Hans Patschke - Herausgeber Jürgen Ruszkowski

Frequenzwechsel


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holte mich mein „Nachbar“ ohne Verzug zur genannten Heuerstelle. Man befand mich nach pro forma Austausch von ein paar englischen Brocken als Decksjunge für die „GABOON“ - Reederei, Elder Dempster & Co / Liverpool - geeignet, und ab ging es nach dem britischen Generalkonsulat zur amtlichen Musterung. Dort gab es nach Erledigung der Formalitäten für jeden gemusterten Mann von einem Reederei-Vertreter eine “advance-note“ (Vorschuss-Bescheinigung) in halber Höhe der Heuer des betreffenden als irgendwer angemusterten Seemannes. Bei den Engländern war diese Art Bevorschussung irgendwie gesetzliche Vorschrift. Die Note war ein bedrucktes Stück Papier – Schiffsname, Reederei, Name und Vorname des gemusterten Schiffsmannes, Dienstgrad und Vorschussbetrag - und sozusagen ein zu beleihender Berechtigungsschein des vorzeigenden Seemannes, den der Eigner bzw. Reeder oder dessen Agent ab drittem Tag nach Verlassen des Schiffes aus dem letzten europäischen Festlandhafen dem Beleiher in bezeichneter Höhe der Vorschusssumme in englischer Währung auszahlte. So weit, so gut, die Sache hatte nur den einen Haken, jemand zu finden, der den Gutschein einzulösen bereit war, bzw. den Angemusterten gut und zuverlässig für die Einwechslung des Vorschussbetrages erachtete. Das war bei vielen oder zumindest manchen der gemusterten Seeleute ein schwieriger Punkt, sie waren als Verschwender zwar überaus beliebt, aber als Garanten für geschäftliche Vereinbarungen z. T. unzuverlässige Partner, daher im schlimmsten Fall für den Einlöser nur dankbare Ausbeutungsobjekte. Verheiratete Seeleute waren gut dran, sie gaben den Vorschussschein den Ihren, andere vertranken ihn unterpari oder lösten ihn mehr schlecht als recht beim „Juden“ (Seemannsausrüster) gegen Ware oder bei leichten Mädchen gegen billige Liebe ein. Das Risiko einer finanziellen Bauchlandung bei diesem Wechselgeschäft konnte unter widrigen Umständen jeden, nur niemals den neuen Arbeitgeber selber treffen. Wer zum anderen noch Geld auf der „hohen Kante“ hatte, der verzichtete besser auf seinen Vorschuss und gab seine „advance note“ nach Einschiffung dem Zahlmeister an Bord zurück. Für englische Schiffe war es im Übrigen damals typisch, dass zumindest für die Mannschaftsdienstgrade Heuerabschlüsse für nur eine Reise - z. B. von Hamburg bis Hamburg oder bis erstem Europahafen - getätigt wurden. Man musste also beispielsweise in Hamburg bei Rückkehr wieder abmustern und, falls einem das Schiff gefiel, doch vor Antritt der nächsten Reise neu anmustern. Während der Liegezeit seines „Potts“ in Hamburg war man ohne Verdienst, eventuell wochenlang. Die englischen Heuern waren an sich damals höher als die deutschen. Überstunden wurden jedoch beim Engländer nicht bezahlt, man musste sie je nach Maßgabe der Schiffsleitung abbummeln, selten im Hafen, meistens auf See. Das Entgelt „unterm Strich“ war also, im Grunde genommen, um nichts besser als die Entlohnung auf deutschen Schiffen. Im Gegenteil, es gab auf Ausländern eher Nachteile, weil man ohne Entrichtung der deutschen Sozialabgaben natürlich - z. B. im Krankheitsfall - keinen Anspruch auf deutsche Sozialleistungen hatte. Dem Neuling werden solche Unterschiede meistenteils erst dann klar, wenn die Einsicht zu spät kommt. Zum Glück blieben mir derlei Erkenntnisse erspart. Mein neuer Arbeitgeber war jetzt also die britische Elder Dempeter & Co mit Hauptkontoren in London und Liverpool und einer großen Agentur in Hamburg, eine große und seriöse Reederei, die ihre vielen Schiffe, meist Dampfschiffe, fast ausschließlich in der großen Küstenfahrt nach der Westküste Afrikas beschäftigte. Ihre GABOON, Heimathafen Liverpool, jetzt für wenigstens eine Reise mein „Brotschiff“, war ein handiger Kasten von etwa rund 2.500 BRT, als Stückgutschiff ein so genannter Shelterdecker (durchgehendes Zwischendeck vorn und achtern). Im Vergleich zu HF49 kam mir dieser mein zweiter „Schlitten“ einfach imposant vor, als ob ich eine Hütte verlassen und nun in einem Schloss wohnte - trotz Massenlogis für 12 deckshands. Mein Untersatz gefiel mir auf Anhieb - eine für ein greenhorn verständliche und verzeihliche Einschätzung. Tatsächlich war GABOON eben ein Abklatsch und Erzeugnis ihrer Zeit und keineswegs luxuriös. An Bord unter dem Kommando von Master Small - er war auch figürlich klein - standen über 30 Mann Besatzung aus mindestens einem halben Dutzend Nationen. Die Maschinen-Mannschaftsgrade, Heizer und Trimmer (Kohlenzieher) waren ausschließlich Schwarze, Neger aus den britischen Kolonien Westafrikas. Dieses Sammelsurium von Nationalitäten gab dem Schiff in meinen Augen das Flair des Exotischen und den besonderen „Duft der weiten Welt“. Als angemusterter Decksjunge war ich zwar nur sozusagen der Geringste der Geringen, ich fühlte mich trotzdem als kleiner König und eben auch dazu berufen und ausersehen, mit diesem „Renner“ (das hielt sich in Grenzen) die ferne fremde Welt zu entdecken und zu erobern. Die angesichts der Schiffsgröße relativ starke Decksmannschaft von 6 Matrosen, 2 Leichtmatrosen, 2 Jungmännern und 2 Decksjungen, dazu Boots- und Zimmermann setzte sich bei den „AB‘s“ (Vollgraden) aus älteren, lang befahrenen, in ihrem Fach sehr beschlagenen Leuten zusammen, aus deren Arbeitsweise und seemännischer Tätigkeit ein Neuling praktisch auf Schritt und Tritt etwas lernen konnte. Ich habe daher gleich mit Anbeginn meiner Decksfahrt viel Möglichkeit zum Aufnehmen der damals nötigen seemännischen Handarbeits-Kenntnisse gehabt und auch tatsächlich weitaus mehr auf meinen drei Engländern (es folgten noch zwei weitere) gelernt, als das auf meinen deutschen Schiffen - nach späterer Vergleichsmöglichkeit - der Fall gewesen wäre. Woran das lag? Wahrscheinlich an den verschiedenen Ansichten über Einsatz und Tätigkeit von Junggraden rein äußerlich, inhaltlich war es zum anderen zweifellos begründet durch die, zumindest derzeit andere, eben gemäß deutscher Mentalität gebildete Meinung über die Arbeitsteilung an Bord je nach Rangunterschied und Würde. Auch auf ausländischen Schiffen kannte und kennt man Klassen und Ränge, aber auf ihnen fehlten deutscher Drill und deutsche Arroganz - eine leider typische Eigenart deutscher Menschen, auch wenn sie sich oft nur in absoluter Besserwisserei kundtat und tut. Auf den Engländern jedenfalls waren tatsächliche Leistung und ohne Augendienerei gezeigter Diensteifer wichtig. Aber sei dem, wie es sei, meine ersten knapp drei Monate währende Reise nach der Westküste des mittleren Afrikas nahm also zwei Tage nach meiner Anmusterung ihren Anfang, und auf Aus- und Heimreise wurden in ihrem Ablauf insgesamt 22 Häfen angelaufen, davon 15 an der Küste des schwarzen Erdteils selber. Hin ging es via Rotterdam - Antwerpen - Madeira - Las Palmas, zurück via Las Palmas - Amsterdam - Hamburg. Als GABOON nach Ablegen vom Kai in Hamburg elbabwärts dampfte, durchrieselte mich beim Rückblick auf „meine“ in immer weitere Ferne entschwindende Stadt zum ersten Mal das seltsame Gefühl eines Abschieds mit später oder möglicherweise gar ohne Wiederkehr. Dass es einer von in der Folge unendlich vielen gleichen Abschiedsmomenten war, konnte ich derzeit höchstens ahnen, dass ein solches Valet-Sagen aber ein fester Bestandteil des Seemannseins, ein Teil Seemannslos war, wurde mir jedenfalls in diesem Moment klar und deutlich bewusst. Vielleicht muss bei Verlassen des Heimathafens zum Antritt einer langen Reise jeder Fahrensmann immer wieder so etwas wie seinen „inneren Schweinehund“, die in ihm aufkommenden vagen Zweifel mehr oder weniger erfolgreich besiegen können, wenn er dem erwählten Beruf, seiner Mission, für viele Jahre die Treue halten soll und will. Ein Abschiednehmen gleich welcher Art ist immer schwer, und mag es auch hinterher meistenteils mit einer glücklichen Wiederkehr enden und im Seemannsleben eben das übliche sein, so fordert es im Verein mit anderen ähnlich gelagerten Gefühlssituationen jedem Fahrensmann mindest eine Portion Selbstzucht, gegebenenfalls auch eine gute Prise von gesundem Fatalismus ab. Wahrscheinlich langten aber meine damaligen ersten Erkenntnisse noch nicht für Philosophistereien solcher Art, und das war sicher gut so. SS GABOON dampfte also elbabwärts und legte sich dann wegen starken NW-Sturms nach Passieren Cuxhavens vor Anker. Dort lagen bereits einige andere Schiffe in Ruhestellung, und alle hofften wohl auf eine baldige Wetterbesserung. Neue Erkenntnis für mich: auch Schiffe vom Format der GABOON sind anscheinend verwundbar oder, was noch schlimmer sein dürfte, mit einem zu ängstlichen Capitano besetzt. Was wusste ich damals schon vom Mordbuben Nordsee bzw. von den gefährlichen Sänden links und rechts des Fahrwassers der Elbmündung. Das heißt, viel Zeit zum Nachdenken hatte ich nicht, auf einem auslaufenden Schiff gibt es genügend Arbeit, dazwischen die betuliche Bedienung von Boots- und Zimmermann und der Herren Matrosen bei den Mahlzeiten, und die scheuchten derzeit einen „Moses“ recht kräftig durch die Gegend. Immerhin gelangten wir nach langem Abwarten, viel Regen und Sturm schließlich trotzdem erst nach Rotterdam, dann Antwerpen, ohne dass ich der Schiffsleitung eine Weg-Belehrung zu geben brauchte. Die genannten beiden Hafenstädte fand ich im Übrigen sehr schön und sah sie mir auf meinen mehrstündigen abendlichen Spaziergängen auch wirklich gründlich an, eben weil ich kein „Kleingeld“ für abenteuerliche Exkursionen zur Verfügung hatte. Auch eine erste Erfahrung für später: Allein und mit leeren Taschen unterwegs, du siehst mehr als die Reichen unter deinen Kollegen, die Reichen kommen meist arm heim,