Charlie Meyer

Mörderische Schifffahrt


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Das Herzstück war jedoch eindeutig die Computerkasse mit angeschlossenem Bondrucker, deren erschreckend kompliziert aussehende Benutzeroberfläche Alices Selbsteinschätzung als perfekte Servicekraft den ersten Dämpfer versetzte. Ein Anflug von Muffensausen, der nicht eben erträglicher wurde, als ihr einfiel, dass hier, an dieser Theke, der Rattenfänger gestanden haben musste, unmittelbar bevor er ermordet wurde. Auf dieser Theke hatte die Klarinette gelegen. Hinter dieser Theke stand nun sie und löste eine Verpflichtung gegenüber dem Toten ein: seinen Mörder zu finden. Okay, eigentlich gegenüber der Freundin des Toten. Und eigentlich war es auch weniger eine moralische Verpflichtung, als vielmehr etwas, dass sie für Geld und Ruhm tat.

      »Bist du die einzige verantwortliche Servicekraft auf der Libelle?«, fragte sie, ganz im Geiste ihrer Mission. »Oder hat jedes Schiff zwei oder drei Serviceleitungen?«

      »Wieso?«, lautete die misstrauische Gegenfrage.

      Das kann ja heiter werden, dachte Alice seufzend. Verpflichtung hin oder her, ganz plötzlich fragte sie sich, wie sie eigentlich auf die hirnrissige Idee gekommen war, sich im Büro der Schifffahrtsgesellschaft Okko Jansen als Gelernte auszugeben? Hätte nicht ein wenig Erfahrung vollkommen ausgereicht? »Ich meine, falls du die einzige Serviceleitung bist ...«, Leitung klang viel schmeichelhafter als Kraft, »... musst du in Arbeit ja förmlich ersticken. Tagsüber Rundfahrten oder was immer ihr sonst noch macht, abends die Charterfahrten, wie schaffst du das?« Kommst du beim ersten Mal in den Arsch nicht rein, du Kriecher, klopf an. Vielleicht wird dir doch noch aufgetan. Angewidert von sich selbst verzog Alice das Gesicht. Ihre Schultern ächzten schon jetzt unter der doppelten Last – zumindest zuckten sie nervös. Servicekraft ohne jegliche Erfahrung und verdeckte Ermittlerin in einem Mordfall. Ebenfalls ohne Erfahrung. Kompliziert aussehende Computerkassen und sommersprossige Eisberge musste sie in ihrer Planung glattweg übersehen haben. »Ihr arbeitet doch an sechs Tagen in der Woche, oder nicht? Wie war das am letzten Wochenende? Warst du da ebenfalls im Einsatz?« Toll, dachte sie frustriert. Der klassische Fall mit der Tür ins Haus.

      Inga schwieg, zog die Stirn kraus und überlegte angestrengt. Meinte die Neue ihre Anteilnahme ernst oder schleimte sie sich nur ein? Vorsichtshalber rang sie sich lediglich zu einem einsilbigen Stimmt! durch und presste ihre Lippen wieder aufeinander. In unregelmäßigen Abständen kam ihr der Verdacht, Gott versuche ihr dann und wann einen als Servicekraft getarnten Spion aufs Schiff zu schicken. Dank ihrer Absprache mit dieser Theatertussie im Büro, die Personalchefin spielte, war sie bisher alle kritischen Kandidaten auf elegante Art und Weise losgeworden. Wenn sie Alice ansah, befiel sie jedoch ein mulmiges Gefühl, etwa so, als wenn sie bei Nässe auf dem Freideck bediente. Die falschen Sohlen unter den Schuhen und du liegst auf der Nase. Ein unglücklicher Sturz und du stehst nicht wieder auf.

      Statt zu antworten, bückte sich Inga und spähte deprimiert durch eins der breiten, niedrigen Fenster hinter der Theke auf den Anleger. Wo kamen bloß die vielen Touristen her? Sie liebte die Schifffahrt, da konnte man jeden an Bord fragen, aber dass sie gezwungen war, diese anmaßenden Heerscharen an Bord zu lassen, wurmte sie jeden Tag aufs Neue. Alice folgte ihrem Blick und schrak zurück. Eine Welle Adrenalin schwappte über ihrem Scheitel zusammen und das Herz ging mit ihr durch. Eine undurchdringliche, zu allem entschlossene Mauer, anders ließ es sich nicht beschreiben. Vor dem schmalen Holzsteg aufs Schiff hatte sich irgendwann, während sie nicht hinsah, ein hundertköpfiger Pulk Menschen angesammelt, die alle dasselbe im Blick hatten – den Einstieg – und offenbar nur auf den Startschuss warteten. Was den Anblick noch erdrückender machte, war die hohe Kaimauer unmittelbar hinter der Menschenmenge.

      Breitbeinig auf dem Steg stand Eddie in weißem Hemd, schwarzer Hose und Schulterklappen mit vier goldenen Streifen und einem goldenen Stern und hielt mit grimmigem Gesicht den Mob in Schach.

      Schwer beeindruckt überfiel Alice die Assoziation vom ersten Tag des Winterschlussverkaufs in irgendeinem Kaufhaus. Im Geiste sah sie Eddie zur Seite springen, sah die Menschenmassen unaufhaltsam durch den Einstieg quellen auf der Suche nach ... Tja, nach was eigentlich? Gab es irgendetwas umsonst auf dem Schiff? Freibier? Sahnetorte? Ein Schnäpschen mit Eddie, dem Schiffsführer? Nicht einmal die vier Streifen und der Stern konnten seine violett-rote Säufernase und die Schnapsfahne kaschieren.

      »Gibt’s an Bord was umsonst? Die da draußen sehen so ... so gierig aus.« Alice hörte das angstvolle Beben ihrer Stimme und ärgerte sich.

      Inga grinste. »Fensterplätze«, gab sie launisch Auskunft. »Fünf Minuten noch, dann bläst Eddie zum Angriff und du ziehst besser deine Füße ein. Apropos Füße: Ich stehe hinter der Theke, du läufst. So ist es an Bord Usus. Die Verantwortliche steht, die Aushilfen laufen.« Inga wurde geschäftig, wetzte hin und her, drückte an der Kaffeemaschine den Aufheizknopf und kontrollierte die Schubfächer für Kaffee- und Milchpulver in der Spezialitätenmaschine, während Alice mit hängenden Armen im Weg stand. Etwas wie ein Eisenband zog sich über ihrer Brust zu, und etwas wie ein schmerzhaftes Loch tat sich in ihrem Magen auf, während sie ungläubig die Menschentraube vor dem Steg anstarrte.

      »Ich laufe?«, fragte sie mit wenig Hoffnung in der Stimme. »Wohin denn?« Laufen würde sie in diesem Moment zwar gern und das so weit weg wie möglich, aber dass Inga diese Art der Fortbewegung gemeint hatte, war eher unwahrscheinlich.

      »Laufen heißt, du nimmst die Bestellungen auf, bringst sie an die Tische und kassierst ab. Ich stehe hinter der Theke und bestücke deine Tabletts. Was habt ihr denn in Bayern dazu gesagt? Auffi und abbi gehen?« Inga kontrollierte eine nach dem anderen den Füllzustand der Getränkeschubladen. Dann steckte sie zwei Finger in den Mund. Der Pfiff, der kurz darauf durchs Schiff hallte, ließ Alice um ein Haar über Bord springen. Einen Moment lang hatte sie geglaubt, den Startpfiff für die Hundertschaft draußen zum Run auf die Fensterplätze zu hören. Doch es war nur Wikingersprössling Chris, der unter seinem weißblonden Schopf die Nase aus dem Niedergang steckte. »Ja, Chefin?«

      »Alkoholfreies Weizen, Cola und Malzbier, aber dalli. Und bring ein paar Flaschen Wasser mit. Abtreten.«

      »Zu Befehl Chefin.«

      Die kopfüber hängenden Biertulpen an den Gestellen über der Theke klirrten einen Moment lang lauter. Chris grinste, doch Alice fiel erneut auf, dass nur der Mund grinste und die Heiterkeit nicht seine Augen erreichte, in denen ein Ausdruck düsterer Resignation lag. Strahlenbündel winziger Fältchen zeugten allerdings davon, dass er früher gern gelacht hatte. An diesem Tag allerdings erweckte er den Eindruck, in seinen dreißig Lebensjahren bereits alles gesehen zu haben, was es auf der Welt zu sehen gab und von dem Schrott maßlos enttäuscht zu sein. Die Aussicht, bis zu seinem Tod in einer frustrierenden Schleife festzuhängen - und täglich grüßt das Murmeltier - schien ihn nicht eben mit Begeisterung zu erfüllen.

      »Äh, Inga«

      »Was willst du?«

      »Mit dem Abkassieren wird es etwas schwierig, ich kenne die Preise noch nicht. Ich bin neu hier an Bord, schon vergessen? Eure Getränkekarten habe ich bisher noch nicht einmal von außen gesehen.« Alice gab sich Mühe, einen deutlichen Hauch von rechtschaffener Empörung in ihre Stimme zu legen, doch was sie hörte, war pure Angst. Eine Gelernte vom Hofbräuhaus, herzlichen Glückwunsch auch, hauchte ihr ein hämisches Stimmchen ins Ohr. Irgendetwas lief gerade aus dem Ruder, und das war nicht das Schiff. Das lag noch sicher vertäut am Anleger, vorn und hinten von Wikinger Chris festgebunden. Ein Tau vom Schiffspoller im Vorschiff zu einem Poller an Land vorn, ein Tau vom Schiffspoller im Hinterschiff zu einem Poller an Land hinten. Als Puffer zwischen Schiff und Kaimauer, als Fender, dienten zwei Kanthölzer, die an Seilen von der Reling des Oberdecks hingen und schon reichlich ausgefranst aussahen. Alices erster Eindruck vom Schiff war ein entschiedenes Wow! gewesen und ein Hauch von Respekt für Okko Jansens Mut zum Klotzen. Ein großes weißes Schiff für viele Fahrgäste und zwei riesigen, blauschillernden Libellen rechts und links vom Bug. Eine knallbunte Wimpelkette überspannte das gesamte Freideck. Ihr zweiter Eindruck sagte hausbacken und marode. Selbst die Wimpel der Wimpelkette waren ausgefranst.

      »Kannst du mit einem Ordermen umgeben?«

      »Einem was?«

      »Himmeldonnerwetter noch mal, du hast uns gerade noch gefehlt«, fauchte Inga, gereizt bis zur