Katharina Georgi-Hellriegel

L(i)eber Bruder


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ausgetrickst, indem sie gegenüber dem obigen Arzt behauptet hat, bereits einen Termin für die Lebersprechstunde in Mainz erhalten zu haben – der wundert sich zwar, denn eigentlich ist dort kaum ein Termin zu kriegen, aber er schreibt eine Überweisung aus. Und in Mainz sagt sie, sie habe bereits die Überweisung vom Facharzt – und bekommt prompt einen Termin.

      Mittwoch, 27. Juni 2001

      Reinhard fährt mit Gabriela zur Lebersprechstunde nach Mainz, und sie kommen mit einem Termin für den 13. Juli zur stationären Aufnahme auf der NSK9 wieder raus. Hoffentlich finden sie dort endlich die Ursache für all die seltsamen Beschwerden und Vorkommnisse.

      Montag, 9. Juli 2001

      Brief von Dr. H. nach Übergabe der uns zur Verfügung stehenden Blutwerte Reinhards:

      Sehr geehrte Frau Georgi-Hellriegel,

      anbei einige Anmerkungen zu den Unterlagen bezüglich der Erkrankung Ihres Bruders, die Sie mir übersandt haben: Endgültige Schlüsse lassen sich allerdings nicht daraus ziehen. Insgesamt zeigen die Werte, dass die Leberfunktion beeinträchtigt ist. Das erhöhte Volumen (MCV) der roten Blutkörperchen ist ein Merkmal einer Reifungsstörung, der erniedrigte Gerinnungswert deutet ebenfalls in die selbe Richtung und auch der einmalig erhöhte und dann nicht wieder bestimmte Ammoniakwert zeigt, dass die Syntheseleistungen gestört sind. Den Gallenstau repräsentiert der erhöhte Bilirubinwert und die erhöhten Werte für Serum-Transaminasen (Enzyme, die in der Leber lokalisiert sind) sind Merkmale der Schädigung der Leberzellen. Die Tatsache, dass es hier vom 30.5. bis zum 6.6. zu einem deutlichen Rückgang gekommen ist, deutet auf eine Verbesserung der Situation auf Grund der Abnahme des Staus hin. Auf Grund der Gabe von entwässernden Medikamenten, die offensichtlich fortgeführt wird, ist die Leber insgesamt entlastet worden. Die feingewebliche Untersuchung der Leber deckt sich insgesamt mit den Laborwerten. Allerdings kann man aus den mir vorliegenden Befunden nicht endgültig auf eine Ursache der Lebererkrankung schließen. Telefonisch haben Sie mir gegenüber ja auf einige weitere Werte hingewiesen, so unter anderem auf Anti-HCV, Anti-HAV (an Hepatitis-B-Marker kann ich mich nicht erinnern). Ich denke, dass man hier ja noch weiter suchen wird.

      Für heute Grüße aus Wuppertal

      Professor Dr. Dr. F. H.

      Dienstag, 10. Juli 2001

      Als Gabriela vom Einkaufen zurückkehrt, findet sie Reinhard verwirrt und desorientiert und mit Sprechschwierigkeiten vor. Der von ihr benachrichtigte Notarzt schreibt sofort eine Einweisung für die Klinik. Dort wird eine Darmreinigung per Klistier vorgenommen, da wegen schlechten Stuhlgangs zu viele Gifte im Körper zurückbleiben, die für die erneute Störung des Gehirns verantwortlich sind.

      Dank des Internets, das heutzutage viele Nachforschungen erleichtert, habe ich mich bereits vor Tagen schlau gemacht über die Leber, entsprechende Störungen, Leberzirrhose und deren Folgen bzw. Behandlungsmöglichkeiten. Es ist erstaunlich, welche wichtigen Aufgaben die Leber in unserem Körper leistet, aber leider ist ein Ausfall bzw. eine Beeinträchtigung dieses Organs dann auch sehr dramatisch und einschneidend.

      Meine Freundin Angela, mit der ich am Abend über unsere Sorgen spreche, erzählt mir von einer Fernsehsendung über eine Leberlebendspende, die vor Kurzem gelaufen ist – leider habe ich sie verpasst. Aber über die Internetadresse, die sie mir gibt, erfahre ich Hochinteressantes:

      Die erste Leberlebendspende bei einem Kind wurde 1989 in Australien vorgenommen, bei einem Erwachsenen 1994 in Japan. 1991 wurde in Hamburg die erste Leberlebendspende bei einem Kind in Europa durchgeführt und bis heute wurde 102 Kindern ein Leberteil lebender Spender, d.h. ihrer Eltern transplantiert. Jedoch ist die Leberlebendspende zwischen Erwachsenen offenbar ein relativ neuer Zweig der Transplantationschirurgie, zumindest bei uns in Deutschland, der erst an wenigen deutschen Kliniken durchgeführt wird, wodurch aber für den Empfänger die durchschnittliche Wartezeit von einem Jahr bei einem Spenderorgan auf herkömmlichem Weg verringert werden kann. Anfang dieses Jahres wurden in Hamburg erstmals Leberlebendtransplantationen zwischen Erwachsenen vorgenommen, und in beiden Fällen verliefen die Operationen für Empfänger wie Spender komplikationslos. Das Tolle an dieser Geschichte ist – und nur deshalb ist es überhaupt möglich – dass die Leber offenbar das einzige Organ im menschlichen Körper ist, das sich innerhalb weniger Wochen wieder vollständig regenerieren, also zu seiner ursprünglichen Größe heranwachsen kann. Transplantiert, d.h. vom Spender zum Empfänger übertragen wird dabei der rechte Leberlappen, da er den größeren Teil der Leber ausmacht und man so individuell den Anteil bestimmen kann, der je nach Größe und Gewicht des Empfängers variiert. Das Risiko für den Spender beträgt ungefähr 0,4 %, und als Spender kommen nur Personen in Frage, die erwachsen sind, keine ernsthaften Erkrankungen hatten und über eine gesunde Leber verfügen. Auch die genetische und emotionale Verwandtschaft ist offenbar sehr wichtig und natürlich die Freiwilligkeit der Spende, d.h. niemand darf den Spender unter Druck setzen, sondern er muss sich unabhängig und frei für diese Spende entscheiden. Wichtig für eine erfolgreiche Transplantation sind weiterhin:

       Blutgruppenverträglichkeit,

       ausgewogenes Größenverhältnis zwischen rechtem und linkem Leberlappen,

       psychologische, morphologische und anatomische Eignung.

      In einer anderen Publikation finde ich den Hinweis, dass „trotz ausgiebiger vorbereitender Untersuchungen die Lebendspende ein hohes Risiko für den Spender“ bedeutet – offensichtlich sind sich die Ärzte und Verantwortlichen noch nicht so recht einig darüber, denn die oben genannten 0,4 % finde ich nun nicht so rasend hoch.

      In der Schweiz hat eine Frau ihrem Mann durch eine Leberlebendspende geholfen, und die Operation verlief trotz einer speziellen Komplikation erfolgreich. Obwohl sowohl Spenderin wie Empfänger bereits über 50 Jahre alt sind, geht es beiden gut.

      Ich verbringe den Abend vor dem PC, staune über die heutigen medizinischen Möglichkeiten, drucke vieles aus, markiere das Wichtigste und schicke es Reinhard. Irgendwie tröstet es mich ein wenig, dass es noch eine Hilfsmöglichkeit gibt, wenn alle Stricke reißen und es zum Allerschlimmsten kommen sollte.

      Donnerstag, 12. Juli 2001

      Reinhard wird aus dem Krankenhaus entlassen – wir alle hoffen, dass dies die letzte Bewusstseinsstörung war, denn die Auswirkungen sind katastrophal. Aber morgen muss er sowieso in die Uniklinik Mainz, und dort sollten die Ärzte endlich die Ursache für das ganze Übel herausfinden!

      Freitag, 13. Juli bis Samstag, 28. Juli 2001

      Stationärer Aufenthalt Reinhards in der Uniklinik Mainz. Der Befund Leberzirrhose wird erhärtet. Die Ärzte untersuchen Reinhard noch einmal gründlich und kümmern sich um das Bauchwasser, das noch immer – wenn auch nicht mehr in den vorherigen Mengen – vorhanden ist. Doch nun scheint die Lage unter Kontrolle zu sein, die Leberwerte sind stabil und gut und es scheint besser zu gehen. Außerdem kontrollieren sie die in G. vorgenommene Verödung der Varizen, was offensichtlich gut geklappt hat.

      Bei der Entlassung bekommt Reinhard Kortisontabletten, die er nehmen soll, um die diagnostizierte Autoimmunerkrankung in den Griff zu bekommen. Keine schöne Therapie, aber wenn sie hilft... Außerdem muss er sehr streng Diät halten und darf praktisch nichts mehr essen, was ihm schmeckt. Auch das eigenhändige Autofahren ist verboten – was keiner von uns versteht, denn er ist stabil und eine Bewusstseinsstörung ist zum Glück nicht mehr aufgetreten. Natürlich ist Reinhard von all den Ereignissen, die seit fast zwei Monaten ihn und die ganze Familie beunruhigen und auf Trab halten, ziemlich geschwächt. Er hat noch einmal Gewicht verloren und wiegt jetzt nur mehr 72 kg. Doch seine Willenskraft ist ungebrochen, und er ist wild entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Im Krankenhaus hat er täglich per Treppentraining – sein Krankenbett steht im 9. Stock! – seine Muskeln trainiert, und er ist stolz, dass er das trotz der belastenden Vorfälle schafft. Man bezeichnet ihn im Krankenhaus auch als „halbkrank“, was uns Hoffnung gibt, denn wenn die Ärzte das alles als nicht so dramatisch einschätzen, sollten auch wir uns keine zu großen Sorgen machen. Trotzdem sitzt das ungute Gefühl über die rasche Entwicklung tief in mir, doch ich will daran glauben, dass Reinhard bald wieder auf dem Damm ist!

      Montag,