Charlie Meyer

Mörderische Schifffahrt


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schien ihr plötzlich sehr fließend. Schwammig geradezu. »Ich dachte, ich hätte bei der Binnenschifffahrt angeheuert und nicht für einen Törn auf hoher See.« Himmeldonnerwetter noch mal, dachte sie gleich darauf wütend und biss sich auf die Unterlippe. Ständig musst du die Leute verbessern. Schaffst du es denn nicht ein einziges Mal, den Mund zu halten?

      Okko Jansen lachte, und es klang tatsächlich so amüsiert, dass ihm Alice einen misstrauischen Blick zuwarf. Lachte er über ihren Witz oder machte er sich über sie lustig?

      Die drei Bürodamen in seinem Rücken tauschten verstohlene Blicke. Eine war groß und dürr mit kastanienbraunem Bubikopf, die Zweite klein und dürr mit hellbrauner Dauerwelle, und Nummer drei, die Büroleiterin, mittelgroß und dürr, mit pechschwarz gefärbten Haaren und sorgsam gezupften Augenbrauen. Alle drei waren so dünn, dass es den Anschein erweckte, ihr Gehalt reiche nicht aus, sich satt zu essen. Drei unterschiedlich lange Striche in der Bürolandschaft.

      »Wann dürfen wir mit Ihrem Arbeitsantritt rechnen, Alice?«, fragte Okko Jansen und sprach Alice wie Älice aus. »Ich hoffe doch, morgen schon? Wenn Sie einen Moment Zeit haben, gehen wir zwei beide eben mal auf einen Latte ins Café und besprechen Ihren Arbeitseinsatz, ja? Vielleicht lasse ich mich sogar erweichen, Ihnen zehn Cent mehr pro Stunde auszuzahlen, wo Sie doch eine Gelernte sind.«

      »Ach wissen Sie, ich lebe nach der Devise. Geld beruhigt, macht aber nicht glücklich«, log Alice, ohne mit der Wimper zu zucken. »Solange es für eine Kante trockenen Brotes und ein Glas Leitungswasser reicht, bin ich vollauf beruhigt und hülle mich gern in Lumpen.« Sie lächelte und zupfte an ihrer schneeweißen teuren Bluse herum, die ihre rauchgrauen Augen perfekt zum Leuchten brachte. Zum Vorstellungstermin trug sie das kleine Kostüm, einen cremefarbenen Leinenrock, der eine Handbreit über dem Knie endete, und die dazugehörige cremefarbene, taillierte Schößchenjacke. Ihre langen sonnenbankbraunen Beine steckten in weißen Pumps. Sie wusste, wie gut sie aussah, und sie wusste auch, das ihm kein Detail ihrer Erscheinung entging. Sie sah ihn sogar den Teil seines Körpers einziehen, den er für seinen Bauch hielt. »Sie stimmen mir doch sicherlich zu?«

      Einen Moment lang starrte er sie sprachlos an, dann brach er in ein schallendes Gelächter aus.

      Die vier Frauen zuckten zusammen.

      10

      »Hatte er Feinde?«, fragte Fred Roderich und sah die junge Frau über den Konferenztisch hinweg bedeutungsvoll an. Mit einem Ausdruck in den Augen, den er als vertrauenserweckend einstufte.

      Patrizia Müller zuckte ein wenig zurück und schniefte. Sie war groß, stämmig und ihre braunen Haare hingen ihr glatt und strähnig bis auf die Schultern. Ihre Augen waren rot und dick verschwollen, und ihre Nase lief. Alles in allem kein schöner Anblick, doch Fred tat sein Bestes, Dickie Blumes verwitweter Freundin einen Hauch von Professionalität zu vermitteln. »Feinde? Nein, warum?«

      »Nun ja, Ihr Freund ist ermordet worden, und da fragen wir uns natürlich aus welchem Grund. Und einer der Gründe, warum Leute ermordet werden, ist, dass sie sich durch Gott-weiß-was Feinde gemacht haben. Es gibt noch andere Gründe wie zum Beispiel Habsucht, eine Familien-Vendetta, Eifersucht und ... Was summen Sie da?«, unterbrach sich Fred irritiert.

      »Ach Gott, verlass mich nicht.« Patrizia Müller unterbrach ihr Summen.

      »Es hilft, in schweren Zeiten gläubig zu sein, nicht?«, meldete sich Melanie von Rhoden zu Wort und umklammerte durch den Flausch ihres Rollkragenpullovers das große Kreuz zwischen den Brüsten. »Es gibt einem Trost und ist eine mentale Stütze.«

      Patrizia Müller starrte sie mit ihren whiskyfarbenen Augen emotionslos an. »Finden Sie? Also eigentlich bin ich überzeugte Agnostikerin.«

      »Warum summen Sie dann ein Kirchenlied?« Mellie war die Empörung anzuhören. »Als Agnostikerin Kirchenlieder zu summen, ist in meinen Augen Blasphemie.«

      »Melanie!« Fred warf ihr über seine rutschende Brille hinweg einen scharfen Blick zu.

      »Nein, lassen Sie sie nur, sie hat ja vollkommen recht. Es ist im Grunde Blasphemie, wenn man es bewusst tut. Zumindest Gedankenlosigkeit. Bei mir allerdings ist es Erziehung, und so sehr ich mich auch bemühe, es hat sich dermaßen in mir festgesetzt, dass ich es einfach nicht ausrotten kann. Es reagiert, nicht ich, verstehen Sie?«

      Beide starrten sie verständnislos an.

      »Nein ich sehe schon, Sie verstehen nichts. Können Sie auch nicht. Okay, also ich komme vom Land. Aus dem Eichsfeld, genauer gesagt. Dem katholischen Eichsfeld oder noch präziser, aus dem erzkatholischen Eichsfeld. Mein Vater war Priester und meine Mutter dermaßen gläubig, dass sie die Hälfte ihres Lebens Verbände um die Knie trug. Einmal musste sie zum Arzt, weil sie ihre Finger nicht mehr auseinander bekam.« Patrizia lachte freudlos und strich sich die glatten braunen Haare hinter die Ohren. »Ist Ihnen schon mal aufgefallen, wie oft man Ach du lieber Gott oder Gott weiß warum oder Herr im Himmel sagt, einfach nur als Redewendung, ohne tieferen Sinn und Verstand? Wir waren acht Kinder, vier Mädchen und vier Jungs, und die erste Maßregel, die uns eingebläut wurde, hieß: Du sollst den Namen des Herrn nicht unnötig in den Mund nehmen. Sinngemäß jedenfalls. Tat das eins von uns Geschwistern, musste es sich mit dem Gesicht in die Ecke stellen und Ach Gott, verlass mich nicht singen. Alle neun Strophen. Und da bei acht Kindern eigentlich immer einer den Namen des Herrn missbrauchte, nach Meinung meiner Mutter jedenfalls, die bei der Auslegung äußerst enge Grenzen zog, stand ständig einer von uns in der Ecke und sang Ach Gott, verlass mich nicht. Für mich ist es ein Ding der Unmöglichkeit, die Melodie wieder aus dem Kopf zu kriegen. Es ist ein Reflex wie bei den Pawlov’schen Hunden: Jemand sagt Gott, aus welchem Grund auch immer, und ich fange an zu summen.«

      »Ach du lieber ... Entschuldigung.« Fred konnte sich gerade noch bremsen. Wortloses Gesumme war für ihn das, was für andere Popcornessen im Kino war. Nur schwer erträglich, er wusste selbst nicht warum, aber wenn er das Gesumme durch eine sorgfältigere Wortwahl unterbinden konnte, würde er dies ganz einfach tun. Es war sein Kopf, der die Sätze zusammenstellte, seine Stimmbänder, die sie in Ton setzten und seine Lippen, die sie aussprachen. Also alles unter Kontrolle.

      »Okay«, sagte er forsch. Ihm gefiel Patrizias direkte Art, vor allem der offene Blick ihrer Augen. Ein wohltuender Gegensatz zu Mellie, die ihre Pupillen ständig in Bewegung hielt, um ja nicht einen von ihnen anblicken zu müssen. Duckmäuserart. Brüll sie an und sie brechen heulend auf deinen Füßen zusammen. Patrizia Müller würde zurückbrüllen, genauso wie Alice, und auch, wenn er seine Großcousine ansonsten nicht ausstehen konnte, dieser Charakterzug gefiel ihm an ihr.

      »Also hatte er keine Feinde«, nahm er den Faden wieder auf.

      »Er war der Rattenfänger«, konterte die Klientin.

      »Er war nicht der Rattenfänger, sondern ein Rattenfänger. Einer von mehreren. Ich weiß nicht, wie sich die Rattenfänger-Kandidaten bei der Stadt beworben haben, aber wenn es eine Art Assessment-Center, also eine Auswahl aus, sagen wir mal, zwanzig Kandidaten gegeben hat, vielleicht sogar über zwei oder drei Tage mit Rollenspielen und so einem Quatsch, könnte er sich durchaus Feinde unter den anderen Aspiranten gemacht haben.« Mellies Stimme klang kühl, rein geschäftsmäßig. Einer Agnostikerin gegenüberzusitzen, gefiel ihr nicht besonders, zumal sie die abwertenden Blicke bemerkte, mit der diese Agnostikerin sie musterte. Nur nannte sie neben ihrem Glauben auch noch einen analytischen Verstand ihr eigen, und der sagte ihr klipp und klar: Keine Feinde zu haben, ist nicht das logische Resultat von der Rattenfänger zu sein. »Vielleicht«, fuhr sie fort, »hat er sich auch durch seine Art bei den etablierten Rattenfängern Feinde gemacht. Hatte er ein übersteigertes Ego, war er arrogant, schwärzte er seine Kollegen in der Chefetage an?«

      »Also, das ist doch ...«, Patrizia Müller gingen die Worte aus.

      »Melanie!«

      »Entschuldige mal, Chef, aber diese Fragen müssen in jeder Morduntersuchung zwingend geklärt werden. Sie dürfen keinesfalls als Tabuthema gelten. Herr ... äh ... der Aushilfsrattenfänger ist nicht einfach so gestorben,