Charlie Meyer

Mörderische Schifffahrt


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mit der Visitenkarte vor der Nase herum. »Ist das seine?«

      Sie nickte unter seinem scharfen Blick.

      »Webdesigner hört sich nicht eben nach Entmündigung an. Und wenn du sagst, du kannst das nicht, frage ich mich ernsthaft, was du dann in einer Detektei zu suchen hast. Meine Einstellungsbedingungen waren hoffentlich klar. Du erledigst die Sekretariatsarbeit, und wenn Zeit bleibt, übernimmst du nach Anleitung die leichten Fälle. Eine Vollzeitsekretärin kann sich die Detektei nicht leisten, nur damit das klar ist. Okay?«

      Mellie biss sich auf die Unterlippe und nickte schniefend.

      »Sieh’s mal so«, meinte Alice. »Du folgst ein paar Tage lang einem Verrückten und seinen Geistern, und dann kannst du ihm mit Fug und Recht bescheinigen, dass ihm außer dir nicht eine Socke gefolgt ist. Damit heilst du ihn von seinem Verfolgungswahn, und wir sind um einen Tausender reicher. Alles klar?«

      Mellie schniefte noch immer.

      »Das wäre also geklärt. Erledigen wir noch den Papierkram, dann könnt ihr meinetwegen für heute Feierabend machen.« Fred rollte auf seinem Schreibtischstuhl rückwärts zum Aktenschrank und schob die Hängeordner hin und her.

      »Danke, großer Bwana, aber könnten wir vielleicht noch einmal auf den Rattenfänger zurückkommen? Ich meine, die verstümmelte Leiche, die ich aus der Weser gezogen habe? Hallo! Jemand im Raum, der Interesse an verstümmelten Rattenfänger-Leichen hat? Poch! Poch!« Sie klopfte sich mit dem Fingerknöchel gegen den Kopf und verzog schmerzhaft das Gesicht. Die Rettungssanitäter hatten eine kurze schmale Schneise in ihre lodernde Lockenpracht schneiden müssen. Aus Wundhygienegründen und damit das Pflaster hielt. Es war eine Art einseitige Geheimratsecke geworden.

      »Du beharrst also auf dem Märchen. Du bist nicht einfach nur mit dem Auto gegen den Pfosten des Carports gebumst und hast dir den Kopf angeschlagen? Hör zu, Großcousine Alice, ich musste mir die letzten Stunden vor Gericht schon die horrendesten Märchen anhören, also zwing mich nicht, lauter zu werden, um der Farce ein Ende zu setzen.« Fred schüttete den Kaffee in den großen Topf des Ficus. »Bah, was für ein Gift war das denn?«

      »Tut mir leid, ich bin noch in der Einarbeitungsphase«, murmelte Mellie und zog ein letztes Mal die Nase hoch. Dann nahm sie allen Mut zusammen, schnappte sich den Telefonhörer von Alices Schreibtisch und wählte eine Nummer.

      »Hallo, hier ist Melanie von Rhoden. Ich hätte gern Frau Struckmeier gesprochen. Was? Oh, ja danke, ich warte. Tourist-Information«, wisperte sie in Freds Richtung, der sie mit gerunzelter Stirn anstarrte. Er verzog das Gesicht. »Hallo Heide! Melanie hier. Was? Melanie von Rhoden. Mellie. Ja, genau, die Mellie, die in der Grundschule hinter dir saß. Du, sag mal, ich weiß, es gibt so wahnsinnig viel zu erzählen, weil wir uns so wahnsinnig lange nicht gesehen haben und wir müssen uns unbedingt demnächst mal treffen und über die alten Zeiten quatschen. Was? Nein, mir geht’s gut, nur eine kleine Erkältung. Schnupfen. – Was? Na ja, ich weiß von deiner Mutter, wo du arbeitest. Oder von deiner Schwester? Ist auch egal, im Augenblick habe ich nur eine Frage an dich: Habt ihr von der Stadt eigentlich noch alle eure Rattenfänger beisammen?«

      Die anderen beiden starrten sie fassungslos an, doch diesmal ließ sich Mellie nicht beirren. »Warum ich frage? Oh, meine Kollegen und ich hier haben gerade gewettet, wie viele es zurzeit sind, und der Verlierer muss uns andere zum Essen einladen. Ich meine, so richtig schick ins Restaurant. Also, ich bin ja der Meinung, es sind vier Rattenfänger, aber Alice sagt, es seien momentan nur drei, weil sie das Gerücht gehört hat, einer der Rattenfänger sei plötzlich verschwunden. Fred stimmt für fünf. Wie viele arbeiten denn nun tatsächlich für euch? Ich meine, genau heute, in diesem Moment.« In den nächsten Minuten lauschte sie gebannt in den Hörer und stieß nur ab und an mitfühlende oder empörte Ach!’s aus, die alles bedeuten konnten.

      Alice rutschte nervös auf der Schreibtischplatte herum, und auch Fred stand mit einem Mal die Spannung in den Augen geschrieben. Als Melanie auflegte, hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit von allen beiden. Zum zweiten Mal an diesem Tag. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.

      »Also – Samstagabend war ein für die Saison eingestellter Aushilfsrattenfänger für das Frühlingsfest der Banker gebucht worden. Die Feier fand auf einem gecharterten Schiff statt, einem Fahrgastschiff einer der hiesigen Reedereien. Und jetzt kommt’s: Dieser Rattenfänger wurde das letzte Mal gegen halb elf gesehen, als er an der Theke des Schiffes stand und ein Glas Sekt trank. Plötzlich war er dann weg, nur seine Klarinette lag noch auf dem Tresen. So gegen elf. Gebucht war er bis eins. Es kam wohl die eine oder andere Nachfrage, aber so richtig kümmerte sich niemand um den Verbleib des armen Kerls. Um halb eins legte das Schiff in Hameln wieder an, und die Feier ging noch bis etwa drei Uhr weiter. Ohne Rattenfänger. Als endlich alle von Bord waren, fiel einer der Servicekräfte auf, dass zwar die Klarinette vom Tresen verschwunden war, aber in der Kabine unter Deck, die der Rattenfänger zum Umziehen benutzt hatte, noch seine zivilen Klamotten lagen. Was allerdings nicht weiter verwunderlich war, weil der Schiffsführer zu Beginn des Abends die Kabine abgeschlossen hatte. Der Rattenfänger hätte sich also gar nicht umziehen können, bis derselbe Schiffsführer die Kabine gegen drei Uhr morgens wieder aufschloss. Heute Morgen dann erschien er nicht zur Arbeit. Der Rattenfänger, nicht der Schiffsführer. Was sagt ihr jetzt?«

      Fred starrte sie wortlos an und schüttelte dann den Kopf mit einer Vehemenz, als wolle er etwas besonders Lästiges herausschütteln. »Das ist unglaublich!«

      Alice grinste von einem Ohr zum anderen. »Glaubt’s ruhig, ich habe den armen Kerl eigenhändig aus dem Wasser gezogen.«

      »Das meine ich doch gar nicht. Es ist einfach unglaublich, dass es in Hameln mehrere Rattenfänger gibt. Drei oder vier oder was weiß ich wie viele. O mein Gott, wenn ich bedenke, wie oft ich als Kind diesem Rattenfänger – mit Ehrfurcht bitte schön - nachgeblickt habe, und jetzt muss ich erfahren, dass es höchstwahrscheinlich gar nicht ein und derselbe Rattenfänger gewesen ist, sondern nur einer von vielen. Das ist ... das ist ein Sakrileg. Es hat damals nur einen Kerl gegeben, der Hameln von den Ratten befreit hat, und man kann doch wohl erwarten, dass dieser eine Kerl auch nur von einem Kerl repräsentiert wird. Bei uns läuft schließlich kein James-Bond-Film ab, bei dem Sean Connery von Bruce Sowieso und Bruce Sowieso von Bond Nr. 3 abgelöst wird. Und selbst wenn, wenn sie sich abgelöst hätten, diese Rattenfänger, weil einer eben in die Jahre gekommen oder krank geworden wär, ich sag euch, selbst das wäre noch okay gewesen. Aber drei oder vier Rattenfänger auf einmal, dass ist, als wenn ... als wenn es drei Weihnachtsmänner auf einmal gäbe oder ...« Fred fuchtelte mit hochrotem Kopf in der Luft herum. »... oder vier Jesusse. Ein Sakrileg, jawohl. Reiner Kommerz. O du heilige Scheiße, wie tief ist Hameln gesunken.« Er ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und hörte nicht mehr auf den Kopf zu schütteln. »Man identifiziert sich doch mit diesem einen Rattenfänger, man fühlt und leidet mit ihm, und wenn er dann die Kinder wegführt, denkt man: Seht ihr, ihr blöden Stadtoberen, das habt ihr jetzt davon. Wie kann sich die heutige Jugend mit jemandem identifizieren, der nichts anderes ist als ein Gestaltwandler? Den einen Tag groß und dünn, den nächsten klein und fett. Du meine Güte, wo wird das alles noch enden!« Er nahm seine Brille mit dem schwarzen, eckigen Gestell ab und begann, noch immer kopfschüttelnd, umständlich die Gläser zu putzen.

      Es war still geworden im Büro. Hinter dem Bogendurchgang mit den Halbsäulen tickte unablässig die Standuhr, und jenseits der geschlossenen Tür zum Privattrakt von Fred und seinem Lebensgefährten hörte man das Kratzen von irgendwas auf Holz.

      Hamlet schärft die Krallen, dachte Mellie und schauderte.

      Zum ersten Mal, seit sie Alice kannte, hatte es auch der Kollegin die Sprache verschlagen.

      5

      Hajo Claus trat aus dem Haus, nichts als gespannte Erwartung im Blick. Dabei sah er sich auf der Türschwelle so auffällig um, dass nur noch sein Rufen fehlte: Hallo, kleine Detektivin, wo versteckst du dich denn?

      Mellie, die seit zehn Minuten zusammengekauert unter dem Balkon der Hochparterrewohnung des gegenüberliegenden Hauses hockte, hinter einem ausladenden Busch, zuckte