Christian Urech

Misericordia City Blues


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      Die beiden hatten sich erst hier in der Klinik kennen gelernt, waren aber trotz ihrer äusserlichen und charakterlichen Unterschiedlichkeit schon bald unzertrennlich geworden. Stundenlang hatte man sie die Köpfe zusammenstecken und Don Quichotte leise, aber eindringlich auf Sancho Pansa einreden sehen, während dieser eifrig mit dem Kopf nickte zu den Erläuterungen seines gross gewachsenen, dürren Kumpels.

      Nachdem sie durch endlos lange Gänge gehuscht waren, zwei Kindergespenster, bange horchend auf verdächtige

      Geräusche, aber ohne aufgehalten zu werden, standen sie jetzt vor dem Gebäude in der lauen Luft der

      schönbesternten Sommernacht. ¿Adónde vamos ahora? fragte Sancho Pansa, der die Entscheidungen immer anderen, die es besser wussten, zum Beispiel seinem langen Kameraden, überliess. Don Quichotte überlegte

      eine Weile und sagte dann bestimmt: Zum Schwimmbad!

      Sancho daraufhin irritiert: ¿Ma porqué? Das Schwimmbad ist doch geschlossen um diese Zeit. Aber Don Quichotte liess diesen Einwand nicht gelten: Als Toboser könne man jederzeit an jeden beliebigen Ort gehen, also auch ins Schwimmbad, selbst wenn dieses geschlossen sei. Umso besser, wenn es geschlossen sei. Denn, so führte er aus, im Schwimmbad seien sie vor der Verfolgung des Feindes sicher. Ausserdem würde es ihnen da bestimmt gelingen, morgen, wenn die ersten Badenden kämen, einige passende Kleidungsstücke zu erbeuten. In diesen Fetzen könne er sich jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit zeigen, geschweige denn auf ein Pferd oder gar einen Lufthund setzen. Nicht einmal Unterhosen habe er an.

      Natürlich sei es für einen Toboser irrelevant, ob er Unterhosen trage oder nicht, aber er wolle sich ja nicht so leicht zu erkennen geben. Tarnung, lieber Sancho, Tarnung ist das erste Gebot, wenn man mit geheimer

      Mission im Feindesland unterwegs ist, schärfte der Ritter seinem Knappen ein.

      Ausserdem habe er einfach Lust auf ein erfrischendes Bad.

      Das alles erschien Sancho einerseits nicht so recht plausibel, das heisst, er verstand es nicht ganz, zudem

      konnte er nicht schwimmen und war überhaupt wasserscheu; andererseits wusste er, dass sein Verstand zu beschränkt war, um so komplexe Materien wie die Angelegenheiten Don Quichottes zu durchdringen, und er

      war immerhin so gescheit, seine eigene Beschränktheit zu erkennen und anzuerkennen.

      Das öffentliche Schwimmbad der Gemeinde, zu welcher die Anstalt gehörte, befand sich auf der anderen Seite des Waldes, der die Klinik von der Ortschaft trennte. Also machten sie sich mit ihren blossen Füssen auf, diesen

      Wald zu durchqueren: Don Quichotte fluchend, wenn er auf einen spitzen Stein getreten war oder sich die Zehen

      angeschlagen hatte, Sancho Pansa alle Heiligen des Himmels anrufend, weil er sich in der Dunkelheit ein

      wenig fürchtete und das Anrufen von Heiligen ja nie schaden kann.

      Nach einer Zeit, die ihnen schier endlos erscheinen wollte, weil sie sich natürlich verlaufen hatten, langten sie endlich beim Schwimmbad an, das von einem knapp mannshohen Drahtgitter umzäumt war. Don Quichotte nahm dieses Hindernis im Sturm und landete auf der anderen Seite des Zauns zwar auf der Nase, doch fiel er des Rasens wegen relativ weich. Sancho Pansa jammerte und stöhnte, er werde es nie schaffen, über diesen Zaun zu kommen; eine Selbsteinschätzung, die sich schliesslich nur darum als Irrtum erweis, weil der Glaube, und erst recht der Glaube eines Don Quichotte, Berge versetzen kann.

      Inzwischen dämmerte schon der Morgen herauf, die Luft war jetzt empfindlich kühl. Der arme Sancho, obwohl der weitaus besser gepolsterte, aber auch der weitaus empfindlichere von beiden, begann zu frösteln. Ausserdem

      war er müde und sehnte sich nach einem Bett. Don Quichotte hingegen beschwor wortreich die Atmosphäre

      Tobosos und die Tiefen des Alls, im heiligen Wasser gespiegelt, vor welchen sowohl Mensch als auch Toboser

      nackt erscheinen würden. Und tatsächlich, da stand der würdige Ritter auch schon gänzlich entblösst auf dem

      gepflegten Schwimmbadrasen zwischen Zierschilf und Bambusgestrüpp, machte einige Freiübungen nach gut

      müllerscher oder nach Art von Turnvater Jahn, kreiste mit den Armen, atmete tief durch, nahm einen Anlauf und

      tauchte kopfvoran ins heilignüchterne Element. Sancho schaute mit bekümmerter Miene zu, wie der edle Herr

      seine Runden schwamm. Er zog heissen Kaffee einem kalten Bad bei weitem vor.

      Etwas später hörten sie, wie ein Auto vor dem Schwimmbad anhielt. Wir müssen uns verstecken, rief Don Quichotte, der Feind naht! Es nahte aber bloss der Bademeister, der seine Runde machte, gestern liegen gebliebenes Eiscrèmepapier vom Rasen hob, die chemische Zusammensetzung des Badewassers kontrollierte, bevor er das Bad fürs Publikum, das aber erst vom späten Vormittag an zahlreicher herbeiströmen würde, öffnete.

      Als erste Besucher kamen wie immer die pensionierten Kummers, er lang und dünn, sie klein und mollig, um in

      Ruhe zu schwimmen. Am Nachmittag, wenn jeweils die heutige Jugend, die ja bekanntermassen ungezogen, frech und verdorben ist, das Bad in Beschlag nahm, wurde das ganz unmöglich.

      So früh am Morgen war es noch nicht einmal nötig, die Kleider in Kästchen einzuschliessen. Und für Rohköstler

      wie die Kummers war der frühe Morgen einfach eine herrliche Tageszeit.

      Mit angehaltenem Atem standen Don Quichotte und Sancho Pansa hinter dem Vorhang der Männergarderobe,

      der für die schamvolleren der Badegäste angebracht war, während Herr Kummer sich seiner Kleider entledigte. Als er endlich in den Badehosen war und sich vor dem Schwimmen im Spiegel ausführlich gekämmt hatte (warum das sein musste, wusste nur Herr Kummer selbst, und der Ritter tippte sich mit einer bezeichnenden Geste an die Stirn), dauerte es keine Minute, bis Don Quichotte in den Kleidern von Herrn Kummer, die ihm nicht schlecht passten, vor seinem dicken Freund und Knappen stand. Und ich? fragte dieser und hatte schon fast wieder ein Weinen in der Stimme.

      Du holst dir die Kleider von Madame, aber mach, dass dich niemand sieht, befahl Don Quichotte.

      Was soll ich damit?

      Sie anziehen, Calabazo, was denn sonst?

      Aber ich bin doch keine Frau! empörte sich da Sancho, der als Südländer trotz seines eher hasenfüssigen Wesens

      eine gesunde Portion Machismo im Blut hatte.

      Das merkt doch niemand, jedenfalls nicht von weitem. Hast du ihren prachtvollen Sonnenhut gesehen? Den

      ziehst du dir ins Gesicht. Wenn sie meinen, du seist eine Frau, dann ist das doch die beste Tarnung! Niemand wird uns in dieser Verkleidung als Don Quichotte und Sancho Pansa respektive als Toboser erkennen. So überlistet man den Feind!

      Das leuchtete sogar Sancho Pansa ein wenig ein, und er tat, wie ihm geheissen. Das Ehepaar Kummer schwamm

      indessen und hatte das ganze Schwimmbecken für sich. Der Bademeister sass in seinem Bademeisterkabäuschen,

      trank Kaffee, ass ein Hörnchen und las in der Morgenzeitung, was in der weiten Welt an Verrücktheiten wieder so alles passiert war. Nur die Frau des Bademeisters, die die Eintrittsbillete verkaufte, wunderte sich, als sie das

      Ehepaar so bald wieder das Bad verlassen sah; und auch ein wenig über die stark mit grauen Haaren bewachsenen Unterschenkel Herr Kummers, die ihr bisher noch gar nicht aufgefallen waren.

      Zwei

      Don Quichotte war bis vor noch gar nicht allzu langer Zeit ein grosser Anhänger von Science-Fiction-Filmen gewesen. Tag und Nacht hatte er vor dem Bildschirm verbracht und sich eine DVD nach der anderen ins Hirn

      hineingestopft, bis die Bilder schier aus seinen Ohren, aus seiner Nase und seinem Mund quellen wollten und sein Hirn beinahe trockengelegt