. Unter ihnen Ibrahim mit seiner damaligen Freundin und jetzigen Frau Sachra.
Rayan kam am Trainingsgelände an und musste diesen Gedankengang erst einmal auf die Seite schieben.
Denn so ziemlich alle Männer sahen sich nach ihm um. Die einen eher schüchtern, etwas verwundert, doch hatten sie zu großen Respekt vor ihm, um sich ihre Überraschung allzu deutlich anmerken zu lassen und wandten sich daher gleich wieder ihren Übungen zu.
Die anderen, allen voran Hanif und Jassim gaben sich wenig Mühe, ihr breites Grinsen zu verbergen.
Offenbar kannten, oder ahnten sie zumindest den Grund seiner Verspätung.
Er fühlte sich gereizt, da ihm diese offensichtlichen Gedankengänge seiner Männer doch etwas peinlich waren.
Der alte Ruhi erfasste als Erstes die Stimmung ihres Scheichs und blaffte zwei der in der Nähe stehenden Männer an: „Was glotzt ihr hier so rum? Seid ihr etwa schon fertig?“ Woraufhin sich auch der Rest schleunigst wieder an seine Trainingseinheiten machte.
Ruhi war inzwischen völlig ergraut und lief meistens nicht mehr ganz so gut wie früher, seine Gelenke bereiteten ihm einige Schwierigkeiten. Ab und zu, wenn er wollte oder auch musste, konnte er aber noch immer schnell genug sein, um dem einen oder anderen Grünschnabel eine Lektion zu erteilen.
Jetzt warf er Rayan einen der langen Holzstöcke zu, mit denen sie gerade trainierten, den dieser geschickt auffing. „Jassim hier hat offenbar Langeweile und braucht eine kleine Abreibung. Los Junge, zeig ihm, wo der Hammer hängt!“
„Junge“ bezog sich auf Rayan und außer Ruhi hätte es besser keiner der Männer gewagt, ihn so anzusprechen. Doch nachdem Ruhi Rayan bereits als etwa vier- oder fünfjähriges Kind seine ersten einfachen Übungen beigebracht und ihn auch trainiert hatte, bis er als knapp Vierzehnjähriger aus Zarifa weglief, vergaß er manchmal, dass seitdem mehr als fünfundzwanzig Jahre vergangen waren und sich die äußeren Umstände deutlich verändert hatten.
Jassim war neben Rayan der mit Abstand beste Kämpfer und so teilte Ruhi sie meistens gegeneinander ein.
Kurz bevor sie begannen, setzte Ruhi noch halblaut, sodass ihn nur die Männer im direkten Umkreis hören könnten, hinzu: „Jassim, heute hast du echte Chancen, unser aller Scheich ist sicher nicht ausgeschlafen.“ Und lachte fröhlich.
Wieder so eine Unverschämtheit, die sich nur Ruhi erlauben konnte. Außerdem war sein Timing perfekt gewesen, denn bevor Rayan überhaupt nachdenken konnte, wie er Ruhi zur Rechenschaft ziehen sollte, traf ihn schon der erste Schlag seitens Jassim und so konzentrierte er sich auf den Kampf.
Schon nach zwanzig Minuten stellte Rayan fest, dass er heute offenbar wirklich nicht in der besten Verfassung war, denn Jassim gelang es mehrfach, durch seine Deckung zu brechen und bevor er größere Blessuren davon zog, gab er das Training für heute auf.
Stattdessen ging er zusammen mit Hanif die Reihen der Männer ab, um zu sehen, wie sie sich anstellten.
Anschließend zog er sich in eine Ecke des Trainingsplatzes zurück und begann mit seinen Konzentrations- und Dehnungsübungen, die er sonst als Erstes machte. Er war dabei so fokussiert, dass er die Umwelt um sich herum vergaß. Und daher entging ihm, dass einige der Männer innegehalten hatten, um ihn zu beobachten. Da er diese Übungen sonst noch vor Eintreffen der Männer durchführte, kannten sie diese Prozedur nicht.
Ruhi ließ sie gewähren, denn ihm war bewusst, wie wichtig es war, dass die Männer stets Respekt vor ihm hatten. Da half es, wenn sie ab und zu sehen konnten, wie gut ausgebildet ihr Herr war und dass er sich durchaus selbst gegen eine Übermacht an Männern behaupten konnte.
Der übliche Fehler vieler Feinde des Scheichs war es, zu glauben, er wäre ein Mann, der sich hinter Leibwächtern verschanzen musste, die für ihn kämpften, weil er selbst zu schwach dafür war.
Das Gegenteil war der Fall!
Rayan war es gewesen, der sie kampftechnisch