Bernharda May

Liebreiz, Mord und Kaktusstiche


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rief ich überrascht aus.

      Er war der letzte Mensch, mit dem ich vor dem Polizeigebäude gerechnet hätte.

      »Was machst du denn hier?«

      »Ich habe mein Fahrrad abgeholt«, erwiderte Tony und zeigte nicht ohne Stolz auf einen klapprigen Drahtesel, den er mit sich führte. »Es war mir vor einigen Wochen geklaut worden und ich hab auf dem Revier Anzeige gegen unbekannt erstattet. Viel Hoffnung hatte ich mir nicht gemacht, aber die Polizei hat mein Rad tatsächlich wiedergefunden. Der Dieb ist natürlich nicht zu ermitteln. Und du, was grummelst du hier vor dem Eingang vor dich hin?«

      »Ich wollte ebenfalls eine Anzeige erstatten«, sagte ich missmutig.

      »Ist dein Fahrrad auch weg? Diese dreisten Banditen!«

      »Nein, ich besitze gar keines. Ich wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben.«

      »Scheint ja nicht geklappt zu haben«, bemerkte Tony. »Du schmollst wie damals, als du aus der mündlichen Prüfung rauskamst.«

      Er lachte.

      »Du hast mit einem ›sehr gut‹ gerechnet, aber nur ein ›gut‹ bekommen und konntest dich nicht freuen.«

      »Anders als du, der schon froh war, überhaupt bestanden zu haben«, erinnerte ich mich.

      Dieser Moment nach der mündlichen Prüfung, kurz vor unserem gemeinsamen Schulabschluss, war das letzte Mal gewesen, dass Tony und ich einander gesehen hatten. Für Jahre hatten wir die gleiche Klasse besucht und uns schon damals gut verstanden. Um den Kontakt über die Schulzeit hinaus aufrecht zu erhalten, waren wir jedoch nicht eng genug befreundet gewesen. Umso mehr erstaunte es mich, dass er mich so schnell wiedererkannt hatte.

      »Leider ist mein Grund zum Schmollen heute ein ernsterer als damals«, sagte ich.

      Tony hörte zu lachen auf und stimmte mir zu.

      »Nicht zu wissen, wo ein geliebter Mensch steckt, ist bitter«, gab er zu. »Komm, lass uns spazieren gehen. Dann kannst du dir alles von der Seele reden.«

      Dankbar nahm ich sein Angebot an. Weiterhin vor einer Polizeidirektion Selbstgespräche zu führen, schien mir nämlich keine gute Idee zu sein.

      Wir schlenderten durch die Stadt und ich erklärte Tony in kurzen Stichpunkten, was mich zur Polizei geführt hatte.

      »Das Aufgeben der Vermisstenanzeige hatte ich mir allerdings ganz anders vorgestellt«, schloss ich mürrisch meinen Bericht.

      »Ja, jetzt kann ich verstehen, warum du sauer bist«, sagte Tony. »Da wird man sogar ins Kommissariat geschickt und am Ende war es pure Zeitverschwendung.«

      »Du sagst es! Und rate mal, worauf dieser blöde Tork die ganze Zeit geschielt hat, während er mit mir sprach!«

      Tony war entsetzt.

      »Doch nicht etwa auf deine…?«

      »Nein, viel schlimmer«, unterbrach ich ihn. »Auf seinen verflixten Computerbildschirm.«

      »Vielleicht gab's dort Wichtiges zu lesen?«, meinte Tony. »Polizeiliche Infos, die er für euer Gespräch brauchte?«

      »Von wegen! Ich hab ja auch draufgeguckt. Er hatte eine Internetseite geöffnet, einen Online-Spielwarenhandel. Nach ferngesteuerten Spielzeugautos hat er gesucht, statt nach meiner Tante! Das muss man sich mal vorstellen!«

      Ich war wieder auf hundertachtzig. Zum Glück liefen wir durch einen Park, wo der Schatten der Bäume uns vor der Sommersonne schützte. Wer weiß, was meine hitzige Wut in Verbindung mit den hitzigen Strahlen sonst mit mir angerichtet hätte.

      »Komm, lass uns ein Eis essen«, schlug er vor. »Dahinten ist ein Café.«

      Wir setzten uns an einen Tisch im Außenbereich. Tony bestellte sich einen Eisbecher mit heißen Himbeeren, ich nahm mit einem Bananenmilchshake vorlieb. Das kalte Getränk dämpfte meine Erregung.

      »Du hättest den Polizisten genauer schildern müssen, was es mit dem Handy deiner Tante auf sich hatte«, kam Tony schließlich auf unser Gesprächsthema zurück. »So exakt, wie du es mir eben erzählt hast – wie sie von einem Moment auf den anderen nicht mehr erreichbar war. Dann hätten sie für deine Sorge sicherlich mehr Verständnis gehabt.«

      »Stimmt«, gestand ich ein, »für eine ausführliche Darstellung fehlte mir vorhin die Geduld. Aber die reagierten ja auf mein Argument hinsichtlich der Reservierung schon sehr verhalten.«

      »Na ja, als Argument würde ich diesen Punkt nicht unbedingt bezeichnen«, entgegnete Tony. »Deine Tante hat euch vielleicht schon vor Wochen oder Monaten im Bistro angemeldet und im Nachhinein die Verabredung vergessen. Kann jedem passieren. Nicht nur älteren Herrschaften.«

      Ich sagte dazu nichts und nippte an meinem Milchshake.

      »Immerhin sind die Nachfragen von deinem Kommissar Tork sehr schlüssig gewesen«, meinte Tony. »Wenn du wüsstest, wo deine Patentante ihren Urlaub verbringen wollte oder was ihre Pläne für die kommenden Tage gewesen waren, könntest du ohne Weiteres auf die Suche nach ihr gehen.«

      »Der Knackpunkt ist, dass ich das alles eben nicht weiß«, erwiderte ich und wollte zu mehr ansetzen, als mein Blick plötzlich auf die Eiskarte fiel. Ich stockte. »Café am Eck« stand da. Ich sah mich um und musste anfangen zu kichern.

      »Was ist los?«, fragte Tony verunsichert.

      Er fürchtete wohl, ich hätte einen hysterischen Anfall erlitten.

      »Ich kriege jetzt erst mit, wo wir eigentlich sind, und muss über mich selber lachen«, beruhigte ich ihn. »Ganz unbewusst habe ich unseren Spaziergang zurück in die Südstadt gelenkt. Wir sind ganz in der Nähe von Tante Mariebelles Wohnung. Siehst du dort die beiden Eiben? Da geht es zur Querstraße, wo sie lebt. Wir haben sogar ab und zu dieses Café hier besucht.«

      Ich schaute mich um und erkannte jetzt erst all die kleinen Details.

      »Die Stühle mit weißem Holzrahmen und rotem Leder, die hellblauen Sonnenschirme mit den Fransen«, zählte ich auf, »das sieht alles schon seit Jahrzehnten so aus. Nur die Eiskarte hat ein neues Design.«

      Ich wurde nachdenklich und trank weiter meinen Milchshake. Eine freche Wespe hatte sich an den Tisch gesellt und bestand hartnäckig auf ihren Anteil, egal wie sehr ich sie auch wegzuscheuchen versuchte. Tony kratzte genüsslich mit dem Löffel seinen Eisbecher leer; ihn belästigte die Wespe nicht.

      »Wenn wir schon hier sind«, sagte ich, nachdem ich mein Glas zügig ausgeschlürft hatte, »können wir die Zeit sinnvoll nutzen und noch einmal genauer bei Herrn Ullmann fragen, was mit meiner Tante los ist.«

      »Klaro, warum nicht?«, lautete Tonys Replik.

      Keiner von uns beiden wunderte sich zu jenem Zeitpunkt auch nur ein Stückchen darüber, dass ich ihn seit unserem Wiedersehen automatisch in meine Suche nach Tante Mariebelle einbezog. Dies wiederum wundert mich heute, während ich rückblickend diese Zeilen schreibe, umso mehr.

      Wie dem auch sei, wir zahlten zügig unsere Rechnung und fünf Minuten später standen wir vor Ullmanns Balkon. Leider machte er gerade eine Pause vom Rauchen und war nicht zu sehen.

      »Dann klingeln wir eben«, entschied ich.

      Der alte Mann ließ uns ins Haus, ohne über die Türsprechanlage überhaupt nach unseren Namen zu fragen. Als er uns auf dem Hausflur begrüßte, erkannte er mich gleich wieder und wusste diesmal meinen Namen.

      »Die kleine Florentine! Hätte ich nicht gedacht, dass Sie heute noch ein zweites Mal herkommen. Was vergessen?«

      »Sie hatten doch vorhin von einer Schriftstellerin gesprochen«, erinnerte ich ihn, »und mir ist eingefallen, dass bei Tante Mariebelle ein Buch von ihr liegen müsste.«

      »Tatsächlich?«

      »Ja, und ich würde es mir unheimlich gern ausleihen«, log ich weiter. »Haben Sie Blumendienst bei ihr? Dann müssen Sie doch auch den Schlüssel haben.«