Bernharda May

Liebreiz, Mord und Kaktusstiche


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das rechte Ziel für dich«, entschied ich. »Fahr hin und frag persönlich nach Tante Mariebelle. Ich gebe dir ein Foto mit.«

      »Und was willst du unternehmen?«

      »Ich werde alle Hotels rund um den Hohen Meißner abtelefonieren, ob sie dort irgendwo abgestiegen ist. Das wird dauern.«

      Ich schnappte mir ein Adressheft, das im Flur neben Tante Mariebelles Festnetztelefon lag, und steckte es ein.

      »Vielleicht finde ich einen Fred oder eine Gitta da drin«, sagte ich.

      In der Tür trafen wir ein letztes Mal Herrn Ullmann.

      »Sie gehen schon?«, fragte er. »Haben Sie das Buch gefunden?«

      Ich nickte und klopfte auf meine Handtasche. Tony schloss die Wohnungstür ab und reichte dem Nachbarn den Schlüssel. Der kicherte wieder eigentümlich vor sich hin.

      »Schon komisch«, sagte er, »solange Ihre Tante daheim ist, empfängt sie kaum Besuch. Jetzt ist sie im Urlaub und die Leute wollen ihr schier die Tür einrennen.«

      »Wie meinen Sie das?«

      Ich war verwirrt. Die geringe Anzahl von gerade einmal zwei Besuchern konnte auf den Greis kaum solch starken Eindruck gemacht haben, um eine Bemerkung wie eben zu rechtfertigen.

      »Es war heute noch jemand anderes hier und wollte zu Frau Puttensen«, erklärte er. »Ein hochgewachsener Kerl mit Halbglatze war das. Hab ihn nie zuvor hier gesehen. Hat sich nach Ihrer Tante erkundigt und ist wieder abgezogen.«

      Tony schaute mich fragend an. Ich zuckte mit den Achseln; die Beschreibung des Fremden sagte mir rein gar nichts.

      »Keine Angst, Fräulein Flo«, sprach Ullmann weiter. »Ich habe diesem Kerl natürlich nicht von meinem Schlüssel zu Frau Puttensens Wohnung erzählt. Bei den klobigen Schuhen, die er trug, hätte sie ihn niemals auf ihren Teppich gelassen, da bin ich sicher.«

      4. Nur ein kleiner Lauschangriff

      Auf dem Rückweg ging ich noch einmal bei Josés Bistro vorbei und erkundigte mich, wann genau Tante Mariebelle den Tisch vorbestellt hatte. Vielleicht hatte Tony recht und ihre Anfrage lag bereits Monate zurück, was ein zwischenzeitliches Vergessen ihrerseits wahrscheinlich machen würde.

      »Ich weiß nicht mehr, wann Señora Puttensen angerufen hat«, bedauerte Jośe.

      Er konnte mir zumindest versichern, dass sein Bistro keine Reservierungsanfrage entgegennahm, die über den Zeitraum eines Monats hinausging. Seine Aussage half mir insofern, als ich ausschließen konnte, meiner Patentante wäre unser Treffen schlicht entfallen. Das wäre ihr innerhalb von nur vier Wochen bestimmt nicht passiert.

      Die folgenden 48 Stunden verbrachte ich in meiner Einraumwohnung, mit krummen Rücken vor dem Laptop sitzend. Ich hatte die Jalousie heruntergezogen, damit der strahlende Sonnenschein mich nicht ablenken und hinaus in den Sommertag locken würde. Das Handy war griffbereit, und immer, wenn ich beim Surfen auf ein Hotel stieß, dass Tante Mariebelles Ansprüchen zu genügen schien, rief ich es an und erkundigte mich, ob sie dort sei oder ein Zimmer auf ihren Namen gebucht habe. Als Vorwand behauptete ich, ihre Tochter zu sein und ihr ein Geburtstagsgeschenk nachschicken zu wollen.

      Bereits von elf Hotels, neun Pensionen und sage und schreibe vierzehn Ferienhäusern rund um den Hohen Meißner hatte ich negative Auskünfte erhalten, bevor mich Fred zurückrief. Dessen Nummer hatte ich in Tante Mariebelles Adressheft gefunden. Zu meinem Glück stand darin nur ein einziger Fred – Gittas gab es hingegen gleich drei. Noch an Mariä Himmelfahrt hatte ich ihn angerufen, doch weil niemand abnahm, hatte ich auf die Mailbox gesprochen. Als er endlich zurückrief, waren meine Hoffnungen groß, endlich einen Schritt weiterzukommen. In dem kurzen Gespräch mit ihm stellte sich jedoch heraus, dass er zwar der richtige Fred war, aber seit einem halben Jahr nichts von Tante Mariebelle gehört hatte.

      »Ich sehe sie ja nächste Woche«, sagte er, »und was den Hohen Meißner angeht, ist schon alles von Gitta organisiert worden. Solange nichts dazwischen kommt, gibt es vor dem Trip keinen Anlass, dass sich einer beim anderen meldet.«

      »Die Wandertour haben Sie also nicht vorverlegt?«

      Fred verneinte. Immerhin konnte er mir die Unterkunft nennen, die Gitta für alle drei ausgewählt hatte. Zu meinem Bedauern war es eines der Hotels, die ich schon angerufen hatte. Dort hatte man von einer Mariebelle Puttensen nichts gewusst – wahrscheinlich hatte die ominöse Gitta die Zimmer nur auf ihren eigenen Namen gebucht.

      »Vergebliche Liebesmüh«, stöhnte ich genervt. »Hoffentlich hat Tony mehr Glück.«

      Ich schaute in meine diversen Posteingänge, aber keine Email, keine SMS, keine Nachricht von ihm war zu finden.

      »Nicht, dass er auch noch spurlos verschwindet«, bangte ich, zugegebenermaßen ein bisschen panisch.

      Dann hatte ich eine Eingebung, wie ich Tante Mariebelle doch noch aufspüren könnte.

      *

      Tonys Reise nach Niederfichtel und zurück dürfte nicht länger als zwei Tage dauern, so hatten wir es jedenfalls ausgerechnet. Als Treffpunkt war das Café am Eck ausgemacht worden, wo wir uns exakt zur Mittagsstunde sehen und über die neuesten Erkenntnisse austauschen wollten.

      Ich war eine halbe Stunde zu zeitig da, weil ich das Herumsitzen daheim nicht mehr aushalten konnte, und bestellte mir gleich zwei Bananenmilchshakes auf einmal, um das Warten zu verkürzen. Außer mir war nur ein Herr im weißen Anzug im Café. Trotz des warmen Wetters zog er es vor, drinnen zu sitzen, und sogar dort behielt er seinen Strohhut auf. Immer wieder sah er zu mir hinaus und ich fürchtete schon, er würde sich zu mir setzen und mich anbaggern, wenn ich noch weiter allein blieb.

      »Komm schon, Tony, lass mich nicht hängen«, flüsterte ich und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

      Auf einmal stand er neben mir, als ob er meinen Wunsch erhört hätte.

      »Da bin ich«, grüßte er und kam direkt zur Sache. »Wie war deine Recherche?«

      »Leider sehr unbefriedigend«, antwortete ich. »Tante Mariebelle ist nicht einmal in der Nähe vom Hohen Meißner. Ihre Freunde, die mit ihr demnächst dort wandern wollen, haben auch nichts von ihr gehört. Und wie war es in Niederfichtel?«

      »Oh, sehr enttäuschend«, sagte Tony traurig. »Dieses Schloss Liebreiz ist überhaupt kein richtiges Schloss. Von dem eigentlichen Bau ist nur eine Ruine übriggeblieben, die im Parkgelände der Schönheitsfarm besichtigt werden kann. Für die Kunden des Etablissements ist der Besuch kostenfrei, alle anderen Touristen müssen zahlen. Das, was sich heute Schloss Liebreiz nennt, ist das ausgebaute Zeughaus, das ursprünglich zur Ruine gehörte. Es liegt nahe einer Thermalquelle oder Heilquelle oder dergleichen. Daher kam jemand auf die Idee, dort dieses Wellnesshotel für wohlsituierte Damen und Herren zu machen.«

      »Wohlsituiert?«

      »Oh ja, da kommt nicht jeder rein. Die Preise sind recht hoch. Alles sehr exklusiv. Und keinerlei mittelalterliche Atmosphäre für den armen Tony.«

      »Um die geht es uns ja auch nicht«, sagte ich schnippisch. »Was hast du über Tante Mariebelle herausgefunden?«

      »Tja, eigentlich nichts«, gestand Tony, fügte aber schnell hinzu:

      »Interessant ist allerdings, wie ich dieses Nichts herausgefunden habe.«

      Ich verstand nicht, was er damit meinte.

      »Lass mich alles ganz genau erzählen, sobald ich meinen Kiwi-Eisbecher habe«, sagte Tony, und nachdem man ihm die Leckerei serviert hatte, begann er seine Geschichte:

      »Als ich auf Schloss Liebreiz eintraf, ging ich sofort zur Rezeption. Ich stellte mich vor und behauptete, der Sohn einer Kundin zu sein und dass ich nicht sicher wäre, ob sie noch auf der Schönheitsfarm weilt oder schon abgereist sei. Der Rezeptionist, ein dünner Typ mit Föhnfrisur und viel zu akkuraten Fingernägeln, wirkte zunächst aufgeschlossen und fragte mich nach dem Namen der Gesuchten. Als ich ihn nannte, änderte sich sein Benehmen schlagartig.