Charlie Meyer

Mörderische Schifffahrt


Скачать книгу

stämmiger und von manchmal geradezu provozierender Fröhlichkeit, konnte er von eben auf jetzt explodieren. Dann schien er sich plötzlich an seine Zeit hinter den stacheldrahtbewehrten Mauern der Tündern’schen Jugendanstalt zu erinnern, und seine Fäuste ballten sich von ganz allein. Dann mutierte Axel innerhalb von Augenblicken zu einer Kampfmaschine aus Fäusten und Füßen, und wer nicht schnell genug zur Seite sprang, landete im Krankenhaus. Fred Roderich hatte es einmal erlebt, nachts auf der alten Weserbrücke, als drei angetrunkene Skins ihnen den Weg versperrten und sie herumzuschubsen begannen.

      Zwei der Skins lagen nach weniger als fünf Minuten blutend am Boden, der dritte suchte sein Heil in der Flucht, obgleich alle drei Axel um gut einen Kopf und Fred immerhin noch um einen halben Kopf überragten. Fred kam gerade mal dazu, sein Zittern in den Griff zu bekommen und notgedrungen die Fäuste zum Kampf zu ballen, da war der Spuk schon vorbei. Es war erschreckend gewesen, unheimlich, und ihre Beziehung hatte den ersten Knacks bekommen. Er mochte Axel, keine Frage, er mochte ihn sogar sehr, aber hundert Prozent wohl fühlte er sich in seiner Nähe nicht mehr. Was, wenn sich die Wut des Freundes eines schönen Tages gegen ihn richtete? Zum Beispiel nachts, wenn er allzu lebhaft träumte? Oder nachts, wenn er Axel mit einem Anruf weckte.

      Er steckte sein Handy wieder in die Jackentasche und blickte sich zur Rückbank um. Hamlet war verschwunden, und Fred konnte sich gerade noch zurückhalten, mit bloßer Hand hinter den Sitzen nach dem Perserkater zu tasten. Auch, wenn sie vielleicht nicht modelverdächtig waren, hing er an seinen Fingern, und Hamlet war ein Tier mit absonderlichem Appetit.

      Eines hatte das Auftauchen des Katers jedenfalls bewirkt. Sein Adrenalin war bis unter das Schädeldach geschossen, etwa so, als ob zehn Wecker auf einmal geschrillt hätten. Fred war hellwach. Er sah auf seine Uhr: halb vier. Noch zweieinhalb Stunden. Gegen sechs wurde es hell, dann sollte er besser verschwunden sein. Er führte wieder das Fernglas, ein teures Nachtsichtgerät, an die Augen und spähte in die Finsternis der Gärten. Trotz des Regens konnte er den Taubenschlag erkennen, das Ausflugloch und die Reihen schlafender Tauben auf den Stangen. Rechts und links blieb alles ruhig. Der Schatten, den er vor Kurzem noch in einem der Gärten zu sehen geglaubt hatte, war verschwunden. Wahrscheinlich nur die Halluzination eines übermüdeten Geistes.

      Einen Augenblick war ihm, als striche etwas Weiches um seine Beine und er erstarrte zum zweiten Mal. Wie konnte es eigentlich geschehen, dass er über Stunden mit diesem Viech zusammen in einem Kleinwagen hockte, ohne dessen Anwesenheit überhaupt zu bemerken? Dass Hamlet ins Auto gelangt war, wunderte ihn weniger. Er gelangte überall hinein, egal ob in den Brennofen der Töpferei oder in die Waschmaschine im Hauswirtschaftsraum. Eines Morgens, als der Postbote am amerikanischen Briefkasten neben dem Grundstückstor der Detektei das Fähnchen hochgeklappt hatte und Fred die Post holen ging, war ihm der Kater aus dem Briefkasten direkt ins Gesicht gesprungen. Es gab da noch als Krallensignatur die kleine weiße Narbe über seiner Augenbraue.

      Es gab noch etwas, was ihn beschäftigte. Diese Rattenfängergeschichte. Ihm persönlich graute es davor, eine Wasserleiche mit zerfetzten Armen aus der Weser ziehen zu müssen, andererseits hätte er dieses Erlebnis natürlich, wenn er der Wasserleichenberger gewesen wäre, längst hinter sich. Es war einfach so, dass er Alice den Ruhm nicht gönnte. Er war ein Mann, er war der Chef, die Leiche hätte von Rechts wegen ihm zugestanden. Er wäre natürlich nicht umgekippt, soviel stand fest. Mit dem Übergeben war er sich nicht ganz so sicher. Sein Magen gehörte nicht eben zu den kräftigsten Mägen.

      Wie Alice besaß auch er eine Pistole, eine Magnum, wie die Kerle in den amerikanischen Filmen, und wie Alice hatte er auf der Schießbahn am Schliekersbrunnen, unten im Wald bei den Forellenteichen, ein Schießtraining absolviert. Er traf die Scheiben nicht unbedingt in der Mitte, aber er traf sie immerhin und das reichte ihm. Allerdings trug er die Pistole nicht ständig am Körper spazieren, warum auch? Normalerweise hatte er es in seinem Job mit fremd gehenden Ehepartnern oder Tauben hassenden Nachbarn zu tun, die er nicht zu erschießen brauchte, weil sie ihn nicht erschießen wollten. Außerdem gab es da noch die Furcht, sich einen Fuß oder etwas noch Entsetzlicheres abzuschießen.

      Im Augenblick lag seine Waffe im Handschuhfach, allerdings nicht in dem des Saab, sondern im Zweisitzer. Seit dem Artikel in der Zeitung über die beiden Straßenpiraten, die eine Frau in einem Mercedes der S-Klasse auf offener Landstraße zwischen Hameln und Rohrsen stoppten und bis aufs Hemd ausraubten, fühlte er sich in seinem nachtblauen Triumph Spitfire verletzlich. Er spielte mit dem Gedanken, sich einen Sticker für die Windschutzscheibe drucken zu lassen: Dieses Auto ist nur geleast, und ich bin arm wie eine Kirchenmaus. Was nicht ganz stimmte, aber annähernd. Axel und er lebten zwar nicht über ihre Verhältnisse, aber sie schöpften sie bis zum letzten Cent aus. Eigentlich schöpften sie seine, Freds, Verhältnisse aus, Axel arbeitete nicht gern. Ein Freund von ihnen war im letzten Jahr mit dreiunddreißig Jahren an Aids gestorben, seitdem sah Fred keinen Sinn mehr darin, sein Geld auf die Bank zu tragen. Von der Hälfte seines Ersparten hatte er sich noch am Tag der Beerdigung den Zweisitzer gekauft.

      Er war schließlich schon neununddreißig, und seit Jonathans Tod schien ihm manchmal, als lebte er von geborgter Zeit. Obgleich er mit wechselnden Partnern geschlafen hatte, hatte er sich nie zu einem Aidstest aufraffen können. Er praktizierte Safer Sex – meistens zumindest – und die meisten seiner Freunde hatten irgendwie treu ausgesehen.

      Fred Roderich nahm das Fernglas wieder von den Augen und hielt sich die Armbanduhr dicht unter die Nase. Viertel vor drei. Himmel, diese Nacht wollte und wollte nicht enden. Er schraubte die Thermoskanne auf und schüttete Kaffee in seinen Becher. Lauwarm, igitt. Er musste sich unbedingt eine vernünftige Thermoskanne zulegen. Eine, die auch warmhielt.

      Der Regen schien ein wenig nachlassen zu wollen, ihm war, als pladdere er nur noch mit halber Kraft aufs Autodach. Seit Stunden schon lagen alle drei Häuser in völliger Finsternis vor ihm. Musste von den Bewohnern eigentlich nie jemand auf Klo? Oder wenn doch, sparten sie an Strom und tasteten sich im Dunkeln die Treppen hinunter? Fred seufzte und schnappte sich die Taschenlampe. Zeit für sein eigenes Pipigehen. Seit er dabei kopfüber in einen Graben gestürzt war, nahm er nachts die Taschenlampe mit.

      Er zwängte sich vorsichtig aus der Autotür. Ganz kurz nur ließ er die Taschenlampe aufleuchten, doch da stand er schon fluchend bis zu den Knöcheln im Wasser. Der Regen hatte die Traktorspuren in Rinnsale verwandelt. Fred dachte an die Gummistiefel im Kofferraum und fluchte ein wenig lauter. Der Regen prasselte ihm auf den Kopf, und noch bevor er den Reißverschluss seiner Jeans wieder hochziehen konnte, klebten ihm seine sorgsam eingegelten Igelstacheln platt an den Ohren. Von wegen der Regen schien nachlassen zu wollen.

      Er rettete sich ins Auto zurück und überlegte, wie viele gut bezahlte Jobs es auf der Welt gab, bei denen man nachts in einem warmen und trockenen Bett schlief. In diesem Moment sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Ein Busch im Garten des Taubenzüchters bewegte sich, geradeso, als krabbele jemand oder etwas auf allen vieren mitten durch ihn hindurch. Fred riss das Fernglas an die Augen. Nichts. Nur die Zweige wackelten noch ein wenig hin und her, dann kam der Busch zur Ruhe. Vielleicht ein früher Vogel, der im Laub unter den Zweigen nach Würmern kratzte. Jedenfalls kein schräger Vogel, der es auf den Taubenschlag abgesehen hatte. Wie hieß das Sprichwort noch gleich? Richtig: Der frühe Vogel fängt den Wurm.

      Fred Roderich setzte das Nachtsichtgerät ab und verdrehte die Augen. Was für eine Nacht! Was für eine beschissene, langweilige, nicht enden wollende Nacht!

      In dieser Sekunde brach die Hölle los.

      Der Taubenschlag explodierte, während Fred ungläubig das Fernglas wieder vor die Augen riss. Nein, dachte er perplex. Nicht der Taubenschlag, die Tauben in ihm explodierten. Was er durch die Luft wirbeln sah, waren Federn. Jede Menge Federn, und an einigen von ihnen hingen offenbar noch Tauben. Und was war das in der Mitte dieser Explosion? Ein Fuchs? Ein Hund? O mein Gott, nein, weder Fuchs noch Hund. Eine Katze! Eine Katze, die aufrecht inmitten der Voliere auf den Hinterbeinen stand und mit wirbelnden Pfoten Vögel aus der Luft angelte.

      Eine Katze?

      »Hamlet?«, flüsterte Fred mit großen Augen, bevor er das Fernglas fallen ließ und im Auto hektisch nach dem Kater zu suchen begann. »Zeig dich, du Mistvieh! Auf der Stelle kommst du hierher.« Der Strahl der Taschenlampe fuhr panisch