Dietrich Enss

PRIM


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      »Wie lang ist eine Weile? Welche Universität, welches Gebiet, welche Forschungssache?«, fragte Bob trocken.

      Ferrentil spürte die Ablehnung seines Vorschlags in Bobs Stimme. Er ließ sich Zeit, um seinen Worten mehr Gewicht zu geben. »MIT oder Harvard, jedenfalls eine in Boston. Die Zeit bestimmt sie selbst. Das andere werden Sie sie fragen müssen. Sie kommt morgen früh. Ich glaube das ist alles.«

      Für Bob war die Unterredung noch lange nicht beendet. »Wayne, ich möchte Sie an Paragraf neun erinnern. Die Datenbanken und alle Zugangssysteme stehen nur einer sehr beschränkten Anzahl von Mitarbeitern offen. Und das hat sehr gute Gründe, wie Sie wissen. Ihre Forscherin gehört nicht dazu. Sie sollte sich andere Datenbanken suchen.«

      Ferrentil stand auf und ging hinüber zu einem niedrigen Tisch mit vier Sesseln vor einer antiken Vitrine. Bob befürchtete, dass Ferrentil ihm zum tausendsten Mal dieses Erbstück im Chippendale-Stil aus dem 18. Jahrhundert erläutern würde, mit Hinweisen auf das massive Kirschbaumholz, auf die exzellente Tischlerarbeit, die man auch an den geschnitzten Zierzöpfen an Türen und Schiebladen im unteren Bereich der Vitrine bewundern konnte, und vor allem mit umfassenden Hinweisen auf seine alteingesessene Familie. Aber diesmal öffnete er wortlos die rechte, verglaste Seitentür des Schranks und holte zwei Gläser und eine Flasche heraus. »Sie schätzen einen Schluck guten Malt Whiskys, Bob. Kommen Sie, setzen Sie sich!«

      Talburn mochte keinen Whisky und hatte in seinem Leben nur bei den zwei oder drei Malen zugestimmt, bei denen er sich von Ferrentil dazu genötigt sah. Ronald Limpes hatte ihn bei Betriebsfesten mit ausladenden Erklärungen über das Destillieren und Lagern und über die vielen Geschmacksrichtungen vergeblich zum Whiskytrinken zu überreden versucht. Wie bei so vielen Themen gab Limpes sich auch beim Whisky als herausragender, alleswissender Sachkenner, aber Talburn fiel natürlich nicht darauf herein.

      Beide Männer nippten schweigend an ihren Gläsern. »Bob, Sie haben nicht richtig verstanden. Wir können Jon Berkners Wunsch nicht ausschlagen. Er besitzt dreißig Prozent der Firma. Als stiller Gesellschafter, deshalb sitzt er nicht im Aufsichtsrat. Kein Wunder also, dass Sie ihn nicht kennen. Aber was Jon sagt, wird bei TODAY gemacht.«

      Ferrentil hob die Hand, als Bob ihn unterbrechen wollte. »Ich weiß, dass Sie niemanden in die Krypta hinein lassen. Außer Ihnen und Ronald Limpes kennt doch sowieso niemand die Zugangscodes. Gut, ich habe eine Kopie im Panzerschrank, falls Sie beide verunglücken sollten. Aber ich habe sie noch nie benutzt, weiß nicht einmal wie. Natürlich lassen wir erst recht keine Fremden wie diese Norwood an die Kryptadaten heran, oder überhaupt nur entfernt an die Krypta. Aber die Katakombe, die können Sie doch für die Dame öffnen. Sie weiß ja nichts über die Existenz der Krypta, und sie interessiert sich wahrscheinlich ohnehin weniger für die Daten und deren Herkunft als für unsere Verfahren der Datenverwaltung.«

      »Ich habe trotzdem Bedenken. Wir geben grundsätzlich keine Auskunft über die Organisation unserer Programme und Datenbanken Katakombe und Krypta. Kein Außenstehender soll wissen, dass wir sensitive Daten gar nicht im Haus speichern sondern extern im Netz, in der Wolke. Und zwar einschließlich der zugehörigen Programme. Bei der Direktoriumssitzung am Dienstag werde ich das zu Protokoll geben. Wir verzeichnen jede Woche mindestens zehn ernst zu nehmende Angriffe über das Internet. Außerdem interessieren sich diverse Dienste und die Datenschutzbehörden für uns. Da wollen wir es nicht noch mit zusätzlichen Gefahren zu tun bekommen. Wer weiß was diese Frau wirklich will?«

      »Mann! Sie ist die Tochter eines Freundes von Jonathan Berkner! Das ist ein Triple-A Rating. Seien Sie freundlich zu ihr, sonst kann es großen Ärger geben!«

      »Sie wird trotzdem unsere Vertraulichkeitsvereinbarung unterzeichnen«, sagte Bob und erhob sich. Er ging zur Tür, ohne sich von Ferrentil zu verabschieden.

      »Natürlich, natürlich«, brummte der. »Sturer Bock!«

       * * *

      Er wurde plötzlich aus seinen Gedanken gerissen, als er bemerkte, dass er dem Lastwagen auf eine Ausfädelungsspur gefolgt war. War es die Ausfahrt auf eine andere Straße oder handelte es sich um eine Raststätte? Vielleicht hätte er das nervige Navi doch nicht abstellen sollen. Dann sah er die erleuchteten Schilder einer Tankstelle und die Symbole für Hamburger und anderes Fast Food. Er steckte so tief in Gedanken, dass er nicht einfach weiterfahren mochte. Er folgte dem Lastwagen und bog dann auf einen PKW-Parkplatz ein. Zu dem grell erleuchteten Restaurant waren es von dort nur wenige Schritte, aber er musste trotzdem rennen, um nicht zu nass zu werden.

      In einer Ecke scharten sich Gäste um einen Fernseher. Ein Baseballspiel der Major League wurde übertragen. Deshalb gab es keine aufdringliche Musik, die eigentlich zur festen Einrichtung in diesen Etablissements gehörte. Talburn war froh darüber. Er fand einen freien Tisch in der gegenüber liegenden Ecke. Er unterbrach die Kellnerin, gleich nachdem sie ihren Namen genannt und begonnen hatte, die Speisekarte herunterzuleiern. »Ich nehme Bratkartoffeln mit Spiegeleiern und Salat, Sue. Italienisch«, fügte er schnell hinzu, als sie anfangen wollte, die Dressings aufzuzählen. Sue schenkte ihm Kaffee ein. Sie sah ihn dabei so an, als ob sie erkannt hätte, dass er Probleme hatte, und als ob sie ihn trösten könnte. Talburn fragte sich, ob die Kellnerinnen die Kaffeekannen jemals aus der Hand ließen. Dann kehrten seine Gedanken zurück zu Ann-Louise Norwood. Zu der Ann-Louise, die er nicht vergessen konnte, die aber offensichtlich einen ganz anderen Namen hatte.

      Am Tag nach dem Gespräch mit seinem Chef war sie aufgekreuzt. Typisch für Wayne Ferrentil, dass er sie eingestellt hatte, ohne den Personalchef, den Chefredakteur und vor allem ohne ihn selbst zu fragen, auch wenn es nur für eine von ihr selbst bestimmbare, zweifellos kurze Zeit war. Er brauchte sicherlich nicht bei allen Entscheidungen gehört zu werden, jedenfalls nicht aus Sicht des Herausgebers oder der Eigentümer, aber schließlich sollte sie in seiner Abteilung arbeiten. Da hätte er eigentlich früher ein paar Informationen erhalten müssen.

      Sie hatte eine der Programmiererinnen nach ihm gefragt und war dann zielstrebig auf seinen Glaskasten zugelaufen. Verdammt, wo ist Ron, hatte er gedacht. Trotz des Betriebs im Restaurant fiel es ihm leicht, sich in die damalige Situation zu versetzen und die Ereignisse zu rekapitulieren.

      Er hatte sie kommen gesehen. Ihr Aussehen und ihren Gang würde er nicht so schnell vergessen. Sie war hereingekommen, hatte sich vorgestellt und gesagt, dass er ja vom Herausgeber, Mr. Ferrentil, über ihr Kommen unterrichtet wäre, bevor er auch nur hatte »hallo« sagen können. Das hätte er allerdings ohnehin nur mit Verzögerung getan, denn Ann-Louise Norwood war eine der Frauen, deren Anblick Männer erst einmal sprachlos machte.

      Er erinnerte sich an diesen unbehaglichen Moment. Er sah nur ihr Gesicht. Die elegante Kleidung nahm er erst viel später wahr. Das Alter war schwer zu bestimmen, irgendwo zwischen sechsundzwanzig und dreiunddreißig. Augen wie grauer Granit, groß, unendlich fest. Klare, helle Gesichtszüge. Dezentes Make-up, Zähne wie bei den Zahnarztfrauen in der Fernsehreklame. Blonde Haare in perfekter Unordnung. Und immer wieder diese Augen, die einen festhielten und nicht erlaubten, woandershin zu sehen.

      Erst am Abend war ihm bewusst geworden, dass er bei der Begegnung mit Ann-Louise Norwood zum ersten Mal nicht sofort an die Frau hatte denken müssen, die er geliebt und verloren hatte. Er hatte keine neue Beziehung eingehen können, obwohl sich immer wieder Gelegenheiten dafür boten. Auch ohne Näheres über ihn zu wissen, fanden die Frauen ihn offenbar attraktiv und begehrenswert. Beim Joggen im Park liefen sie neben ihm her und versuchten, ihn in Gespräche zu verwickeln. Und im Fitness-Studio sollte er sie unbedingt bei ihren Übungen anleiten und unterstützen.

      Die Selbstanalyse beunruhigte ihn und ließ ihn lange nicht einschlafen. Er konnte seine Gedanken nicht ordnen. Aber ihm war klar, dass dies Anzeichen für eine Veränderung waren. Er würde sich nicht länger gegen eine neue Bindung stemmen, nicht länger das Gefühl haben, sich wehren und schützen zu müssen.

      Ann-Louise brauchte die Praxis bei TODAY für ihre Promotion, hatte sie behauptet. Dabei ging es um die Organisation von Datenbanken, besonders um die automatische Anbindung an fremde Systeme und Netzwerke über das Internet zum Zweck der Aktualisierung der Datenbestände.

      Er wies ihr den Arbeitsplatz mit Terminal