Katharina Georgi-Hellriegel

L(i)eber Bruder


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welches übrigens noch die am ehesten genießbare Mahlzeit des Tages war, einverleibt; ich dagegen harrte aus, mit leerem und nach wie vor ungespiegeltem Magen.

      Im Verlauf des Vormittags unterbrach ich mein Warten, indem ich durch das Anlesen einer langweiligen Geschichte einen Leichtschlaf provozierte – eine innovative Technik, die ich noch nicht oft und noch nie mit Erfolg erprobt hatte. Diesmal gelang sie auf Anhieb, und so weckten mich erst die klappernden Geräusche wieder, die beim Austeilen des Mittagessens entstanden. Nicht dass ich auf diese bescheidene Mahlzeit besonders scharf gewesen wäre, aber um mich zu vergewissern, ob ich als medizinisches Untersuchungsobjekt überhaupt noch von Interesse war, erkundigte ich mich beiläufig aus dem Bett heraus nach der anberaumten Untersuchung.

      „Das kann jetzt jeden Moment passieren!“, überraschte mich der freundliche Pfleger und fügte in vertraulichem Ton hinzu: „Wissen Sie, am Montag ist ziemlich viel los in der Gastroskopie, da kann es schon mal ein bisschen länger dauern!“

      Nach einer weiteren halben Stunde, ich hatte gerade erst so richtig mit dem Weiterwarten begonnen, erschreckte mich fast die plötzliche Aufforderung der Stationsschwester, eben sei angerufen worden, und ich solle mich jetzt ganz schnell in den ersten Stock begeben. Sie drückte mir meine Krankenakte in die Hand und ich trabte los.

      Acht Stockwerke tiefer sprach ich bei einer weiß bekleideten jungen Dame vor, die offensichtlich mit meinem Kommen gerechnet hatte. Flink entnahm sie mir die mitgebrachten Papiere und gab mir im Gegenzug einen wertvollen Hinweis: Ich möge doch einfach das nächstgelegene Wartezimmer aufsuchen, was ich dort zu tun hätte, wüsste ich ja sicher.

      Normalerweise wäre nun stundenlanges weiteres Warten mein Schicksal gewesen, aber diesmal hatte ich, durch Erfahrung klug geworden, heimlich vorgesorgt. Kaum dass ich in dem nur schwach besetzten Raum Platz genommen hatte, schlug ich auch schon demonstrativ mein mitgebrachtes Buch auf und signalisierte den Wartegöttern auf diese Weise, dass mich erneuter Zeitverzug keineswegs schrecken könne, weil ich auf alles vorbereitet sei. Tatsächlich trat nach wenigen Minuten die von mir beabsichtigte Wirkung ein. Etwa so, wie ein mitgenommener Regenschirm die Verantwortlichen davon abzuhalten vermag, Regen zu produzieren, brachte es das beschwörend aufgeschlagene Buch zustande, nach wenigen Minuten einen Arzt vor mich hin zu zaubern, der mich sogleich tatendurstig begrüßte. Gleich anschließend begann er, ohne das Wort „warten“ auch nur in den Mund zu nehmen, mit Hilfe einer mitgebrachten Assistentin die Spiegelung meines Magens nicht nur vorzubereiten, sondern auch durchzuführen.

      Viel später, als ich nach vollbrachter Untersuchung immerhin noch vor Anbruch der Dunkelheit auf die Station zurückgekehrt war und zufrieden in meinem aufgewärmten Mittagessen herumstocherte, war ein Kliniktag zu Ende gegangen, der – gemessen an manch anderen – durchaus das Prädikat „erfolgreich“ verdient hatte.

      Dieser Bericht über das Warten an der ehrwürdigen Universitätsklinik Mainz wäre nicht vollständig, wenn die Schilderung einer wahrhaft erhabenen Szene unterbleiben würde, die sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis eingegraben hat. Sie spielte viele Monate nach meiner Transplantation, in einer Zeit also, in der mein Gedächtnis wieder gut funktionierte, und ich kann sie deshalb detailliert und authentisch wiedergeben.

      Schauplatz ist die Hautklinik, ein nicht mehr ganz neues Hochhausgebäude auf dem weitläufigen Klinikgelände, äußerlich eher unscheinbar, aber das halbdunkle, geräumige Innere enthält alles, um auch den verwöhnten Freund des besonderen Warteerlebnisses jederzeit und vollständig zufriedenstellen zu können.

      Wäre es nicht vom Baujahr des Hauses her ausgeschlossen, so würde es mich nicht wundern, wenn in einem der vielen spärlich beleuchteten Flure neben all den farbenprächtigen Hinweisschildern eine Messingtafel daran erinnern würde, dass hier einst auch Franz Kafka behandelt worden sei oder wenigstens versucht habe, zu einem der vielen, in schwer zugänglichen Behandlungsräumen verborgenen Hautärzten vorzudringen.

      Genau das war jetzt meine Aufgabe. Ich wurde von meiner Stammklinik, in der ich diesmal nur für ein paar Tage blieb, mit einem Überweisungsschein hierher geschickt, der einen Arzt dieser Klinik zu einer Untersuchung meiner Körperoberfläche berechtigte. Es sollte nachgesehen werden, ob sich irgendwelche Hautveränderungen nach der Transplantation zeigten, die mittlerweile schon fast ein Jahr zurücklag.

      Dementsprechend betrat ich das weit verzweigte Innere des gewaltigen Gebäudes in gutem physischen Zustand – eine günstige, wenn nicht sogar notwendige Voraussetzung, denn das, was mir jetzt bevorstand, erforderte den ganzen, möglichst gesunden Mann.

      Die vielfältigen, durchweg in hübschen Signalfarben gehaltenen Orientierungshilfen waren mit ihrer überwiegend fachlichen Diktion leider nur schwer für mich zu durchschauen; wahrscheinlich, so dachte ich mir, sollten sie dem hier beschäftigten Personal das tägliche Auffinden des Arbeitsplatzes erleichtern und waren weniger für herumirrende Patienten wie mich gedacht. Zögernd verharrte ich gerade, um den Sinn eines besonders prächtigen Exemplars zu entschlüsseln, während ständig vorbeihuschende Weißkittel beiderlei Geschlechts dem Hindernis, das ich darstellte, geschickt auswichen. Als ich endlich beschloss, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen, stellte ich fest, dass die schnellen Geschöpfe zwar nicht leicht zu bremsen waren, jedoch – einmal gestellt – durchaus freundlich darauf zu reagieren vermochten, zum Beispiel mit der Frage „Wo wollen Sie denn hin?“.

      Ich präsentierte mit bittendem Lächeln mein Überweisungspapier, das vom Personal geschickt interpretiert wurde und zu Wegbeschreibungen führte, die mich nach wenigen Fehlversuchen schließlich ans Ziel brachten: einen gut gefüllten Wartesaal, aufgehellt sogar durch einige Fenster, wenn es auch nur ein düsterer Innenhof war, auf den der Blick freigegeben wurde.

      Meine Aufmerksamkeit galt allerdings zunächst einer Glastüre an der entgegengesetzten Stirnseite des Raumes, auf der ein großes Schild mit dem Wort „Anmeldung“ befestigt war. Neben diesem auffordernden Hinweis fand sich jedoch auf dem Mauerwerk neben dieser Türe ein weiteres, wertvoll-gläsernes Schild mit der Aufschrift „Bitte warten“, und zwar leuchteten hier prächtige weiße Buchstaben auf rotem Grund. Eine solche eher widersprüchliche Schilderkombination war mir bisher noch nicht untergekommen; als erfahrener Patient weiß ich jedoch, dass manche Gebote der Klinikbürokratie eine Ignorierung nicht nur vertragen, sondern ihrer sogar bedürfen. Deshalb öffnete ich nach kurzem Anklopfen die Tür, um den dahinter liegenden Raum zwecks Anmeldung zu betreten.

      Es blieb bei dem Versuch, denn eine hochkorpulente Frau hinter dem hüfthohen Tresen empfing mich mit derart nachhaltigem Widerstand, dass ich den Rückzug antreten musste, verfolgt von lautstark vorgetragenen Formulierungen, die eine proletarische Herkunft der fülligen Dame nahe legten. Während ich verdattert die Tür schloss, flammte sogar das gläserne „Bitte warten“-Schild per elektrischer Hintergrundbeleuchtung auf, die Wächterin des Anmeldebezirks feuerte also sozusagen aus allen Rohren.

      Manche der zahlreichen Wartenden, denen ich mich nun wieder zuwenden musste, konnten ein schadenfreudiges Lächeln nicht ganz unterdrücken und bedeuteten mir durch körpersprachliche Signale, dass sie mich für einen hielten, der sich vorzudrängeln versuchte und dafür seine gerechte Strafe erhalten hatte.

      Noch war ich mir kaum einer Schuld bewusst, und bevor sich das eventuell änderte, beschloss ich, den Stier bei den Hörnern zu packen, und mimte den Überraschten: „Muss man denn hier auch auf das Anmelden warten? Das gibt’s aber sonst nicht!“

      „Ja, so ist das“, gab mir ein älterer, rotgesichtiger Herr Bescheid und fügte mit leisem Vorwurf hinzu: „Ich bin jetzt der Nächste, und dann kommt vor Ihnen noch diese Dame!“ Damit wies er auf eine schwarz gekleidete Frau zu seiner Linken, die bestätigend nickte.

      Eine glatte Niederlage für mich also, aber ich war noch nicht soweit, ihr eine bedingungslose Kapitulation folgen zu lassen, deshalb wandte ich mich von Neuem an die Runde: „Dann gibt es hier also zweierlei Wartende – die, die auf die Anmeldung warten, und diejenigen, die bereits angemeldet sind und auf die Behandlung warten?“

      Zögernd wurde mir das bestätigt, ganz so, als ob manche der Anwesenden sich dies bisher selbst noch nicht so ganz klar gemacht hätten. Ich spürte, dass das Eis zu schmelzen begann, und nutzte die etwas entspanntere Atmosphäre,