Katharina Georgi-Hellriegel

L(i)eber Bruder


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würde, bis ich endlich wieder in die Freiheit entlassen wurde. Noch weniger konnte ich natürlich wissen, dass ich dann mit einer neuen Leber ausgerüstet in ein neues Leben würde starten können.

      

      Samstag, 26. Mai 2001

      Reinhard hat uns seit Weihnachten nicht mehr besucht, und so spreche ich ihn bei unserem heutigen Telefonat darauf an. Allerdings hat er gerade ganz andere Sorgen, denn er ist bei einer nächtlichen Fahrradtour gestürzt und offensichtlich überall grün und blau. Auch sein rechter Arm ist sehr in Mitleidenschaft gezogen, und ich empfehle ihm dringend, am Montag einen Arzt aufzusuchen, denn falls tatsächlich etwas gebrochen ist, helfen Hausmittelchen nicht. Seltsam ist allerdings, was Reinhard mir sonst noch erzählt: Obwohl er sich beim Essen sehr zurückhält und viel Sport treibt (deswegen auch der Radausflug in der Dunkelheit), nimmt er zu und hat einen aufgeblähten dicken Bauch. Sehr merkwürdig, mir fällt dazu keine plausible Erklärung ein, aber der Arzt sollte sich das auch mal ansehen.

      Mittwoch, 30. Mai 2001

      Meine Schwägerin Gabriela ruft an, um mir mitzuteilen, dass Reinhard heute ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Nicht etwa wegen seiner Sturzverletzungen, sondern wegen des Wassers im Bauch. Damit kann ich nun gar nichts anfangen, weil ich noch nie davon gehört habe, aber das Ganze klingt sehr ernst, denn offensichtlich funktioniert die Leber nicht so, wie sie eigentlich sollte. Diagnose: Leberzirrhose. Meine Schwägerin hört sich auch sehr besorgt an und fragt, ob ich nicht kommen kann, denn Reinhard ist ziemlich deprimiert. Ich verspreche meinen Besuch für das nächste Wochenende.

      Pfingstsonntag, 3. Juni 2001

      Am Nachmittag fahre ich mit dem Zug gen Norden und bin um 18.00 Uhr bei Reinhard im Krankenhaus. Ich habe ihn seit Weihnachten nicht mehr gesehen und erschrecke über seine Veränderung, denn abgesehen von dem dicken Bauch wirkt er viel dünner, obwohl er noch 88 kg wiegt, und die blauen und violetten Flecken vom Fahrradsturz ziehen sich über den rechten Arm und die gesamte rechte Körperseite. Die Leberprobleme haben sich verschärft, und nun wollen die Ärzte meinen Bruder durch die große medizinische Untersuchungsmangel drehen. Neben zahlreichen Blutentnahmen hat er bereits eine harmlose Ultraschalluntersuchung und eine weitaus belastendere, da ohne Betäubung vorgenommene Magenspiegelung hinter sich. Für die kommende Woche steht ihm auch noch einiges bevor, was sehr unangenehm klingt, aber dann wissen wir hoffentlich, was es mit diesem ominösen Wasser im Bauch auf sich hat. Er bekommt Entwässerungstabletten, damit die ca. 6-8 Liter Bauchwasser als Urin auf schonende Art und Weise ausgeschieden werden, denn vorher sind keine weiteren gründlichen Untersuchungen möglich.

      Außerdem wurden in seiner Speiseröhre Varizen festgestellt, offensichtlich so eine Art Krampfadern, die bei Nichtbehandlung jederzeit platzen können und somit hochgefährlich sind, weil der Patient in einem solchen Fall schnell verblutet. Aber auch diese kann man erst abbinden und somit veröden, wenn das Wasser im Bauch zumindest reduziert wurde.

      Reinhard, der bis auf seinen großen Autounfall vor 25 Jahren eigentlich immer der Gesündeste von uns drei Geschwistern war, kann sich mit der Krankenhaussituation nur schlecht abfinden, sieht aber ein, dass es besser ist herauszufinden, was dahinter steckt, denn so kann es auf keinen Fall weitergehen.

      Ich versuche, Frohsinn zu verbreiten, aber angesichts seines Äußeren fällt es mir schwer. Die restliche Zeit meines ausgiebigen Besuches unterhalten wir uns über andere Dinge, denn im Augenblick ist es am wichtigsten, ihn aufzuheitern und dazu zu bewegen, im Krankenhaus auszuhalten, bis die endgültige Ursache sowie die Diagnose feststehen. Leider zeigt er deutliche Fluchttendenzen, weil auch die Aussagen der Ärzte nicht eindeutig sind. Es ist von einer Autoimmunerkrankung die Rede, aber das ist bisher wohl mehr ein Verdacht, weil die Ärzte ansonsten keinerlei Anhaltspunkte haben.

      Ich übernachte bei Gabriela, und wir unterhalten uns bis 2 Uhr morgens über die dramatische Entwicklung von Reinhards Gesundheitszustand, die auch meiner Schwägerin Angst macht. Ich versuche sie zu beruhigen, aber mir muss ich eingestehen, dass mir das Ganze überhaupt nicht gefällt und ich mir große Sorgen mache.

      Pfingstmontag, 4. Juni 2001

      Den Vormittag verbringe ich wieder bei Reinhard. Der Disc-Player, den ich ihm gestern mitgebracht habe, hat ihm nachts schon gute Dienste geleistet und ihn etwas ablenken können.

      Auf der Rückfahrt überlege ich mir, Dr. H. anzurufen. Er ist Spezialist auf dem Gebiet von Hepatitis und Lebererkrankungen und ich hatte vor kurzem zufällig seine Bekanntschaft gemacht. Vielleicht kann er uns raten, was zu tun ist. Das Kreiskrankenhaus, in dem Reinhard liegt, erscheint mir trotz des neuen und tadellosen äußeren Zustands nicht das Richtige, wenn es über die üblichen und landläufigen Erkrankungen hinausgeht. Reinhard braucht einen Fachmann, der nicht nur blind im Nebel stochert, sondern weiß, was er tut und wo er ansetzen muss.

      Dienstag, 5. Juni 2001

      Dr. H. kann auf Grund der Blutwerte (Gabriela hat mich mit allen möglichen diesbezüglichen Unterlagen bestens ausgerüstet) und der Tatsachen, die ich ihm schildere, keine eindeutige und schlüssige Diagnose stellen, meint aber, es wäre sicher besser, wenn mein Bruder nach Mainz in die Uniklinik ginge, denn dort arbeiten anerkannte Leberspezialisten, die sich auskennen und sicher die Ursache der Erkrankung herausfinden werden. Auf jeden Fall handelt es sich wohl um eine ernsthafte Sache, denn ohne Grund bekommt man nicht Aszites, wie Bauchwasser medizinisch heißt.

      Reinhard nimmt meine Informationen zur Kenntnis, strebt aber momentan nur eine Entlassung aus dem Krankenhaus an und will mit den gewonnenen Untersuchungserkenntnissen lieber zu einem niedergelassenen Spezialisten gehen, um das Ganze ambulant weiter abzuklären.

      Freitag, 15. Juni 2001

      Telefonat mit Reinhard. Inzwischen hat er weitere unangenehme Untersuchungen und Behandlungen hinter sich, so z.B. die Leberpunktion und die Varizenabbindung im Rahmen einer erneuten Magenspiegelung. Mir wird ganz schlecht, wenn ich an die geschilderten Prozeduren auch nur denke, und ich würde Reinhard so gerne helfen, weiß aber nicht, wie. Noch immer tappen die Ärzte im Kreiskrankenhaus im Dunkeln und haben keine Erklärung für diese dramatische Entwicklung!

      Sonntag, 17. Juni 2001

      Besuch von Conrad, mit dem ich natürlich auch wieder vor allem über die plötzliche Erkrankung unseres Bruders spreche. Während eines gemeinsamen Telefonanrufs bei Reinhard erzählt der davon, dass die Varizenabbindung vorgestern stattfinden soll, korrigiert sich dann auf übermorgen, aber natürlich meint er, dass sie bereits stattgefunden hat. Ich bin sehr beunruhigt über diese offensichtliche Verschlechterung seines Befindens nach einer so genannten Bewusstseinsstörung, die dazu führte, dass er nicht mehr richtig schreiben kann und offensichtlich auch Wortfindungsprobleme hat. Mit Conrad, der nach mir mit ihm spricht, verläuft die Unterhaltung etwas besser und ohne größere Ausfälle, aber auch er hält Reinhards Zustand für sehr ernst.

      Beim anschließenden Gespräch mit Dr. H., den ich in meiner Verstörtheit trotz Wochenende anrufe, erfahre ich, dass Ammoniak, das bei Aszites freigesetzt wird, das Gehirn vergiftet und deshalb Aussetzer wie gerade bei Reinhard ganz normal sind. Aber Dr. H. macht mir Hoffnung, dass diese Bewusstseinsstörungen nach erfolgreicher Behandlung wieder vergehen und nichts zurückbleibt. Da er so gelassen bleibt, werde auch ich wieder etwas ruhiger.

      Mittwoch, 20. Juni 2001

      Reinhards 52. Geburtstag. Sein schönstes Geschenk ist wohl, dass er heute aus dem Krankenhaus entlassen wird. Wir alle hoffen natürlich, dass das Schlimmste hinter ihm liegt, aber irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl und glaube nicht, dass dies schon alles gewesen ist.

      Montag, 25. Juni 2001

      Reinhard ist sehr schwach und müde, liegt viel im Bett, darf kein Salz und keine Milchprodukte zu sich nehmen und nur wenig trinken. Er hat sehr abgenommen und wiegt nur noch 75 kg (bei einer Größe von immerhin 1,83 m), und doch werten wir dies als positive Nachricht, denn es bedeutet, dass das Bauchwasser besiegt ist. Fast täglich erfolgen Kontrollen beim Gastroenterologen, doch ich habe den Eindruck, dass nur wenig vorangeht. Das ist auf jeden Fall kein Zustand, der lange andauern kann,