Unterrichtsraum betrat, saß bereits ein Teilnehmer breit grinsend dort. Es war mein alter Jugendfreund Veit in seinem Rollstuhl, und er feixte: „Na, du hast doch letztlich gemeint, du seist immer eine viertel Stunde vor Lehrbeginn zur Stelle. Verschlafen?“
Er hatte nicht unrecht, die Nacht war nicht gerade ruhig und erholsam gewesen. Meine Tochter Karola hatte Durchschlafschwierigkeiten gehabt und war kurz nach Mitternacht und dann noch einmal frühmorgens gegen fünf Uhr zu meiner Frau und mir ins Bett gekrochen gekommen.
Ich war etwas später dran als sonst. Normalerweise schaute ich in alle Unterrichtsräume, kontrollierte die Sauberkeit, schaute nach den Tafeln und Flipcharts, ob jeweils neues Papier aufgelegt war oder ob Stifte und Kreide noch ausreichend vorhanden waren. Ich kontrollierte die Beamer und Overheadprojektoren, die Leinwände und ob die Heizungen funktionierten und das Thermostat angemessen eingestellt waren.
„Kontrollieren Sie nicht zu viel“, hatte mein Hausarzt gemeint, als ich ihm über meine Magenbeschwerden unterrichtete. „Nehmen Sie Talcid. Das bindet die überschüssige Magensäure. Und denken Sie daran: Mehr an Ihre Mitarbeiter delegieren! Vertrauen Sie Ihren Leuten, das wird alles gut gehen, auch wenn Sie nicht überall kontrollieren!“
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, hieß meine Devise bisher. Nun also sollte ich den Spruch umkehren und mehr Betonung auf das Vertrauen legen. Dem Sekretariat mit Frau Wenzel vertraute ich blind. Nur nicht im Fall der Grippeimpfung. Da ließ ich mich von ihr nicht überzeugen.
Vor einigen Jahren hatte ich mich das erste Mal in meinem Leben gegen Influenza impfen lassen. Es war schiefgegangen.
„Sind Sie gesund?“, hatte mich mein Hausarzt gefragt.
„Topfit!“, hatte ich geantwortet. „Keinerlei Krankheitsanzeichen seit achtzehn Monaten. Die letzte Erkältung war im Februar Vierundachtzig.“
Aber ich hatte mich dann nur noch schlappe drei Stunden lang wacker gehalten. Danach begann der große, der ganz große Zirkus. Gliederschmerzen, wie ich sie noch nie im Leben hatte. Hohes Fieber – 39,8 Grad innerhalb kürzester Zeit. Beißende Halsschmerzen, gefolgt von einem lästigen und bald schon schmerzhaften trockenen Dauerhusten. Ein Schnupfen vom Besten hatte das Impfprogramm abgerundet. Und das Nachglühen der Influenza dauerte fast ein Vierteljahr.
Veit, der jetzt samt seinem Rollstuhl in einem unserer Umweltinformatik-Kurse gelandet war und mich eben begrüßt hatte, war seinem gut durchdachten Selbstmord vor einem Jahr nur knapp entronnen. Dafür musste er ein großes Opfer bringen und auf den Bahngleisen seine beiden Beine zurücklassen. Erst hatte er das Scheitern seines selbstgewählten Todes bedauert und neue Pläne ausgeheckt, um sich umzubringen. Doch seit er unsere Weiterbildung besuchte, stärkte sich sein Überlebenswille und langsam zog wieder Freude in sein bisher so deprimierendes Leben ein.
Frau Wenzel kam vorbei, um einen Foliensatz auf dem Dozententisch abzulegen. „Und? Bereit zur Impfung? Ich kann es nur empfehlen, die Saison soll heftig werden. Und wir brauchen Sie hier.“
„Entschuldigen Sie“, sagte ich zu ihr. „Ich dachte, ich hätte Ihnen von diesem Impf-Reinfall damals berichtet.“ Als sie mich unwissend anschaute, fuhr ich fort: „Ich werde den Teufel tun und mich impfen lassen. Nein, das mute ich mir nach meiner Erfahrung nicht mehr zu. Es ist zu gewagt. Nie wieder.“
„Vielleicht war es damals nur ein Zufall, eine verunreinigte Ampulle oder so.“ Ihr treuer Augenaufschlag und ihr zutrauliches und zuversichtlich wirkendes Lächeln sollten mir Mut machen. Doch ich hatte unüberwindbaren Schiss vor einer Grippeimpfung.
„Ob Zufall oder nicht, ich lasse mich auf nichts mehr ein, außer auf die Auffrischung von Tetanus und Polio und diesem üblichen Kram.“ Aus irgendeinem Grund strich ich mir bedächtig übers Haar.
„Und genau davon bekommen Männer Haarausfall“, sagte Frau Wenzel und lachte schallend.
Hochstapler stapeln oft zu hoch
Gert Postels Aufgabe besteht derzeit im Implantieren von Haaren. Er hat es mit seiner Hochstapelei bisher nicht allzu weit gebracht – nun gut, immerhin zum falschen Dermatologen. Er, der gelernte Postbote, ist vor einigen Wochen bei dem zu einem extravaganten Haarkünstler avancierten Friseurmeister, Herrn Richter, gelandet, dem er sich als Hautarzt vorgestellt hatte. Sein gefälschtes Zeugnis war dem eitlen Chef eines Institutes für Haar-Transplantation beim Einstellungsgespräch nicht aufgefallen. Postel ist nur hier, um für eine gewisse Zeit so viel Geld wie möglich abzukassieren.
Postels große Karriere als geschätzter Oberarzt für Klinische Psychiatrie in Sachsen steht ihm noch bevor. Er, der Postbote, wird psychiatrische Gutachten für Schwurgerichte schreiben – er wird in einigen Jahren selbst nicht begreifen, wie weit und hoch ihn seine Hochstapelei katapultiert hat.
Wie verabredet tritt Postel pünktlich am Montagmorgen seinen Dienst an und wird von Dr. Warga, dem zweiten Arzt des Haar-Institutes, in seine Tätigkeit eingeführt. Warga, ein ungefähr fünfzigjähriger Kettenraucher mit leichtem Tremor, ist kein Facharzt für Dermatologie, wie Postel es vortäuscht, sondern nur Allgemeinarzt. Er erhält deshalb auch nur die Hälfte des Honorars, das Postel einsackt. Das sind immer noch fast 9000 Mark bar auf die Kralle. Und darauf kam es Dr. Warga entscheidend an, denn er gab sich, wie Postel in Erfahrung bringen konnte, gegenüber seiner geschiedenen Frau, die ihn mit Unterhaltsklagen verfolgte, vermögens- und einkommenslos.
Schon beim ersten Patienten, einem Installateur-Meister mit großem Wagen und großen Händen, zeigt sich, dass sich Postels Trockenübungen am Wochenende unter Anleitung seiner neu angelachten Freundin gelohnt haben. Es gelingt ihm anstandslos im richtigen Winkel mit der Kanüle in die Kopfhaut des vierschrötigen Mannes zu stechen und die sich bildenden Hügel aus Anästhesieflüssigkeit gleichmäßig wegzudrücken, sodass bald die beiden Implanterinnen ihr Werk beginnen können.
Mit großem Geschick und in Windeseile – sie werden nach Akkord bezahlt – setzen sie Haar für Haar in die betäubte Kopfhaut. Postel zieht sich zurück, bleibt aber in Rufbereitschaft, um im Falle des Nachlassens der Betäubung nach zu spritzen.
Während Dr. Warga ihn im Aufenthaltsraum mit seinen zweijährigen Instituts-Erfahrungen vertraut macht, geschieht etwas Ungeheuerliches: In dieser Villa, in der es normalerweise so leise wie in einem Mönchskonvent zugeht, erhebt sich plötzlich ein schrecklicher Lärm. Jemand brüllt so entsetzlich, dass Dr. Warga und Postel zunächst annehmen, ihrem Installateur-Meister sei etwas zugestoßen, eine Implanterin habe versucht, ihm ein Kunsthaar ins Auge einzupflanzen oder etwas ähnliches.
Nach und nach lassen sich aus dem Lärm einzelne Satzbrocken aussondern und verstehen: „Schauen Sie her, wie ich aussehe … Sie Verbrecher! … Geben Sie mir die siebzig Mille zurück, und zwar sofort … Eher gehe ich hier nicht raus … Was? Sie wollen mir mit der Polizei drohen? … Die hol ich gleich selber … die nehmen Sie mit … dafür werde ich sorgen … Sie hätten mich gewarnt, Sie Rindvieh … nicht föhnen …“
Nach diesem letzten Ausruf sagt Dr. Waga ganz trocken: „Ach so, das ist ein Föhnfall.“
„Wie bitte?“, fragt Postel.
„Hat man das Ihnen nicht gesagt?“, erwidert Dr. Warga. „Sie dürfen die eingepflanzten Kunsthaare unter keinen Umständen föhnen, also mit hohen Temperaturen in Verbindung bringen. Das Kunsthaar kräuselt sich dann zu winzigen Korkenzieherlöckchen. Im Extremfall schmilzt es sogar zusammen. Wenn Sie so in wenigen Minuten siebzigtausend Mark vernichten und dann auch noch absolut verboten aussehen, dann kriegen Sie natürlich eine gehörige Wut.“
„Puhh, das verstehe ich!“, stöhnt Postel.
„Stellen Sie sich einen glatthaarigen, geschniegelten Manager vor, dessen früherer Glatzenbereich plötzlich nicht mehr von teuer erworbenem Kunsthaar, sondern von einer Art Afrogekröse besetzt ist“, fährt Warga fort. „Der kann sich auf keiner Vorstandssitzung mehr sehen lassen, ohne Heiterkeit zu erregen. Und wenn er sich alles abrasieren und die Kunsthaare entfernen lässt, dann bleiben hässliche Narben. Dann greifen Sie, siebzigtausend Mark ärmer, wieder zum guten alten Toupet und