Katharina Georgi-Hellriegel

L(i)eber Bruder


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ich, dass wenigstens bei Euch alles in Ordnung ist.

      Eilige Grüße von Deiner Katharina

      

       Zu diesem Zeitpunkt, also Mitte August 2001, hat Reinhard schon mehr als zwei Monate in verschiedenen Krankenhäusern verbracht und dort immer wieder auf die heiß ersehnte Entlassung warten müssen, die ihm aber jeweils nur für kurze Zeit die Freiheit und den gewünschten Aufenthalt zu Hause erlaubte. Im Augenblick wartet er wieder einmal im Krankenhaus, diesmal auf den Zeitpunkt der Operation, die in greifbare Nähe gerückt ist und ihm endlich die Rettung bringen soll.

       Warten ist besonders für Reinhard und vor allem in der jetzigen Situation eine schwere Übung, der er nur wenig Positives abgewinnen kann, aber manchmal siegt doch sein Humor über den Ärger und die Sorge!

      DAS WARTEN

      Es gibt zweifellos gewaltige und vielfältige Unterschiede zwischen den Ländern und Kulturkreisen dieser Erde, aber es gibt auch Dinge, über die weitgehend Einigkeit besteht. So gilt das Warten wohl überall auf der Welt als eine der zeitraubendsten Beschäftigungen, die es gibt. Ebenfalls kulturübergreifend scheint die Tatsache zu sein, dass das Kranksein bzw. das Gesundwerden fast immer beträchtliche Zeit in Anspruch nimmt, und so ist es nicht verwunderlich, dass Arztpraxen und Krankenhäuser diejenigen Orte sind, an denen pro Person und Quadratkilometer am häufigsten und am längsten gewartet wird.

      Diese Zusammenhänge waren mir zwar im Wesentlichen schon zu Beginn meiner Krankheit bekannt, es hat mich dann aber doch überrascht, dass auf dem Gebiet des Wartens auch kleinere, eher schlicht ausgerüstete Heilanstalten in der südhessischen Provinz Erstaunliches zu leisten vermögen. Ich denke da besonders an das Kreiskrankenhaus, welches ich zum Auftakt meiner Patientenkarriere für etwa drei Wochen besuchte – eine Zeit, die mir damals lang vorkam, heute in der Rückschau jedoch war sie nicht mehr als eine kleine Vorbereitung auf viele großartige und eindrucksvolle Warte-Erlebnisse, die mir noch bevorstehen sollten.

      Immerhin erwiesen sich die drei Wochen im Krankenhaus als lang genug, um vergeblich auf eine zu meiner Krankheit passenden Diagnose zu warten. Einig waren sich die Ärzte am Ende dieses Zeitraums lediglich darüber, dass ich von einer schweren Leberzirrhose gekennzeichnet sei, die – auch das war weitgehend abgeklärt worden – dringend der Behandlung bedürfe. Darüber, wie eine solche Behandlung aussehen könnte, gingen die Meinungen schon deshalb auseinander, weil es keine Meinungen gab – wenigstens keine, die irgendwelche therapeutischen Konsequenzen für mich gehabt hätten.

      Allerdings, dies sei der Gerechtigkeit halber angefügt, diagnostizierte man einige Schäden, die die schlecht funktionierende Leber in meinem Körper bereits angerichtet hatte, und man reparierte sie sogar, soweit dies möglich war. Die schwere Zirrhose hatte die Leber, die ja im Wesentlichen ein Blutfilter ist, nahezu undurchlässig gemacht, was zwei fatale Folgen hatte: Zum einen reicherte sich mein Blut zunehmend mit Gift- und Abfallstoffen an, zum anderen suchte sich das sonst die Leber frei durchströmende Blut andere Wege, wobei diese dann wesentlich intensiver als sonst beansprucht wurden. Dies hatte bereits im Magen- und Speiseröhrenbereich stattgefunden. Unter dem Druck des umgeleiteten Blutes hatten sich dort Krampfadern (Mediziner sprechen von Varizen) gebildet, die in G. im Verlauf mehrerer Magenspiegelungen zunächst festgestellt und anschließend verödet worden waren. Dies war fachgerecht und gründlich geschehen, so dass auch Monate später keine Nachbesserungen notwendig wurden. Vor allem aber blieb mir durch diese Eingriffe Folgendes erspart:

      Nicht selten nämlich platzen solche Krampfadern in der Speiseröhre und lösen starke innere Blutungen aus, die dann dem Leberkranken die Möglichkeit eines raschen Todes eröffnen. Im Vergleich zu der Alternative, als zeitraubender Pflegefall zu enden, hat das zwar Vorteile, aber für den, der noch eine Weile leben möchte, stellt die Verödung dieser Krampfadern zumindest vorübergehend einen wertvollen Zeitgewinn dar.

      Das Hauptproblem allerdings blieb am Ende meines ersten Krankenhausaufenthaltes so ungeklärt wie zuvor. Alle beteiligten Ärzte waren sich sicher, dass sie nicht wussten, welcher Auslösekrankheit ich meine Leberzirrhose zu verdanken hatte. Nachdem keinerlei Hepatitisviren festgestellt worden waren und ich auf wiederholte Fragen nach meiner Neigung zum Alkohol hartnäckig mit „Nein“ geantwortet hatte, einigte man sich schließlich auf diese Nicht-Diagnose. All dies hatte zwar einiges an Zeit erfordert, während der ich immer wieder Gelegenheit zu ausgiebigem Warten gehabt hatte, aber schließlich waren doch alle Hinhalte- und Vertröstungsmöglichkeiten erschöpft und ich wurde entlassen.

      „Auf nach Hause“ hieß also nach 22 Tagen am 20. Juni 2001 die Devise, und so kam es, dass ich den Abend meines 52. Geburtstages bereits außerhalb der Klinikmauern erleben konnte. Es wurde eine ruhige Feier, da ich zu dieser Zeit fast immer müde und schlapp, also alles andere als gesund war. Das blieb auch so während der kommenden zwei bis drei Wochen, die ich deshalb zum größten Teil verdöste, verschlief oder eben auch verwartete. Zwar wusste ich nicht genau, worauf ich zu Hause wartete, aber dass es nicht um meine baldige und endgültige Genesung ging, das war mir klar, wenigstens soweit erinnere ich mich noch.

      Darüber hinausgehende Gedanken schleppten sich damals nur zögernd durch mein Hirn, denn dieses befand sich wegen der ungenügend arbeitenden Leber in einem deutlich beeinträchtigten Zustand. Das einzig Angenehme an dieser Situation war, dass ich als Besitzer eines derart getrübten Bewusstseins meine eingeschränkte Leistungs- und Leidensfähigkeit damals kaum zur Kenntnis nahm.

      So konnte es mich ein wenig später auch nicht grundsätzlich erschüttern, als ich anlässlich eines akuten Leberkomas zwar nicht gänzlich bewusstlos, aber noch weniger bei Trost als sonst in die Universitätsklinik Mainz eingeliefert wurde. Dort sollte ich während der kommenden Monate genug Gelegenheit bekommen, neue und wertvolle Erfahrungen auf dem Gebiet des Wartens zu machen; schließlich befand ich mich hier, auch wenn ich es damals noch nicht ahnte, in einer Hochburg europäischer Wartekultur und damit an einem Ort, an dem eigentlich nur der Geduldige auf Dauer existieren kann.

      Unglücklicherweise bin ich nicht besonders geduldig, aber dass ich dort mit dem Überleben während der nächsten Monate meine liebe Not hatte, war natürlich nicht so sehr darauf zurückzuführen, sondern zunächst einmal auf die erneute Ratlosigkeit der Ärzteschaft, was meine Krankheit anging.

      Die Mainzer Mediziner allerdings näherten sich dem Mangel an Erkenntnis eher wissenschaftlich – schließlich befand ich mich ja in einer Universitätsklinik. Es gab also von Neuem tatkräftige Versuche, eine Diagnose zu erstellen, und wenn auch das Ergebnis dem vorhergehenden im Kreiskrankenhaus am Ende in nichts nachstand, so benötigte man doch für mannigfaltige Untersuchungen wiederum viel Zeit, die von mir vor allem mit Warten ausgefüllt wurde. Manchmal aber sorgte das Klinikpersonal für kleine Auflockerungen in diesem langwierigen Prozess.

      So konnte es zum Beispiel geschehen, dass ich nach schwierig verbrachter Nacht in eher trüber Stimmung die erste Mahlzeit des Tages erwartete. Zu diesem Zweck beobachtete ich vom Krankenbett aus mit einiger Schärfe die über der Tür angebrachte Uhr, übrigens eine gute Methode, wenn es darum geht, die Zeit des Wartens besonders lang werden zu lassen. Plötzlich gab es eine Unterbrechung – eine halbe Stunde vor der Frühstückszeit betrat eine morgenfrische Krankenschwester mein Zimmer und rief mir fröhlich zu: „Herr Georgi, Sie wissen ja, heute gibt’s kein Frühstück wegen der Magenspiegelung!“

      Natürlich lag mir sogleich die Frage „Welche Magenspiegelung?“ auf der Zunge, aber ich begnügte mich mit einer zustimmenden Kopfbewegung, weil ich mittlerweile gelernt hatte, dass Lücken im Kurzzeitgedächtnis von Leberkranken an der Tagesordnung sind. Allerdings hatte ich manchmal den Verdacht, dass man sich dies in meiner Umgebung zunutze machte, indem man locker und wider besseres Wissen behauptete, man habe mir dies oder jenes doch erst kürzlich deutlich gesagt, und jetzt wüsste ich mal wieder nichts mehr.

      In diesem Fall aber hätte mir ein Hinweis darauf gar nichts genutzt, weil es ja schließlich keinen Grund zur Veranlassung gab. Ich brauchte, nachdem die Schwester wieder gegangen war, einfach nur weiter zu warten, lediglich das Ziel meines Strebens hatte