Stefan Koenig

Neue Zeiten - 1990 etc.


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in der DDR, Zuckerbrot und Peitsche aus dem Westen, viele Worte und doch viel zu wenige ehrliche Sätze. Die Leipziger Frühjahrsmesse startet am 12. März und dauert dieses Jahr bis zum Samstag vor der Wahl. Die Messe erlebt die letzten Tage der sozialistischen DDR. Noch immer ist völlig ungewiss, wer die Wahl am kommenden Wochenende gewinnen könnte und was aus der DDR wird. Ob und wann und unter welchen Bedingungen die Einheit kommen wird, ist noch immer offen.

      Seit der Ankündigung Helmut Kohls, dass die D-Mark in die DDR kommt, hat sich Leipzig schlagartig verändert. An den Häuserwänden hängen Plakate, auf denen westdeutsche Politiker abgebildet sind. Noch kennen die DDR-Bürger nicht die wahre Bedeutung des Loriot-Spruchs: „Ich liebe Politiker auf Wahlplakaten. Sie sind tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen.“

      Auf den Straßenbahnen klebt Werbung für westdeutsche Produkte. In der ehemaligen Kantine der Stasi-Zentrale hat ein Ehepaar aus Rheinland-Pfalz eine Kneipe eröffnet. Die Straßen sind voller westdeutscher Autos der Marken BMW, Daimler, Audi. Siemens hat massenhaft Hochglanzprospekte in die Briefkästen werfen lassen. Über dem Messegelände kreisen Hubschrauber, die westdeutsche Vorstandsvorsitzende zum Messegelände fliegen.

      Dort präsentieren sich die Branchengrößen aus dem Westen mit aufwendigen Ständen. Sie sind in Lauerstellung, wollen Kontakte knüpfen, Informationen sammeln und die kommenden Mächtigen beeindrucken. Der Transrapid wird vorgestellt. SEL Alcatel führt Computer vor, die Produktionsabläufe steuern können. Vertreter von Mannesmann berichten über das neue Mobilfunknetz, das ihr Unternehmen mit Erlaubnis der Deutschen Bundespost aufbauen darf. Das Netz soll einmal »D2« heißen.

      Der Generaldirektor eines DDR-Werkzeugmaschinenbau-Kombinates wird am Rand der Messe interviewt: „Fühlen Sie sich von den Westdeutschen vereinnahmt?“

      „Das ist keine Frage des Gefühls. Wir werden vereinnahmt“, antwortet der Ostmanager.

      Auch Gerhard Cromme, der kaltschnäuzige Vorstandschef des Stahlkonzerns Krupp wird von der Kamera erfasst. Ich sehe ihn im Fernsehen, ich erinnere mich an seinen rigorosen Umgang mit der Arbeiterschaft im Ruhrpott. 6000 Arbeitsplätze hatte er mit einem Federstrich vernichtet. Die Proteste der Arbeitslosen bewegten ganz Westdeutschland und waren, wie Tamara mir berichtet hatte, auch im DDR-Fernsehen zu sehen gewesen. „Da sieht man, wie gnadenlos der Klassenfeind mit Arbeitern umspringt!“, hatte sie mir geschrieben.

      Jetzt rückt Cromme vor der Kamera beiläufig seine Krawatte zurecht. „Die Chancen sind größer als die Risiken, und deshalb braucht die Bevölkerung keine Angst zu haben, denn man sieht es ja am Beispiel der Bundesrepublik, wohin die soziale Marktwirtschaft führen kann“, sagt Cromme ohne mit der Wimper zu zucken ins Mikrofon.

      Der wesentlich kleinere Modrow steht neben ihm. Der DDR-Ministerpräsident wirkt müde und abge­kämpft, wirkt wie ein Besucher auf exterritorialem Gelände. Cromme dagegen ist in seinem Element. Er redet fast aufgedreht von oben auf Modrow ein: „Herr Ministerpräsident, es sind Zeiten des Umbruchs, besondere Zeiten, neue Zeiten, in denen Informationen und Erfahrungsaustausch eine große Rolle spielen. Wir erwarten zu großen Abschlüssen zu kommen. Da sind für uns natürlich besonders die engen Beziehungen der DDR-Firmen zu den Firmen im RGW-Raum interessant.“

      Modrow dreht sich leicht zur Kamera, dann sagt er in Richtung Bonn, gerichtet an den Chef des Bundeskanzleramtes: „Ich glaube, in der Politik wird im Moment viel Wahlkampf betrieben. Herr Seiters erklärt, dass Herr Modrow etwas bremst. Herr Modrow hat überhaupt nichts zu bremsen, im Gegenteil. Man möge sich mal anschauen, was in den zurückliegenden Wochen an Gesetzgebungen geschehen ist, um marktwirtschaftliche Bedingungen und Voraussetzungen zu schaffen.“

      Modrow scheint zu ahnen, dass seine Stunde geschlagen hat. Er nimmt all die unnatürliche Aufregung, die rundum herrscht, wahr, kann sich ihr aber nur fügen. Seit einigen Wochen herrschen in Leipzig andere Verhältnisse. Jedenfalls keine sozialistischen. Noch halten sich die westdeutschen Industriellen und ihre Lobbyisten an Modrow. Man weiß ja nicht hundertprozentig, wie die Wahl in wenigen Tagen ausgehen wird. Man will nicht aufs falsche Pferd setzen. Dreistigkeit unter der Hand, ja. Aber nach außen hin gilt immer noch die alte Devise: »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«.

      Vorsicht lässt auch die Deutsche Bank noch walten. Auf der Messe hat sie einen herausragenden Stand und lädt zu Crashkursen für Existenzgründer in der DDR ein. Sie selbst ist bestrebt, unauffällig ihre eigene Existenzgründung im Einzugsgebiet Ost vorzubereiten. Der »Big Deal« mit der bald ausgeschlachteten Staatsbank und ihrem Vize-Chef Edgar Most läuft weiter still im Hintergrund.

      Most ist mit dem Chef der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, und mit anderen Hohen Priestern des westdeutschen Finanzkapitals in einem Privatjet nach Leipzig eingeflogen. Auch dieser Flug soll geheim bleiben. Deshalb fährt man in getrennten Limousinen zu verschiedenen Veranstaltungen. Der heimlich abgeschlossene Vertrag über die teilweise Übernahme der Belegschaft, des Know-hows – also des internen Wissens über die DDR-Finanzströme – und der Filialen dieser wichtigsten DDR-Bank ist bereits in der Schublade.

      Einen Tag nach der Wahl soll die Schublade herausgezogen werden und der Deal in Kraft treten.

      Auch der junge Detlef Scheunert ist auf der Leipziger Messe. Offiziell ist er noch immer der persönliche Referent des Ministers für Schwermaschinenbau. Im November vergangenen Jahres hatte ihn ein Ministeriumskollege gefragt: „Und, machst du auch die Flatter? Denk mal darüber nach!“ Doch Scheunert hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, schließlich hatte er nichts zu verbergen. Und jetzt, in dieser aufregenden und wichtigen Umbruchzeit, würde er erst recht nicht abwandern.

      Er ist 29 Jahre alt, groß gewachsen, mit dunklen Haaren, Brille und DDR-typischem Schnauzbart. Er hat ein gewinnendes Lächeln, eine diplomatische Ader, aber er lässt sich auch nicht verbiegen. Einige seiner Kollegen haben sich bereits aus Berlin abgesetzt. Sie befürchten, in einer anderen DDR oder gar in einem vereinten Deutschland »zu kontaminiert« zu sein. Scheunert sieht das völlig anders. Er lebt mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Tochter für weniger als einem DDR-Hunni in einer Ostberliner Wohnung. Ist es ein Verbrechen, in einem sozialistischen Land Karriere gemacht zu haben, denkt er.

      Er hört die Versprechungen der neu konstituierten konservativen Parteien, deren Parolen sich auf drei Worte reduzieren lassen: Bei Einheit Wohlstand.

      Urlaub in Honeybridge

      John hieß jetzt Stephen Carry und war in den Vereinigten Staaten ein berühmter Countrysänger geworden. Er musste so alt wie ich sein, knapp vierzig. Sogar bis nach Irland und Schottland hatten es seine Songs gebracht. Fast jeder englischsprachige Liebhaber amerikanischer Folksongs kannte ihn und sein bezauberndes Gitarrenspiel. Und dann war er in das Filmgeschäft eingestiegen; nicht in die großen Hollywoodproduktionen, aber er spielte in solchen amerikanischen Soaps wie Baywatch mit.

      Jedermann jenseits des Atlantiks kannte sein Gesicht. Ich erkannte ihn nicht, obwohl ich ihn in seiner Jugendzeit kennen gelernt hatte. Damals, 1970, war ich dem Kalifornier im spanischen Süden, in Torremolinos, begegnet. Wir beide waren damals zwanzig Jahre jung. Er arbeitete hinter der Theke der angesagten Hippie-Bar »Alamo« als Barkeeper und war vor der Army desertiert, wie mir seine Freundin Svea erzählt hatte. An jenem Abend hatte ich ihn mir genauer angesehen.

      Er war groß, schlank und athletisch gebaut; er trug »Gibran-Masche«, das heißt, er trug sein Haar im Jesusstil. Da passten die Jesuslatschen, wie ich beiläufig feststellte, haargenau. Ein wallender Bart umrahmte sein längliches Gesicht, aus dem kluge und entschlossene blaue Augen funkelten. Irgendwie passten seine abge­wetzten Jeans und das Farmerhemd, worüber er eine jener beliebten Hippie-Westen trug, gut zusammen.

      John war mir sofort sympathisch gewesen. Wir hatten von ihm erfahren, wie es an der amerikanischen Heimatfront aussah. Er war dem Einberufungsbefehl nicht gefolgt, war über Kanada geflüchtet und war von den US-Behörden über alle amerikanischen Konsulate und über alle Kontinente hinweg gesucht worden. Er war einer von Hunderttausenden auf einer langen Desertionsliste. Deshalb hatten ihm seine Freunde aus der Friedensbewegung einen falschen Pass besorgt. Er führte ein Leben im Untergrund. Keiner der rund um Torremolinos