Bernharda May

Liebreiz, Mord und Kaktusstiche


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Wittgenstein. Ist lange her, lange her. Kennen Sie Wittgenstein?«

      »Nein«, antwortete ich brav und versteckte meine Ungeduld.

      »Schöne Gegend, schöne Gegend. Eine Floriane kannte ich auch mal. Schauspielerin bei einer Wanderbühne. Bildhübsches Ding.«

      Er gab merkwürdige Laute von sich, die ich als eine Art sentimentales Kichern deutete – sollte es so etwas überhaupt geben.

      »Herr Ullmann, was meine Tante angeht, Ihre Nachbarin?«, versuchte ich ihn zu erinnern.

      »Wissen die jungen Leute heute eigentlich noch, was eine Wanderbühne ist? Gibt es das noch? Was war das aufregend für uns Kinder, wenn die Schauspieler ins Dorf kamen. Uns war es ja egal, welches Stück sie aufführten, Hauptsache es gab Abwechslung, nicht wahr?«

      Gleich erzählt er mir noch, wie er als kleiner Junge mal heimlich mit der Wanderbühne aus seinem Dorf abhauen wollte, brummte ich innerlich. Aber ich biss die Zähne zusammen und wartete höflich, bis Herr Ullmann zum eigentlichen Gesprächsthema zurückfinden würde.

      »Ihre Tante, die Frau Puttensen, ist vor zwei Wochen in den Urlaub gefahren«, sagte er endlich. »Ich gieße die Blumen, bis sie wiederkommt. Dachte eigentlich, dass sie vorgestern schon hätte eintreffen müssen, aber es kann sein, dass ich mit meinem Kalender durcheinander gekommen bin.«

      »Im Urlaub?«, wiederholte ich. »Wissen Sie, wohin?«

      »Ja, Frau Puttensen hat's mir gesagt. Mein Kalender, wissen Sie, der besteht ja nur aus losen Blättern. Die hab ich vielleicht falsch geordnet. Ich schau mir das am besten nochmal an, wenn ich aufgeraucht habe.«

      Und er nahm einen langen Zug, unwissentlich meine Geduld strapazierend. Ich konnte es nicht haben, wenn man auf eindeutige Fragen nicht klar antwortete, sondern irgendeine langweilige Geschichte aus dem Leben erzählte.

      »Wissen Sie, wohin?«, fragte ich auf gut Glück noch einmal.

      »In den Urlaub ist sie gefahren«, antwortete Herr Ullmann und glaubte wohl, mir damit eine wertvolle Auskunft gegeben zu haben.

      Da ich fürchtete, gleich würde meine Halsschlagader platzen, wandte ich mich ab. Den Anblick wollte ich dem alten Greis ersparen.

      »Wahrscheinlich hat er auf diese Weise seine drei Frauen umgebracht«, knurrte ich leise, »nacheinander alle drei in den Wahnsinn getrieben.«

      Ich rang mich zu einem kühlen »Danke, auf Wiedersehen« durch und ging. Meine Halsschlagader beruhigte sich und die Wut auf Ullmanns zeitraubendes Geschwätz machte der Sorge um meine Patentante Platz. Sie war also seit vierzehn Tagen in einem Urlaub, von dem ich gar nichts wusste, und hätte laut ihrem Nachbarn längst zurück sein müssen. Sie war nicht zu unserem traditionellen Treffen in Josés Bistro gekommen, obwohl sie persönlich den Tisch vorbestellt hatte. Und ihr eigentlich funktionstüchtiges Handy war plötzlich nicht mehr erreichbar. Angesichts dieser drei Punkte war mir klar: Tante Mariebelle war mehr zugestoßen als ein kleiner Unfall im Treppenhaus. Hier mussten Profis ran!

      2. Die Polizei, kein Freund und Helfer

      Da saß ich nun, keine halbe Stunde später, im Hauptgebäude der Polizeidirektion. In der Nähe von Tante Mariebelles Wohnung wäre zwar auch eine Wache gewesen, aber ich hielt mein Anliegen dafür zu wichtig, zu dringlich. Es sollte an der höchstmöglichen Stelle bearbeitet werden.

      Gleich nach der Anmeldung, im großen Warteraum, wurde ich mehr oder weniger unfreundlich abgekanzelt, als ich mich nach dem Prozedere einer Vermisstenanzeige erkundigen wollte.

      »Um wen handelt es sich denn bei dem Gesuchten?«, fragte der Wachtmeister am Schalter.

      »Meine Patentante, Mariebelle Puttensen, ist unauffindbar. Allerdings bin ich keine direkte Angehörige. Ist das ein Problem?«

      Der Wachtmeister schüttelte den Kopf.

      »Sie hat nämlich keine direkten Angehörigen. Deshalb mache ich mir ja Sorgen.«

      Ich schilderte ihm kurz die geplatzte Verabredung im Bistro und was später Herr Ullmann, ihr Nachbar, über ihr überfälliges Urlaubsende angedeutet hatte. Dass der Wachtmeister keines meiner Worte notierte und mir auch kein Papier zum Ausfüllen reichte, wunderte mich. Wollte der sich all diese Informationen merken? Ich sprach ihn darauf an.

      »Das alles mag auf Sie nicht überzeugend wirken, trotzdem wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mein Gesuch bearbeiten würden, statt nur dazustehen und zuzuhören. Oder müssen Sie 24 Stunden warten, ehe eine Person als vermisst gilt?«

      »Die 24-Stunden-Regel gibt es bei uns nicht«, antwortete der Wachtmeister ungerührt. »Viele Leute denken das, weil sie es im Fernsehen so gehört haben. Ist aber Quatsch.«

      »Na, dann tun Sie doch was!«

      Ich spürte, wie meine Halsschlagader wieder anschwoll. Vor diesem Typen würde ich mich allerdings nicht wegdrehen, falls sie platzte! Wieso musste ich ausgerechnet an das lethargischste Exemplar eines Polizisten geraden, das jemals in diesem Revier tätig war?

      »Sie verstehen nicht, Frau…?«

      »Endesfelder.«

      »Frau Endesfelder.«

      Er wiederholte meinen Namen in einem Ton, als ob er zu einer Grundschülerin spräche, und faltete die Hände.

      »Wir können eine Vermisstenanzeige nur entgegennehmen, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht. Ist das denn bei Ihrer Patentante der Fall, Frau Endesfelder?«

      »Das weiß ich doch nicht!«

      Beinahe hätte ich hinzugefügt, welch blöde Frage das sei. Aber ich riss mich zusammen und sagte nur:

      »Deshalb bin ich ja hier, damit Sie das herausfinden.«

      Der Wachtmeister hob abwehrend die Hände.

      »Sie verstehen mich nicht, Frau Endesfelder. Leidet Ihre Patentante an Demenz? Ist sie Diabetikerin und hat ihre Medikamente vergessen? Verfolgt sie möglicherweise eine Selbsttötungsabsicht?«

      Ich schüttelte den Kopf. Nichts davon traf zu.

      »Dann besteht auch keine Gefahr für Leib und Leben«, sagte der Wachtmeister, »und die Polizei darf nicht eingreifen. Erwachsenen Menschen, Frau Endesfelder, ist es nämlich durchaus erlaubt, ihren Aufenthaltsort ohne Nachricht an Freunde und Angehörige frei zu wählen. Vielleicht will Ihre Patentante zurzeit einfach in Ruhe gelassen werden?«

      Er lächelte mich mitleidig an, als ob ich jetzt gefälligst erkennen sollte, wie dumm mein Anliegen wäre. Aber ich war noch nicht bereit, diesen Kampf mit der Behörde aufzugeben.

      »Herr Wachtmeister«, sprach ich, »würde meine Tante in Ruhe gelassen werden wollen, hätte sie dann extra im Bistro einen Tisch für sie und mich reserviert? Bestimmt nicht. Es ist mit Sicherheit etwas passiert.«

      Der Polizist runzelte für einen Augenblick die Stirn. Offenbar erkannte er die Stichhaltigkeit meines Arguments. Ein bisschen versöhnlicher fuhr ich fort:

      »Ich wäre Ihnen ja schon sehr dankbar, wenn Sie mit Ihren polizeilichen Möglichkeiten mal kurz in Ihrem Computer nach ihr suchen würden. Sie kriegen da doch bestimmt heraus, ob es kürzlich einen Unfall gab, in den sie verwickelt war, oder ob sie in irgendein Krankenhaus aufgenommen wurde oder dergleichen.«

      Ich setzte einen mädchenhaften Bettelblick auf. Ich fand, da er mit mir ohnehin wie mit einem Kind sprach, durfte ich diesen Trick anwenden. Und er wirkte!

      »Na gut, Ihnen zuliebe«, sagte er und wandte sich an seinen PC. »Wie lautete der vollständige Name gleich noch?«

      »Florentine Endesfelder.«

      »Nicht Ihrer! Der von Ihrer Patentante.«

      »Ach so, entschuldigen Sie. Mariebelle Puttensen.«

      Ich buchstabierte, während er tippte, damit sich kein Fehler einschlich. Leider war der Bildschirm nur ihm zugedreht, sodass ich keinen Einblick