Stefan Koenig

Neue Zeiten - 1990 etc.


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Man fühlt sich in falscher Sicherheit gewogen.

      Mit jedem Tag, der die Unsicherheit in Ostdeutschland offenbart, gewinnen die externen Kräfte an Meinungsführerschaft hinzu. Der Einfluss der Westparteien, der Westkonzerne und Westberater wächst – sie alle versuchen, vollendete Fakten zu schaffen. Die Wahl am 18. März sollte eigentlich ein Triumpf der DDR-Demokratiebewegung werden – nun steuert die Titanic auf einen Eisblock zu.

      Jürgen Harksen interessierte das alles wenig, er hatte genug Wahlfreiheit in seiner eisfreien norddeutschen Enklave rund um Hamburg und in ganz Dänemark. Er musste sich um seinen neuen Autopark kümmern. Seine Haushälterin bat ihn eines Tages um einen Job für ihren Mann, der seine Stelle verloren hatte. Er wurde Harksens Autowart, der erste Angestellte der Firma VIP-Car-Rental.

      Als Harksen fünfzehn Autos hatte, sah er keinen Grund, den Stall nicht noch mehr zu erweitern, zumal sein flüssiger Geldstrom unentwegt anschwoll und über die Ufer zu treten drohte. Das Geld musste angelegt werden. In Prestigeobjekten, in Oldtimer, in Sportkarossen. Gottseidank hielten sich die Auszahlungswünsche seiner Kunden im Vergleich zu den Anlage-Einzahlungen in Grenzen.

      Anfang der Neunziger Jahre brach in Deutschland eine allgemeine Vermögenseuphorie aus. Die Reichen aller Bundesländer jubilierten unter dem Eindruck der nahenden Wiedervereinigung. Ab jetzt konnte es nur noch bergauf gehen. Die Wirtschaftskrisen der Vergangenheiten gerieten in Vergessenheit. Man durfte sich wieder ungeniert reich fühlen und gleichwohl bereichern. Das wirkte sich auch auf den Automarkt in den höherpreisigen Segmenten aus.

      Zwischen 1989 und 1990 kam es auf dem Edelautomarkt zu einer Wertexplosion. Der Ferrari F40, Listenpreis 400.000 DM, war zu Spitzenzeiten nicht unter zwei Millionen zu haben, denn er galt als Rarität und wurde nicht mehr gebaut. Harksen schaffte sich das teuerste Auto an, das er ergattern konnte, einen Ferrari California Spider, der als Sammlerstück einen Wert von acht bis zwölf Millionen Mark hatte.

      Ein Arzt aus Glücksburg an der Flensburger Förde, dem Harksen von Hören und Sagen bekannt war, hatte kein Glück, sondern ausgesprochenes Pech. Er war leidenschaftlicher Ferrari-Sammler und wollte seine Autos zu Phantasiepreisen verkaufen, fand aber partout keine Interessenten. In düsterer Vorahnung, sich womöglich verspekuliert zu haben, kam ihm Harksen mit seinem 1300-Prozent-Versprechen gerade recht. So glaubte er, seine Ferrari-Fehlspekulation wieder gutmachen zu können.

      Da er bereits zu klamm war, um sich per Bareinlage oder Scheck Zutritt zum erlesenen Kreis der Begünstigten zu erkaufen, bot ihm Harksen großzügig einen Deal an. Statt einer Bareinlage würde Harksen dem Arzt seine Autos zu den geforderten – illusorischen – Verkaufssummen als Einlagen der Firma Nordanalyse gutschreiben. Mit den entsprechenden – illusorischen – Schuldverschreibungen war der Ferrari-Fan nun Teilhaber an einem sagenhaften – illusorischen – Reichtum.

      Plötzlich hatte Harksen also einen Stapel Autopapiere in der Hand. Die Autos kosteten ihn außer dem Unterhalt, ein paar anteilnehmenden Worten und etwas Papier nichts. Und der Arzt hatte eine warme Phantasie mehr, auf die er sein ängstliches Haupt betten konnte.

      Damit seine Fans ihrer Bewunderung Raum geben konnten, richtete Harksen einen Jour fixe ein. Jeden Samstag gab es Hackbrötchen in seinem Auto-Zoo. Harksens Fitnessclub-Betreiber und dessen Sohn waren zwei seiner Stammgäste. Eines Tages schlug er ihnen vor, sich fürs Wochenende zwei seiner Nobelkarossen auszuleihen und ihre Frauen mal richtig zu verwöhnen. Die seien schon verwöhnt genug, wehrten sie mit glänzenden Augen sein Angebot scheinheilig ab. Der Sohn bekam als Leihgabe einen Ferrari, der Vater einen dicken Mercedes. Am Montag brachten sie die Autos wohlbehalten mit der frohen Botschaft zurück: „Das Eis ist gebrochen. Du bist bei uns zum Essen eingeladen.“

      Die Einladung nahm er gerne an, aber nie wahr. Dafür freute sich Harksen über die hunderttausend Mäuse, die Vater Clubbesitzer in der Woche darauf bei ihm ablieferte. Davon kaufte er voller Übermut gleich einen Ferrari Testarossa. Als der Clubbesitzer den zu Gesicht bekam, klopfte er Harksen anerkennend auf die Schulter: „Tolles Auto.“

      „Hab ich von deinem Geld gekauft.“

      Da lachte der Clubbesitzer, weil er glaubte, Harksen hätte einen besonders guten Scherz gemacht. Aber der Kapitalanlage-Zauberer wusste um die Macht der Illusionen. Und er wusste, dass man eben nicht besser als mit der Wahrheit lügen konnte.

      Die DDR im Lockdown

      In der zweiten Märzwoche wird in München ein großes Fest gefeiert. Die Allianz-Versicherung hat ins Prinzregententheater geladen. Sie feiert heute ihren hundertsten Geburtstag. Als erstes ist eine vieraktige Komödie im Geburtstagsangebot. „Der Barbier von Sevilla oder Die unnütze Vorsicht“. Beaumarchais Komödie von 1775 belustigt 1400 Gäste aus deutschen Landen und der ganzen Welt. In der ersten Reihe sitzt Richard von Weizsäcker, der Bundespräsident.

      Als ich von der Veranstaltung im Radio höre, muss ich schmunzeln und denke: Die Geschichtsschreiber werden später schmunzeln. „Die unnütze Vorsicht“? Wer soll über „den Löffel barbiert“ werden?

      Der Barbier von Sevilla hat ausbarbiert und nun kümmern sich über hundert Hostessen bei mehreren Banketten um die Gäste in den Festsälen. Wolfgang Schieren führt als Vorstandsvorsitzender seit zwanzig Jahren die Allianz AG Holding. In seiner Rede legt er jetzt stolz dar, wie es um den Konzern bestellt sei. Man verwalte Kapitalanlagen im Wert von 130 Milliarden DM und gehöre zu den größten Immobilienkonzernen des Kontinents. Doch wolle man weiter wachsen, Firmenübernahmen tätigen und neue Partnerschaften in der ganzen Welt aufbauen.

      Schieren weist auf neue Geschäftsfelder in Russland, Japan, Thailand, Griechenland hin – und in der DDR. Gerade am Vortag habe man die Erlaubnis erhalten, in Ostberlin eine Repräsentanz zu eröffnen. Das ist ein maßloses Understatement, eine zweckgerichtete Verniedlichung eines eigentlich skandalösen Vorgangs. Denn er selbst hat bereits am 14. November 1989, also nur fünf Tage nach dem Fall der Mauer, dem Chef der Lebensversicherungssparte, Uwe Haasen, telefonisch den Eilauftrag erteilt, die »Staatliche Versicherung der DDR« zu akquirieren. Seitdem arbeitet Haasen, der aus Ostdeutschland stammt, an der Übernahme dieses fetten Sahnestücks.

      Die »Staatliche«, wie sie Allianz-Mitarbeiter bald nur noch nennen, ist natürlich ein volkseigener Monopolist auf dem ostdeutschen Markt. Haasen weiß das zu schätzen und für das monopolistische Ziel der Allianz zu nutzen. In der Firma liebt man Tiervergleiche, der Stärkere schluckt den Schwachen oder wird Bruder des Gleichstarken. Der Tiger setzt zum Sprung an.

      Und was mich betraf, so war ich zwar kein Tiger, wäre aber gerne ein einziges Mal der Stärkere gewesen und hätte zum Sprung angesetzt. Das Arbeitsamt hätte mich mal kennen lernen sollen. Ob ich je gesprungen wäre, war mir nicht klar. Aber ich teilte Emmas Wutausbruch.

      „Diese Trickser! Verwaltungen sollten neutral und fair sein. So eine Schweinerei!“, fluchte Emma.

      Meine Frau hatte absolut Recht. Unser gemeinnütziges Bildungsinstitut war mit dem allerersten ökologischen und umwelttechnischen Weiterbildungsangebot in der Bundesrepublik an den Start gegangen. Das war vor dreieinhalb Jahren gewesen, im Oktober 1986. Das zuständige Frankfurter Arbeitsamt hatte unsere Lehrgänge für arbeitslose Natur- und Ingenieurwissenschaftler begrüßt und bewilligt. Aber das Offenbacher Amt, in dessen Bezirk unsere GTU-Gründerzeit-Villa neben dem Deutschen Wetterdienst stand, versuchte alles, um uns loszuwerden.

      Wir waren mit den mehrmonatigen Lehrgängen sehr erfolgreich; die Kursabsolventen fanden ihre Berufswege im angewandten Umweltschutz. Umwelttechnik und Umweltgesetzgebung waren zwischenzeitlich vorangeschritten. Noch Anfang der Achtziger Jahre bis hinein ins Jahr 1985 hatte bei den Arbeitsämtern die Ansicht vorgeherrscht, Umweltschutz vernichte Arbeitsplätze. Auch in Wirtschaftsmagazinen hatte man in dieses Horn geblasen. Doch das Gegenteil war der Fall. Inzwischen waren über 250.000 Arbeitsplätze im Umweltschutz entstanden.

      Nun also befanden sich Umwelt, Wirtschaft und wir im Aufschwung. Doch da war diese ewige Drangsaliererei aus dem Offenbacher Amt. Die heimtückischen Amtsattacken machten uns arg zu schaffen. Nach zwei Jahren waren wir nach Frankfurt geflüchtet. Und jetzt mussten wir gegen das Offenbacher Amt klagen. Es ging um 320.000