Dietrich Enss

PRIM


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zu sprechen. Ob TODAY sich da etwas von ihr zeigen lassen wollte. Er hatte immer vorsichtig abgelehnt, nicht direkt, weil das aufgefallen wäre, sondern durch Ablenkung. Wirklich exklusive Informationen erhielten sie von Informanten, hatte er ihr erklärt.

      Er hätte sie gern allein zum Mittagessen eingeladen, scheute aber davor zurück, weil es sofort Gerüchte im Büro erzeugt hätte. Ein Vorgesetzter geht nicht nach kürzester Zeit mit der Praktikantin allein aus dem Haus. Ronald Limpes hatte offenbar weniger Bedenken, und er fand es überhaupt nicht gut, dass sie ohne erkennbares Zögern die Mittagspause draußen mit ihm verbrachte. Aber er konnte es bald darauf unauffällig so einfädeln, dass sie zu dritt zum Essen gingen. Trotz Rons und seiner geschickten Fragen berichtete sie nicht viel über sich. Sie bestand darauf, selbst zu zahlen. Sie war die Tochter eines reichen Mannes, wusste er. Und wohl gleichzeitig sehr bescheiden, denn die kleinen Steine an ihrem Ring waren nicht echt. Als er einmal beiläufig das Segeln erwähnte, blickte sie schnell zu ihm herüber.

      »Segelst du?«, hatte er sie daraufhin gefragt und versucht, die Frage ganz ahnungslos klingen zu lassen.

      »Ja, aber ich habe kaum noch Zeit dafür. Und ihr?«

      Er war auf diese Gegenfrage vorbereitet gewesen, er hatte sie ja geradezu provoziert. Und es war ihm klar, dass er mit seinen geringen Segelkenntnissen bei ihr nicht punkten konnte. »Nein, ich habe keinen blassen Schimmer davon«, hatte er deshalb geantwortet, während Ron nur den Kopf geschüttelt hatte.

      Ihre bis dahin eher unbefangene Beziehung erfuhr dann eine plötzliche Änderung. Es war wieder ein heißer Tag, wie schon seit einiger Zeit. Bei TODAY, zumindest im Stockwerk von DATA TODAY, wurde die Klimaanlage in Abhängigkeit von den Außentemperaturen so gesteuert, dass keine großen Temperaturunterschiede auftraten. Deshalb war es auch im Büro ziemlich warm. Alle liefen in luftigen Sommeroutfits herum. Ann-Louise trug ein ärmelloses, blaues Kleid aus einem weichen, anschmiegsamen Stoff. Sie sah umwerfend darin aus, besonders wenn sie sich bewegte. Er hatte immer wieder zu ihr hinüber gesehen. Irgendetwas an ihr war anders, aber er konnte nicht sagen, was es war.

      Als er wieder hinausgesehen hatte, hatte sie sich stehend über ihren Arbeitstisch gebeugt. In diesem Moment hatte es ihn wie bei einem Stromschlag durchzuckt. Sie trug keine Unterwäsche. Das Kleid lag völlig glatt auf ihrer Haut. Als sie sich aufrichtete und umdrehte, sah er, wie sich ihre Brüste deutlich abzeichneten, beinahe wie bei einer Bemalung mit blauer Körperfarbe.

      Fasziniert hatte er sie unauffällig weiter beobachtet. Bis sie schließlich zu erkennen gegeben hatte, dass sie seine Blicke durchaus bemerkt hatte, indem sie ihn nun unbeirrt angesehen hatte und auf den Glaskasten zugekommen war. Er war aufgestanden, um ihr die Tür zu öffnen, und hatte sich dann erschrocken sofort wieder hingesetzt. Er hatte wegen der Wärme weite Hosen aus dünnem Stoff angezogen.

      Sie war hereingekommen. Er hatte sie hastig begrüßte und so getan, als wenn er vergessen hätte, ihr einen Stuhl anzubieten. Sie wollte näher kommen, aber sie durfte seine Bildschirme nicht sehen. Sollte er sie unter einem Vorwand wieder hinausschicken? Er war sehr verwirrt gewesen, zumal er nicht sagen konnte, ob sie die harten Fakten für sein ungewöhnliches Verhalten erahnt hatte. Ihr Lächeln war ihm jedenfalls vieldeutig erschienen und hatte ihn verunsichert.

      In seiner Verlegenheit hatte er eine Einladung zum Abendessen herausgestottert. Schon lange hatte er sie einladen wollen, hatte es aber bis dahin nicht gewagt. Sie hatte fast unmerklich genickt und ihn erwartungsvoll angeschaut. Er hatte ein paar Restaurants genannt, und als er gemerkt hatte, dass ihr Blick immer fragender wurde, hatte er unschlüssig geschwiegen.

      »Oh, vielen Dank. Sehr gern«, hatte sie gesagt und ihn angestrahlt. »Ich fahre nach der Arbeit schnell nach Hause. Wann und wohin soll ich kommen?«

      Seine Gedanken waren durcheinander geraten und hatten sich überschlagen. Er hatte sie und sich gleichzeitig in verschiedenen Situationen gesehen, die nichts mit ihrem Praktikum und nichts mit seiner Arbeit bei TODAY zu tun hatten. Wenn sie erst nach Hause beziehungsweise zu ihrer Tante in der Bronx fahren würde, dann würde sie am Abend das blaue Kleid nicht mehr tragen. Nur das blaue Kleid.

      »Nein, Ann-Louise. Warum diese Umstände. Wir können nachher bis zum Abend noch etwas unternehmen. Ich habe da einige Ideen.«

      Sie war einverstanden. Es wurde ein unvergesslicher Abend, eine unvergessliche Nacht. Jedenfalls im ersten Teil. Im zweiten hatte er ihre Nachricht im Bad gefunden.

      4

      »Diese Bastarde!«, entfuhr es ihr.

      Fast drei Wochen lang hatte sie herauszufinden versucht, aus welchen Quellen DATA TODAY sich Informationen beschaffte, an die eine kommerzielle Personenauskunft eigentlich nicht herankommen durfte. Sie verglich den blinkenden Namen auf dem rechten Bildschirm mit den Eintragungen in der Tabelle auf dem linken Bildschirm, dann griff sie zum hausinternen Telefon und wählte eine fünfstellige Nummer.

      »Ben Nizer, Datensicherheit.«

      »Bingo!«

      Ben Nizer brauchte ihren Namen nicht von der Anzeige abzulesen. Er erkannte die Stimme von Alice Lormant sofort, selbst wenn sie nur bingo sagte.

      »Na endlich! Wer ist es?«

      »John Kenneth Silverman.«

      Nizer brauchte einen Moment, um dem Namen den Ort zuzuordnen, an dem er ihn eingetragen hatte. Dann stöhnte er: »Oh nein. Und nur bei DATA TODAY?«

      »Bis jetzt ja. Sie müssen es aus der ursprünglichen Quelle haben, also von uns. Welche ist es?«

      »NSA P-B12. Unser externes Personal. Ich komme hinauf zu Ihnen.«

      Sie führte noch zwei weitere, kurze Telefongespräche. Dann lehnte sie sich in ihrem Drehstuhl zurück, legte den Kopf an die Stütze und schloss die Augen. Es sah tatsächlich so aus, als ob DATA TODAY sich die geheimen Daten direkt von der Quelle holte. Die P-Datenbanken enthielten Angaben über NSA-Mitarbeiter und galten als sehr gut geschützt, auch wenn sie unverschlüsselt auf den Servern lagen. Auch sie selbst hatte keinen Zugriff auf alle Personaldaten. Weder die CIA noch das FBI wussten offenbar, dass Silverman eine gewisse Zeit lang als externer Mitarbeiter bei der NSA beschäftigt war, jedenfalls gemäß deren Auskünften auf eine unverdächtige Anfrage der NSA.

      Sie hatte zu Beginn des Projektes Blinder Passagier zweiundzwanzig eher unauffällige Personen ausgesucht, die auf irgendeine Weise in fremden Datenbanken erfasst waren, und ihnen Verbindungen zur NSA angedichtet. Dabei musste sie sorgfältig darauf achten, dass diese NSA-Verbindungen zeitlich und sachlich zu den jeweiligen anderen Daten der betreffenden Personen passten. Ben Nizer hatte die zweiundzwanzig Personen dann in verschiedene Datenbanken der NSA eingeschleust. Nur er allein wusste, wer wo zu finden war. Er hatte sich sogar die Mühe gemacht, die Zeitstempel der Dateneingaben so zu manipulieren, dass sie mit den Zeitpunkten der jeweiligen Informationen kompatibel waren. So hatte sich der Spanier Sergio Llorente, Verkaufsagent einer spanischen Winzerei mit erstklassigen Weinen und ständig unterwegs in den höchsten Kreisen in diversen Ländern, während einer Reise in die USA im Oktober 2009 von der NSA anwerben lassen.

      Ben Nizer hätte sich die Details der DATA TODAY Auskunft über Silverman in seine Datenschutzzentrale herunterschicken lassen können. Aber er hatte am Beginn der Operation Stowaway Sicherheitsbedenken geltend gemacht und jede nicht unbedingt notwendige Übermittlung über die Datenleitungen untersagt. Diese Vorsicht war ihr sofort übertrieben erschienen, und sie vermutete einmal mehr die Absicht dahinter, leichter persönlichen Kontakt zu ihr zu halten. Sie schätzte Ben Nizers Alter auf nahezu sechzig Jahre, aber in dieser Hinsicht schienen alle Männer gleich zu sein, ganz unabhängig vom Alter.

      Es dauerte länger als sie erwartet hatte. Sie holte sich die Unterlagen über DATA TODAY auf den Bildschirm. Aber dann klopfte er an ihre Tür wie jemand, der es gewohnt war, dass ihm schnell geöffnet wurde. Sie schaltete auf eine neutrale Bildschirmanzeige um, schaute auf das Türkamerabild neben der Tür, stand ohne Eile auf und öffnete Ben Nizer die Tür.

      »Ich wusste gar nicht, dass Sie S-4 Sicherheitsstatus haben, Alice«, begrüßte er sie. Sie bemerkte,