Charlie Meyer

Mörderische Schifffahrt


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die Füße gegen die Treppenstufen stemmte, während Inga auf sie einredete.

      »Komm schon, Lina, die Neue taugt nichts, du musst mit dem Ordermen rumgehen.«

      Alice öffnete den Mund zum Protest – und schloss ihn wieder. Zwei Meter weiter, jenseits der Fenster, pflanzte sich ein erwartungsvolles Zucken durch die Menschenmauer. Alice schauerte zusammen. Wie hatte sie sich nur dermaßen überschätzen können? Sie kannte die Preise nicht, konnte weder mit dem Ordermen noch mit der Computerkasse umgehen, hatte nie im Leben ein Bier gezapft oder irgendjemanden bedient. Jedenfalls keinen zahlenden Gast, höchstens Crispin, wenn sie ihm das Champagnerglas ans Bett brachte. Sie war auf diesem Schiff so fehl am Platz wie Inga in einem 5-Sterne-Restaurant. Oder Eddie in einer Luxussuite. Oder ...

      »Ich hab’ frei.« Lina schob angriffslustig ihr Kinn vor, und Alice schluckte verzweifelt gegen ihre Panik an.

      »Du bist auf dem Schiff, oder nicht?«

      »Ja, aber doch nur, um den Jungs und dir hallo zu sagen«, protestierte Lina. Sie war etwa einen Meter fünfzig klein und schmal wie ein Kind. Lila gefärbte Haare standen ihr in Stacheln vom Kopf ab. Sie trug einen schwarzen Overall mit kurzen Ärmeln und einen breiten lilafarbenen Lochgürtel.

      »Wer frei hat und trotzdem aufs Schiff geht, tut es auf eigenes Risiko«, behauptete Inga ungerührt und zerrte das Mädchen hinter die Theke. »Hör auf rumzulamentieren und schnapp dir den Ordermen. Du nimmst die Bestellungen auf, die Neue bringt die Tabletts raus und kassiert ab. Wir wollen beten, dass sie wenigstens das zustande bringt.«

      »Ich will aber nicht.« Ein kleiner Fuß in lila Clogs stampfte auf den Boden.

      Ich auch nicht, dachte Alice und fühlte sich wie gelähmt.

      »Du willst aber weiterhin auf der Libelle arbeiten, oder etwa nicht?«

      Schmale, ein wenig schräge Augen starrten Inga in stummer Fassungslosigkeit an und eine kleine, sommersprossige Nase zuckte empört. Zehn lange Sekunden später polterte Lina hinter die Theke und beugte sich über ein schwarzes Teil mit Display, das neben der Computerkasse lag.

      Das also, dachte Alice, muss ein Ordermen sein. Ein kleiner Handcomputer zum Aufnehmen der Bestellungen. Das Supergenie Mellie würde ihn mit Sicherheit sofort und ohne Übung bedienen können, aber sie, sie war ja nur Alice, die Blöde, die gleich den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurde.

      »Ich werd’ nie wieder ein Wort mit dir reden«, maulte Lina.

      »Damit kann ich leben«, konterte Inga und atmete erleichtert auf. Dem blöden Büro würde sie demnächst ein paar Takte erzählen. Wenn diese Tussie jemals als Kellnerin gearbeitet hatte, ließ sie sich freiwillig kielholen. Hofbräuhaus! Was für ein Schmarren!

      Chris, der Wikinger, tauchte im Krebsgang mit den Getränken aus dem Untergrund auf, eine volle Kiste in jeder Hand, eine volle Kiste unter jeden Arm geklemmt. Er schnaufte nicht einmal. Seine Schulterstücke - vier Streifen ohne Stern – ließen seinen Brustkorb noch breiter wirken. Sein weißes Hemd allerdings hatte durch die Getränkekisten Knitterfalten bekommen. Er knallte die Kisten hinter der Theke auf den Boden und Inga begann einzuräumen. Alice versuchte zu helfen, doch egal, welche Getränkeschublade sie aufzog, es war immer die falsche. Schließlich drängte Inga sie kurzerhand mit der Schulter zur Seite und zischte ihr ein genervtes Lass es einfach zu. Nie zuvor hatte sich Alice gedemütigter gefühlt. Nie zuvor war sie Heulsuse Mellie näher gewesen.

      »Hast du einen Gürtel?«, fragte Lina lustlos, und reichte ihr, als Alice nickte, ohne vor Wut und Frust ein einziges Wort über die Lippen zu bekommen, ein schwarzes Lederetui mit Schlaufe. Eine Kellnertasche. Unter Ingas spöttischem und Linas genervtem Blick kämpfte sie eine Weile mit ihrem Gürtel und der Schlaufe an der Kellnertasche. Erst nach dem dritten Versuch hing die Öffnung der Kellnertasche außen, sodass sie das dicke, schwarze Portemonnaie hineinschieben konnte, das ihr Inga auf die Theke knallte, bevor sie sich kopfschüttelnd abwandte.

      Im nächsten Moment öffneten sich die Höllenschlunde und die Armee der Vergnügungssüchtigen brach in den Hades ein. Die Libelle erbebte unter dem schweren Fußgetrappel über die dunklen Schiffsbohlen der Tanzfläche, als die Vordersten, von hinten bedrängt, tatsächlich zu rennen begannen. Die Jagd um die Fensterplätze war in vollem Gange. Die meisten der Fahrgäste gehörten der im Tourismus begehrten Zielgruppe der agilen Senioren an. Ihre ruppige Art, miteinander umzugehen im Kampf um die Fensterplätze ließ auf eine Reisegruppe schließen, die schon mehr als einen Tag zusammengepfercht im Bus verbracht hatte und sich untereinander nicht besonders mochte. Alice stand wie erstarrt, als die Horde an ihr vorbeidonnerte, doch genauso abrupt, wie der Spuk begonnen hatte, verpuffte er auch wieder. Plötzlich saßen alle, ohne auf dem blauen Teppichboden Tote und Verwundete zurückgelassen zu haben, und erwartungsvolles Schweigen senkte sich über das Schiff. Hundert Köpfe drehten sich Richtung Theke, zweihundert Augen starrten Alice, Lina und Inga an. Wo zum Teufel blieb die Bedienung?

      Lina mit den lila Haaren schlurfte lustlos mit dem Ordermen los, steigerte ihr Tempo jedoch plötzlich und klapperte schließlich die gesamte Backbordseite in eher unziemlicher Eile ab, offenbar bemüht, die aufgezwungene Arbeit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Ihre Miene sagte drei Tage Regenwetter vorher, während ihre Clogs immer wieder, dank einer leichten Nachlässigkeit beim Gehen, die man auch über den großen Zeh laufen nennen konnte, wie Kastagnetten aneinander klackten. Die Computerkasse hinter der Theke ratterte sich die Seele aus dem Plastikleib und spuckte Tisch für Tisch Bons aus, die einer am anderen hingen und sich zu einem Papierschwanz auswuchsen, der sich trotz Ingas wirbelnder Hände, bis auf den Boden ringelte. Nach einer Weile ließ Inga Schwanz Schwanz sein und begann die Bestellungen für das erste Tablett abzuarbeiten.

      Alice stand mit hängenden Armen vor der Theke. Wären nicht ihre nervös hin- und herhuschenden Pupillen gewesen, hätte man sie für eine Servicekraft in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett halten können. Ihr Verstand drängte zu helfen und brüllte ihre zuckenden Hände an. Biere zapfen, Kaffeebecher füllen, kleine rote Sonnenschirmchen in Eisbecher stecken - allein ihre Muskeln streikten. Vor Angst gelähmt, drehte sie den Gästen den Rücken zu und spürte hundert Blicke sich wie Pfeile in ihr Fleisch bohren. Warum steht diese blöde Tussie da nur rum? Weiß sie denn nicht, dass wir Durst haben? Sieht sie denn nicht, dass sich ihre Kolleginnen vor ihren Augen zu Tode ackern? Es war zum aus der Haut fahren, aber nicht einmal das brachte Alice Hupe zuwege. Sie war zum Stillstehen, Bleiben und Leiden verdonnert.

      Die Zeit, bis Inga das Tablett für den ersten Tisch bestückt hatte, verrann in Sekunden, die Stunden währten. Doch schließlich war es vollbracht, und als Alice das volle Tablett erst hilflos ansah und dann aufblickte, noch immer mit hängenden Armen, als ihre grauen Augen den großen blauen Bergseeaugen Ingas begegneten, aus denen unverhohlene Verachtung sprach, wich die Lähmung urplötzlich. Alice das Energiebündel Hupe startete im Bruchteil einer Sekunde durch.

      Sie biss die Zähne zusammen, schnappte sich das verdammte Tablett und marschierte los. Nach etwa drei Schritten stellte sie das Marschieren auf ein vorsichtiges Trippeln um, als alle Getränke gleichzeitig aus ihren Gläsern und Tassen zu schwappen drohten. Einigermaßen perplex stellte sie fest, dass eine einfache Servicekraft offenbar mit mehr Schwierigkeiten zu kämpfen hatte als gedacht.

      Am ersten Tisch saßen drei Frauen und drei Männer, alle jenseits der siebzig.

      »Hallöchen«, grüßte sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit und bemühte sich um ein entspanntes Lächeln. Getreu der Faustregel, eine gute Servicekraft sieht man, aber man hört sie nicht, antwortete ihr niemand. Nun, da sie ihre Plätze erobert und die Getränke bestellt hatten, widmeten sich die Fahrgäste interessanteren Dingen, als einer Servicekraft beizustehen, die nie im Leben ein Tablett getragen hatte. Zwei der Seniorinnen am Tisch steckten schnatternd die Köpfe zusammen, und die Dritte war mit ihrem grauen Haarschopf in den Tiefen ihrer überdimensionalen Handtasche verschwunden. Was die Männer anging, widmeten sich zwei mit Hingabe ihren bissigen Kommentaren, was Chris alles falsch machte, als er draußen auf dem Anleger erst vorn und dann hinten die Tampen von den Pollern löste, die kurzen Taue an Bord warf und das Schiff mit vollem Körpereinsatz vom Anleger drückte, bevor er in allerletzter Sekunde durch