Michael Stuhr

DAS OPFER


Скачать книгу

und ich gefalle ihr auch. Sie begehrt mich, das kann ich spüren, und das war in dem Moment alles zu viel für mich gewesen. Ich hatte einfach weglaufen müssen. Nicht vor ihr, sondern vor mir selbst.

      Lou weiß das. Sie kann in meinen Gefühlen lesen wie in einem offenen Buch, und sie hat Angst, dass diese Panik mich wieder überwältigt.

      „Nein, Lou! Ich werde nachher gehen, aber ich werde nie wieder auf so eine Art flüchten. Nicht vor dir und auch nicht vor mir selbst.“

      „Ehrlich?“ Sie sieht so verloren aus, dass ich sie auf der Stelle in den Arm nehmen könnte.

      Ich gehe auf sie zu und nehme ihr erstmal den blöden Sirup aus der Hand. Sie sieht damit aus, wie eine biedere Hausfrau, die Angst vor ihrem Mann hat. Ich kann das nicht ertragen! Ich stelle die Flasche auf die Arbeitsfläche und sehe Lou an. Wir stehen nahe voreinander.

      „Lou“, sage ich und merke, wie meine Stimme zittert, „was du letzte Nacht für mich getan hast, werde ich dir nie vergessen.“ Meine Stimme wird heiser und ich muss mich räuspern, aber ich bin noch nicht fertig. „Du hast mich aufgefangen und gehalten und ich habe mich bei dir so sicher und friedlich gefühlt, wie ...“ Plötzlich versagt meine Stimme.

      „Aber?“ flüstert Lou.

      „Aber?“ Ich denke nach. „Kein aber!“

      „Doch, ganz bestimmt ein aber!“ meint Lou und versucht ein Lächeln.

      Sie steht vor mir. Wir berühren uns fast. Sie sieht so zart aus, so zerbrechlich.

      Mein Körper reagiert so stark auf sie, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte. In der letzten Nacht hätte sie alles von mir verlangen können, und ich hätte mitgemacht, nur um nicht nachdenken zu müssen, aber sie hat es nicht getan.

      Ein Schauer durchläuft mich. Hilfe! Was passiert hier schon wieder mit mir? Ich bin gerade dabei, mich neu zu sortieren, aber ich bin doch noch nicht fertig. Egal, was ich eben gesagt habe: der Impuls mich einfach umzudrehen und wegzulaufen ist so mächtig, dass ich ihm fast nachgebe, aber das werde ich nicht tun!

      Lous Gesicht ist voller Verlangen, voller Hoffnung. Sie wartet auf ein Signal von mir. Ihr Blick hält mich gefangen. Sie ist so schön ... Ich weiß genau, wenn ich mich jetzt bewege, wenn ich sie berühre, dann werde ich sie an mich ziehen und nie wieder loslassen.

      „Ich liebe dich“, sagt sie so leise, dass ich sie kaum verstehe.

      „Ich weiß.“ Ich schaue zu Boden, um ihre Enttäuschung nicht zu sehen. „Ich liebe Diego.“

      Ich höre wie sie kurz Luft holt, um etwas zu sagen, aber sie bleibt stumm.

      Zögernd hebe ich den Kopf und sehe, dass eine Träne über ihre Wange rollt. Hilflose Trauer spiegelt sich auf ihrem Gesicht. Sie will sich abwenden.

      „Wir wären ein tolles Paar gewesen, oder?“, sage ich leise und greife nach ihrer Hand.

      „Unschlagbar!“, sagt sie mit einem Schluchzen in der Stimme und versucht ein scheues Lächeln. Plötzlich habe ich sie doch im Arm und umschlinge sie ganz fest.

      Mir kommen selbst die Tränen. Das war der Moment, der mein ganzes Leben völlig hätte verändern können, aber er ist vorbei. Mein Blick hat sich geklärt. Lou ist eine tolle Freundin, aber sie ist auch eine verlorene Seele, die noch kein Heim gefunden hat. Ich weiß jetzt wieder, wohin ich gehöre.

      Lou liegt in meinen Armen und verbirgt ihr Gesicht an meiner Schulter. Ich spüre an den kleinen Erschütterungen in ihrem Körper, dass sie weint. Sie tut mir so Leid, und mich durchströmt ein unendlich zärtliches Gefühl; aber es ist so, als würde ich eine Schwester trösten, die großen Kummer hat – mehr nicht. Ich weiß wieder wohin – nein, zu wem – ich gehöre, und wenn Diego und ich im Moment auch Schwierigkeiten haben. Ich werde uns die Chance geben, wieder zusammenzufinden.

      Zuerst war alles so klar für mich: Diego hatte mich verraten. Er hatte mein Studium finanziert, damit ich zu ihm nach Berkeley komme. Er hatte mich gekauft, bezahlt und benutzt, davon war ich überzeugt gewesen, aber das hatte nur diese Alicia mir eingeredet. Jetzt beginne ich zu zweifeln. Wir müssen das klären. Ich muss unbedingt herauskriegen, wie es wirklich gewesen ist!

      Lou hat sich ein wenig beruhigt und schiebt sich mit den Händen leicht von mir weg. Sie schaut mir forschend ins Gesicht. „Du weinst ja auch“, stellt sie fest. „Warum?“

      „Weil – weil - du bist das tollste Mädchen, das ich kenne.“

      „Ehrlich?“, schluchzt sie „Und es geht trotzdem nicht?“

      „Nein.“

      Sie beugt sich etwas vor und wischt mir ganz vorsichtig eine Träne von der Wange „Hör auf damit. Ich will nicht, dass du traurig bist.“

      Ich sehe sie nur verschwommen und lache gequält. „Du bist gut! Hör doch selber auf!“

      Lou lacht schniefend auf. „Beste Freundinnen?“, fragt sie dann und hält mir ihre Hand hin.

      Zögernd greife ich danach. „Kommst du damit zurecht, wenn ich in deiner Nähe bin?“

      „Ja!“, nickt sie tapfer. „Ich muss doch wissen, ob es dir ...“ Sie stockt. „... ob es euch gut geht“, schnieft sie, sucht mit der freien Hand in der Hosentasche erfolglos nach einem Taschentuch und wischt sich schließlich mit dem Handrücken die Nase.

      Noch einmal ziehe ich sie an mich und wir halten uns ganz fest.

      „Wie du mich in der letzten Nacht gehalten hast, das war so schön, so ...“ Ich suche nach Worten.

      „So geborgen?“, murmelt Lou an meiner Schulter.

      Ich nicke stumm in ihre Haare hinein und seufze tief auf.

      „Ja“, flüstert Lou, „für mich auch!“

      „Ach wie rührend!“, kommt es da plötzlich von der Terrasse her.

      Lous Kopf schnellt herum und auch ich schaue irritiert in die Richtung, aus der die Stimme kam.

      In der offenen Terrassentür steht ein Mann, der uns mit einem breiten Grinsen betrachtet. „Na, am frühen Samstagmorgen schon so aktiv?“

      Ganz klar, was er meint: Für ihn sieht es so aus, als würden wir in enger Umarmung in der Küche herumknutschen. Ich lasse Lou los. Ich kann förmlich spüren, wie der Zorn in ihr aufflammt.

      „Eigentlich ist der Eingang ja vorne.“ Ihre Stimme ist eiskalt. „Da, wo die Klingel ist, wissen Sie?“

      „Sind Sie Louisa Álvarez?“ Der Typ kommt zwei Schritte weit herein.

      Ich spüre, wie Lou sich anspannt. „Wer will das wissen?“

      „Natürlich sind Sie das!“, fährt der Typ ungerührt fort. „Latina, Kurzhaarschnitt, fünf Fuß, vier Zoll. Passt!“ Er wendet sich mir zu. „Und wer sind Sie?“

      „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht!“

      „Sind Sie Kanadierin?“ Natürlich hat er meinen Akzent bemerkt.

      „Ich hatte nach ihrem Namen gefragt“, erinnert Lou.

      „Ja, ja!“ Der Typ klappt die linke Seite seines Sakkos auf, und das erste was ich sehe, ist der Griff der Waffe, die er im Schulterhalfter trägt.

      „Ich bin Detective Larence vom Berkeley Police Department“, behauptet er. „Ich hätte da mal ein paar Fragen an Sie.“

      Auf seinem Hemd ist so etwas wie eine Dienstmarke befestigt. Ist das Ding echt oder nicht? – Was weiß ich? Aber der Revolver ist es, da bin ich mir ganz sicher.

      Larence sieht mich und Lou mit einem merkwürdigen Grinsen an. „Sie wissen doch sicher, worum es geht.“

      „Nein!“, sagen Lou und ich gleichzeitig. Automatisch fasse ich nach ihrer Hand.

      Wieder grinst der Typ und er wird mir dadurch nicht wirklich sympathischer. Hinter