hatte seine wahre Identität gekannt.
Aber einer musste ihn ein Jahr später schließlich doch erkannt und verraten haben.
Was ihn Anfang der Siebziger Jahre zur Fahnenflucht bewegt hatte, hatte er uns sehr anschaulich geschildert. Fassungslos hatten er und seine Studienfreunde der Universität von Kent, Ohio, am 4. Mai 1970 auf die erschossene Kommilitonin geblickt. Aus ihrem Brustkorb in der Höhe des Herzens sickerte Blut. Da war nichts mehr zu machen; leblos lag das Mädchen, das eben noch mit ihnen zu einem Teach-in wegen Nixons Kambodscha-Überfalls gehen wollte, auf dem Pflaster. Die Nationalgarde hatte auf die Studenten ohne Vorwarnung geschossen. Das Kent-State-Massaker wurde für die amerikanische Jugend zum Fanal des Aufruhrs.
Auch Svea hatte ich im »Alamo« kennen gelernt. Die hübsche und kluge Dänin und er waren ein süßes Pärchen gewesen; sie hatten sich geliebt und waren füreinander da. Obgleich Svea mir beiläufig erklärt hatte, dass sie auch gut ohne ihn auskommen könne. Aber damals war sie erst siebzehn gewesen und hatte vielleicht noch andere Ideen im Kopf. Jedenfalls hatte sie die Verhaftung ihres Geliebten und sein Verschwinden von einem Tag auf den anderen so arg mitgenommen, dass sie in eine akute psychische Krise geraten war. Ein Jahr lang hatte sie einmal pro Woche die beschwerliche Busfahrt nach Malaga unternommen, um sich therapieren zu lassen.
Sie hatte John nicht besuchen können. Das amerikanische Konsulat hatte jegliche Auskunft über seinen Verbleib verweigert. Svea blieb in dieser brutalen Realität hilflos zurück. Sie wurde drogensüchtig, fuhr auf Heroin ab; es war eine Rutschbahn in den Tod.
Einige meiner Freunde von damals, auch Wolle und Quiny, und ich hatten uns einige Zeit später auf den Weg gemacht, um Svea auf den letzten Drücker zu retten. Sie war jedoch aus Torremolinos verschwunden. Ihre Spur hatte uns ins Hippieparadies Marokko, nach Tanger und nach Marrakesch geführt. Ich hatte damals John gesucht und ihn glücklicher Weise gefunden, bevor unsere strapaziöse Suchaktion in Sachen Svea gestartet war. John hatte die Spur zu ihr ebenso verloren wie meine Freunde und ich.
In jenen Tagen wollte ich mit ihm gemeinsam Svea aus ihrem tödlichen Sumpf befreien. Auf ihn hätte sie gewiss gehört. Für ihn hätte sie die Kraft aufgebracht, sich aus der Geiselhaft des Heroins zu lösen. Es war uns nicht gelungen. Wir hatten sie nur noch als Leiche den Behörden übergeben können. Es war eine todtraurige Sache. Die Dramatik jener Zeit wirkte lange nach. John kehrte zurück nach Torremolinos und auch seine Spur verwischte sich mit den Jahren. Ich hatte nie mehr etwas von ihm gehört.
John alias Stephen Carry wurde in diesen Märztagen, in denen sich das Schicksal Deutschlands wendete, von Stewardessen erst kurz vor dem Abflug von L.A. diskret an Bord geleitet. Er war nicht mehr so schlank wie einst, aber man sah seinem athletischen Körperbau an, dass er regelmäßig Sport trieb. Statt Gibran-Masche trug er nun sein Haar halblang und aus den Jesuslatschen waren feine braune Lederschuhe geworden. Der einst wallende Bart war total gestutzt und kurz getrimmt. Aus seinem länglichen Gesicht funkelten wie früher kluge und entschlossene blaue Augen. Aus den Hippieklamotten war ein modischer extravaganter Herren-Anzug geworden.
Ohne großes Aufsehen zu erregen, nahm er in einer Reihe der ersten Klasse Platz. Falls andere Passagiere ihn erkannten, so ließen sie es sich nicht anmerken. Unentschlossen, ob er es lesen sollte, schlug er erst das Exposé und dann die Drehbücher auf, die auf seinem Schoß lagen. Doch er war nicht bei der Sache. Das neue Filmangebot könnte zwar seinen Finanzstatus verdoppeln und er könnte sich eine noch größere und schickere Villa hoch über Malibu leisten. Aber wollte er das wirklich? Brauchte er nicht etwas ganz anderes? Zeit? Und endlich wieder eine neue Liebe?
Er legte die Skripte zur Seite.
Sobald er in Frankfurt gelandet wäre, würde er duschen, sich umziehen und es sich im Hotel in Ruhe auf einer Lounge Couch bequem machen. Erst dann würde er sich entscheiden. Carry war müde, und nach ein paar Minuten war er in seinem bequemen Erste-Klasse-Sitz eingeschlafen.
Als er aufwachte, stellte er fest, dass das Flugzeug noch nicht gestartet war. Die Stewardess bot ihm frischen Orangensaft an. Leider würde sich der Abflug noch etwas verzögern, erklärte sie. Man müsse noch Instrumente checken, aber sonst sei alles in Ordnung. Der Pilot versicherte über Lautsprecher, man könne bald starten.
Carry schaute auf seine Rolex – ein einfallsloses Geschenk seines Managers. Doch gerade in diesem Moment gab es eine weitere Durchsage. Dieser Flieger würde nirgendwohin fliegen. Der Flug war definitiv gestrichen. Alle wurden nervös. Nun galt es, die Passagiere auf den Flug am nächsten Tag umzubuchen. Das Übliche hin und her, jammern, bitten, fluchen. Carry blieb ruhig. Im Showgeschäft musste man sich unter Kontrolle haben.
Wer nicht warten wollte, konnte mit einer anderen Fluggesellschaft weiterfliegen, musste aber viel Zeit bei Zwischenlandungen einkalkulieren. Wenn Carry aber erst am nächsten Tag weiterflöge, würde er die entscheidende Sitzung mit dem Produzenten und dem Regisseur für die geplante neue Serie verpassen.
„Wir zahlen Ihnen eine Hotelübernachtung, wenn Sie heute keinen Flug nehmen möchten“, beteuerte die Flugbegleiterin am Counter.
Doch was würde es nutzen? Carry strich sich übers Haar und überlegte. Mason, sein Manager, würde ihm die ganze Flugzeugmisere ohnehin nicht glauben. Und ihm nie verzeihen, dass er seine einmalige Chance in Frankfurt nicht genutzt hatte.
Am Airport war die Hölle los, da alle versuchten, bei anderen Fluglinien unterzukommen. Letztendlich blieb Carry nur noch übrig, über Irland und den Donegal Airport zu fliegen, wollte er überhaupt eine Chance haben, rechtzeitig nach Frankfurt zu kommen. Ihm blieben gerade noch zehn Minuten, um Mason anzurufen, der ihn, um Zeit zu sparen, am Flughafen abholen sollte.
Sein Agent würde die Medien verständigen, damit diese ein paar Fotos von seiner Ankunft brachten, dazu eine kurze Story über den verspäteten Flug und ein paar Interviews über das neue Serienprojekt. Und dann würde Mason ihn schnurstracks zu dem Meeting fahren. Was immer auch geschah, er musste unbedingt dorthin. Alle zählten auf ihn.
Alle zählten auf ihn? Er war sich für einen Moment unsicher. Nun ja, er war für eine tragende Rolle vorgesehen, in der auch gesungen wurde, in der er Gitarre spielen sollte. Okay, dann würde er sich eben etwas verspäten, wahrscheinlich könnte er es knapp schaffen. Doch was nützte es, wenn er sich nun zu viele Gedanken machte. Deswegen würde das Flugzeug gewiss nicht schneller fliegen oder die Strecke abkürzen. Gab es Kürzeres als die Luftlinie? Also richtete sich Carry zum Schlafen ein, während der Flieger ostwärts durch die Nacht flog und schließlich in Irland landete.
Carry schaute auf seine teure Uhr. Er mochte sie wirklich nicht, musste sie aber anziehen, wenn ein Treffen mit seinem Manager bevorstand. Er wollte ja nicht undankbar sein und außerdem kannte er von seinen damaligen deutschen Hippiefreunden das Sprichwort: „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“. Das hatte er immer zu hören bekommen, wenn das brüderlich geteilte Marihuana nicht seinen Ansprüchen genügte.
Puh, das würde wirklich sehr knapp werden. Er würde sich beeilen müssen, um seinen Anschlussflug nach Deutschland zu bekommen.
So sehr er sich auch sputete und durch die langen Flure zum Gate hetzte, es war in der Tat zu knapp. Er konnte aus den großen Flächenfenstern der Halle nur noch zusehen, wie das Flugzeug nach Frankfurt ohne ihn abhob.
Mason, Freund und Feind zugleich, würde vergebens am Frankfurter Flughafen auf ihn warten, würde ihn ausrufen lassen, würde schließlich toben und versuchen, ihn anzurufen. Carry wollte ihm zuvorkommen und wählte die Nummer von Masons Mobiltelefon. Mason fuhr voll auf das Motorola-Teil ab; es war ihm nicht zu schwer. „Lieber schwer schleppen, als schwer erreichbar zu sein“, war seine Devise.
Carry hielt sein eigenes Mobiltelefon weit weg vom Ohr, um die lautstarke Wut seines Agenten nicht zu nah an sein Trommelfell zu lassen. Als sich Mason ausgetobt hatte, ihm die Puste ausgegangen war und seine maßlose Enttäuschung der Ernüchterung wich, klang er nur noch abgekämpft.
„Und jetzt? Was wirst du jetzt tun?“
Carry antwortete nicht sofort, sondern gab nur ein „Hm“ von sich. Schließlich sagte er: „Es ist ein Wink des Schicksals. Es zwingt mich zu einer Pause. Ich bin müde,