Stefan Koenig

Neue Zeiten - 1990 etc.


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      Ein schlanker großer Mann mit einer Pudelmütze auf dem Kopf betrachtete John forschend. Er hatte ein vom Feuer, vom Whisky oder vom Bier gerötetes Gesicht und große neugierige Augen.

      „Kennen wir uns?“, fragte er John. „Sie kommen mir bekannt vor, als wären Sie nicht das erste Mal hier in Honeybridge.“

      „Da müssen Sie sich täuschen oder ich habe vielleicht einen Doppelgänger hier“, antwortete John mit einem verspielten Lächeln um die Lippen. Immerhin war er nicht nur Sänger sondern auch Schauspieler.

      „Na, Sie müssen ja wissen, ob Sie unser Fleckchen Erde schon einmal betreten haben“, schloss der Mann seine Nachfragerei ab und rückte sich die Pudelmütze zurecht.

      „Sie haben wirklich ein schönes Fleckchen Erde hier. Am liebsten würde ich mit Ihnen tauschen.“

      Johns Kompliment zerstreute die letzten Zweifel. Er hatte es mittlerweile zur Meisterschaft darin gebracht, von sich abzulenken, indem er Lob, Anerkennung oder vom Thema abweichende Fragen an seine Mitmenschen zurückgab.

      „Fiona Ferry war mal mit einem Yankee verheiratet, müssen Sie wissen. Er ist bei einem schlimmen Verkehrsunfall ums Leben gekommen, der arme Mann“, fügte der rotgesichtige Mann hinzu.

      „Das ist ja schrecklich“, meinte John.

      „Sie war auch sehr geknickt. Aber eine wie sie lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Sie ist hier in ihre alte Heimat zurückgekommen und hat von ihrem letzten Erspartem das heruntergekommene Anwesen gekauft, das Sie jetzt als Urlaubsparadies bewohnen.“

      „Es steckt gewiss eine Menge Arbeit drin“, sagte John.

      „Sie hat es gemeinsam mit ihrer Nichte Mara monatelang renoviert. Sie können sich nicht vorstellen, wie die beiden angepackt und ausgesehen haben. Kein Maurer, kein Schreiner und kein Malermeister hätte es anders gemacht.“

      „Jetzt ist es ein überaus komfortables Hotel“, sagte John.

      „Wenn Sie wieder drüben sind, werden Sie dann für Irland und dieses kleine Hotel die Werbetrommel rühren?“, fragte der Wirt.

      „Natürlich werde ich das.“ Insgeheim fragte sich John jedoch, ob irgendjemand, den er aus seinem Showbiz-Leben kannte, freiwillig in diese Wildnis kommen würde. Aber er ließ sich nichts anmerken.

      Dann ließen sie ihn allein mit seiner Hühnersuppe und seinem Guiness. Er fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft und hörte mit einem Ohr zu, wie sie über einen alten Sonderling namens Colin Johnson sprachen, der seinen klapprigen Lieferwagen knallgelb lackiert hatte, damit er ihn ohne Probleme überall wiederfinden würde. Colin war halb blind, fuhr aber immer noch durch die Gegend, obwohl er selbst mit Brille kaum noch etwas sah. Allerdings war er bisher stets unfallfrei gefahren.

      Wie John dem Gespräch entnehmen konnte, hatte Colin nie geheiratet, führte aber ein regeres Gesellschaftsleben als sie alle miteinander und war überall ein gern gesehener Gast. Anscheinend war er auch ein großer Filmliebhaber, der mit seinem grellgelben Lieferwagen jede Woche dreißig Meilen in die nächste größere Stadt zurücklegte, um sich immer gleich zwei Filme hintereinander anzuschauen.

      Wahrscheinlich will er so viel sehen wie er kann, so lange er überhaupt noch sehen kann, dachte John. Immer wieder bekam er Gesprächsfetzen mit, und er konnte sich das friedliche, anspruchslose Leben gut vorstellen, das dieser Colin Johnson führte, zufrieden mit dem, was das Schicksal für ihn vorgesehen hatte.

      Friss oder wähl

      Die Schicksalswahl in der DDR steht unmittelbar bevor. Damit stehen Gewerbe-, Konsum- und Kapitalfreiheiten bevor, eben das, was das anspruchslose Leben in Ostdeutschland hat vermissen lassen. Genau diese drohen­den Neuerungen bereiten dem Oberst des Ministeriums für Staatssicherheit, Herbert Köhler, große Sorgen. Er sieht für sich kaum eine Chance in einer DDR, in der das Neue Forum gemeinsam mit der SPD oder gar die Konservativen das Sagen haben.

      Dreizehn Jahre lang hat der Mann bis 1987 die Gegenspionage der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS geleitet. Während seiner Dienstzeit hat er regelmäßig Kontakt mit dem dortigen leitenden KGB-Mann, Wladimir Putin. Nun will er weg aus Dresden. Anfang Dezember ist seine Dienststelle von Bürgerrechtlern gestürmt worden. Ein Militärstaatsanwalt und erstaunlicherweise auch westdeutsche Radioreporter waren dabei. „Stoppt die Aktenvernichtung“, hatten die Menschen gebrüllt. Sein damaliger Chef, Generalmajor Horst Böhm, wird am selben Abend unter Hausarrest gestellt und muss seine Pistole abgeben. Ende Februar vergiftet sich Böhm in seiner Wohnung mit Gas. Köhler beerbt seinen Chef und wird für kurze Zeit Chef der Dresdner MfS-Hauptverwaltung. Aber nichts ist mehr zu retten.

      So nimmt er Kontakt zu einem alten österreichischen Bekannten auf, dem millionenschweren Unternehmer Martin Schlaff. Der Österreicher ist gerade 36 Jahre jung, hat aber als Mitarbeiter des Wiener Handelshauses Robert Placzek, das er später übernehmen wird, die DDR jahrelang geschäftlich bereist. Er kaufte den Ostdeutschen unter anderem Holz ab und lieferte ihnen im Gegenzug Spanplatten, Baumwolle und Computerteile. Die Staatssicherheit schützte den Handel, alles lief über die Kommerzielle Koordinierung der DDR, Schalck-Golodkowskis Koko.

      Schlaff bietet dem Stasi-Oberst Köhler an, ihn in Wien aufzunehmen. Hier kann er in einem von Schlaffs Unternehmen alles über die Marktwirtschaft lernen. Er soll zu einem westlich geprägten Manager ausgebildet werden, und später, wenn es die Bedingungen zulassen, in Ostdeutschland oder andernorts ein Unternehmen führen.

      Köhler überlegt nicht lange. Es gibt zwar eine Anordnung, die regelt, was die Kader aus Stasi und Militär zu tun haben, wenn der kapitalistische Klassenfeind die Macht an sich reißt. Im Jahr 1989 wurden darüber hinaus Pläne geschmiedet, die vorsehen, dass die Stasi-Mitarbeiter zivile Firmen gründen sollen, um nach einem Machtwechsel versorgt zu sein und sich in einem neuen Staat etablieren zu können. Doch obwohl Oberst Köhler selbst an diesem Notfallplan mitgearbeitet hat, hält er sich nicht in vollem Umfang an ihn. Er versucht noch vor der Wahl, bevor der sozialistische Staat endgültig verloren ist, wenigstens seine eigene Existenz zu sichern.

      Oberst Köhler nimmt das Angebot des Unternehmers Martin Schlaff an und fliegt zwei Tage vor der Wahl nach Wien. Von der österreichischen Hauptstadt aus wird er 170 Millionen Mark der DDR, über die verschiedene Firmen des Martin Schlaff verfügen, in ostdeutsche Objekte investieren.

      Ich investierte meine knappe Zeit und Arbeitskraft in meine Firmen in Berlin und in Thüringen. Für den Tag vor der Wahl hatte ich in Abstimmung mit meinem Freund und jetzigem Geschäftspartner Jan eine Gesellschafterversammlung der UTB im Berliner Wedding einberufen. Ich beabsichtigte, ganz offiziell mit Jan festzustellen, wie er zu der Ansicht gelangt war, dass unsere Firma samt ihren vier Niederlassungen am Ende des laufenden Jahres keine einzige müde Mark Gewinn machen würde. Bisher hatte er mir dies nur in einem lapidaren Telefonat mitgeteilt. Wahrscheinlich hatte er sich getäuscht, hatte sich einfach verrechnet.

      Katrin, Jans Frau, unsere gemeinsam bestellte Geschäftsführerin, leitete die Versammlung. Es wurde eine sehr frustrierende Sitzung. Jan legte eine Menge Zahlen auf den Tisch, die jeder realistischen Grundlage entbehrten. Ich hatte immerhin bereits vier volle Jahre Unternehmenserfahrung hinter mir und er gerade einmal ein paar Wochen. Ich konnte die Sachlage vollumfänglich über­schauen. Keines seiner Argumente war stichhaltig, eindeutig waren es Luftnummern.

      Es war schlichtweg Unerfahrenheit, die ich ihm zugutehielt. Das Merkwürdige allerdings war seine Uneinsichtigkeit, ja Widerborstigkeit, mit der er alle meine Argumente auszuhebeln versuchte. Das ist gewiss seine Vorsicht, er überhöht die voraussichtlichen Kosten, um auf Nummer sicher zu gehen, dachte ich. „Lassen wir die Sache erst einmal auf sich beruhen. Warten wir eben die finanzielle Entwicklung ab“, sagte ich, um das Ärgernis erst einmal beiseite zu schieben. „Welchen Steuerberater hast du nun eigentlich für unsere Firma gewinnen können?“, fragte ich Katrin.

      Sie räusperte sich, wie sie es immer tat, wenn sie unsicher war. Es folgte eine Aufzählung all jener erfolglosen Besuche bei Steuerberatern, die sie nach ihrem Bekunden in den letzten vier Monaten abgeklappert