Hans Patschke - Herausgeber Jürgen Ruszkowski

Frequenzwechsel


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Zeit zu unterscheiden, wurden vielmehr zwischen den Polen hin und her gerissen und suchten Auswege bzw. in der Ausweglosigkeit eine Stimulans. Man wurde wie in der Monarchie auch in der Republik überall gegängelt, Tabus und Klassenunterschiede gab es wie eh und je, von dem natürlich missverstanden Begriff Freiheit schien real wenig verwirklicht zu sein.

       Abitur im zweiten Anlauf

      Auch ich setzte fälschlicherweise diesen Begriff etwa dem „erlaubt ist, was gefällt“ (Göthe in Tasso) gleich, fühlte mich von Eltern und Paukern unwürdig unterdrückt und löckte auf meine Art wider den Stachel. Meine lockere Lebensweise im Verein mit stetig wachsender Faulheit in schulischen Dingen waren natürlich auch meinen Eltern nicht verborgen geblieben, und darob gab es auch zu Hause oft Ermahnungen, Verbote und Zerwürfnisse. In meinem Trotz wider die hohe „Obrigkeit“, meiner Machtprobe gegen Eltern und Lehrer übersah ich, oft sogar wider besseres Wissen, die eigenen Fehler, die mich in eine Sackgasse geführt hatten. Erst war mein Abitur-Durchfall zu Märzbeginn 1925, eine von mir wohl ungewollte, aber geradezu vorprogrammierte Folge, eine Quittung, deren Erteilung durchaus ihre Berechtigung hatte. Meine Lehrer waren gut beraten, mir im Abstimmungsergebnis von contra 24 zu pro 2 Stimmen die „Reife“ zu verweigern, ich zog daraus für später die wertvolle Lehre - zumindest im Jahr darauf nach erfolgreich wiederholtem Abitur - dass man nie mit dem Kopf durch die Wand kommt, zum anderen in manchen Lagen ein guter Kompromiss, vorzugsweise für jemand in von vornherein unterlegener Position, wertvoller sein kann, als das „hohe Ross“. Durchgerauscht im ersten Abi-Versuch war ich im Übrigen wegen schlechter Leistungen in Französisch und Chemie und mieser Beurteilung meines Betragens außerhalb der Schule. Zwei Fünfer in der Benotung genügten derzeit auch bei genügend vorhandenem Ausgleich zum Durchfallen, so genannte Vorabiturs gab es nicht. Man konnte mündlich in allen Fächern geprüft werden, außer Zeichnen und Turnen. Das nur so nebenbei zur Erklärung. Glücklicherweise hatte ich noch keine beruflichen Zusagen vor dieser ersten Reifeprüfung erhalten - ein Jahr später allerdings auch nicht -‚ praktisch hatte ich mit meinem „Niederschlag“ also nur meine Eltern schwer enttäuscht, etwaige Gratulanten ausgeladen und schließlich mich selber blamiert und um eine ganze Portion falschen Selbstbewusstseins gebracht. Darüber hinaus möchte ich sagen, dass mein Entschluss, mein späteres Berufsleben der Seefahrt zu verschreiben, durch diese erlittene Enttäuschung eher bestärkt als ins Wanken gebracht wurde. Was immer ich mir auch damals unter Seefahrt vorgestellt haben mag. Sie erschien mir jedenfalls, von ihrer Realität und Attraktion abgesehen, als einziger Rettungsanker gewissermaßen als Tauchstation in und aus einem Dasein der üblichen Konventionen nach bürgerlicher Auffassung, die mir nur Zwang und Schematik zu bieten schienen. Obwohl meine seinerzeitige Bewerbung als Offiziersanwärter bei der Reichsmarine unter einer hohen Eingangsnummer gleicher Nachsuche mit „kein Bedarf für Bewerber“ per Vordruck-Karte abgewiesen war - eine gleiche Absage erhielt ein Klassenkamerad, bester Turner und Sportler unserer Schule - so war ich in jugendlichem Unverstand zumindest der Meinung, dass man sicher bei der in gewaltigem Aufschwung befindlichen deutschen Handelsmarine praktisch nur noch auf mein Erscheinen warte. Illusionen sind schön, besonders, wenn man sie zur Aufwertung der eigenen Unzulänglichkeit dringend benötigt. Meine Eltern standen derlei Träumen ihres Versager-Sprösslings wohl nicht ablehnend, aber - gemäß ihrer traditionellen Denkungsart - zumindest sehr skeptisch gegenüber, zum anderen bestand mein Vater erstmals vor allem auf Ablegung des Abiturs, bevor er diesbezüglich mit sich reden lassen wollte. Aus eigener, wenn auch verspäteter Überzeugung und aus einer Art inneren ultimativen Zwangs den Eltern, der Schule und mir selber gegenüber war ich jetzt kompromissbereit, und sei es letztlich auch nur mein Ehrgeiz gewesen, der mich damals bewog, mich anderen und mir selber gegenüber zu rehabilitieren. Das gelang dann auch ein Jahr später, anno 1926 am 11. März, was insofern mit genauer Akribie meinerseits vermerkt wird, weil ich in diesem Datum den Abschluss meiner Jugendzeit und meines Daseins in Tilsit sehe. Als junger Seemann habe ich meine Geburtsstadt 1927 noch einmal für zwei oder drei Tage ohne große Erinnerung an diesen kurzen Aufenthalt besucht, dann gingen die Jahre - meine Eltern waren inzwischen nach Angerburg / Ostpreußen verzogen - im Wandern zwischen den Kontinenten ohne eine Verbindung mit meiner Stadt und ehemaligen Schulkameraden dahin. Auf einmal gab es kein Tilsit mehr. Der Name steht nur noch für eine ehemals geschichtsträchtige deutsche, besser gesagt, preußische Stadt, in den Annalen von Historikern. Der Ort, wo meine Wiege stand, heißt heute Sowjetsk und hat wahrscheinlich nicht mehr viel mit dem alten Tilsit gemeinsam. Dass der Abschluss meiner Jugendphase noch mit einem Paukenschlag besonderer Art endete, das war zweifellos von mir unbeabsichtigt, lag aber genau auf der Linie, auch irgendwie als Schlusspunkt eines seit längerem praktizierten Lotterlebens. Nach einer ziemlich feuchten Gratulationstour bei einem durch Krankheit verspäteten Einzelabiturienten aus meiner gewesenen Klasse zog ich mit zwei anderen Knaben, Primaner, also noch Schüler, beschwingt und halbwegs sensationslustig zu mitternächtlicher Stunde durch die nachtschlafende Stadt. Menschenleer sind Gassen und Straßen. Siehe da, man traut kaum seinen Augen, recht voraus, auf gleichem Kurs wie wir zwei Mägdelein mit einem Kavalier. Das Verhältnis 2:1 schien uns korrekturbedürftig, daher ran an den Feind! Ich spreche also eine der Damen, die an sich nichts mit einer wirklichen Dame gemeinsam hatte, in immerhin schicklicher Form an, sie reagiert dagegen sauer mit zum Schlage ausholender Hand. Abfangen dieser ihrer „zarten“ Absicht und Stoss vor den Latz der Kleinen als Reaktion meinerseits, kurzum, das Mädchen saß plötzlich vor mir auf der Straße und beschimpfte mich recht unzart. Ich konnte darob nur lachen und blieb hinfort auch ohne weitere Aktivitäten nur noch belustigter Zuschauer. Der Galant der beiden Hübschen - was sie bei Ampelbeleuchtung real keineswegs waren - hatte sich trotz seiner wehrhaften Erscheinung unbemerkt in Luft aufgelöst. Inzwischen schienen jedoch meine beiden Kumpels Glaubens zu sein, dass jetzt ob des Mädchens unfeinen Redeschwalls ihre Stunde der Bewährung geschlagen habe. Sie gingen also in Position und versorgten die Damen - grundlos muss ich schon sagen - nach Wiederhochkommen meines Opfers mehrmals mit weiteren sanften Niederschlägen. Dass dieser Art Spiel in der Folge nicht gut ausgehen konnte, war klar, auch ohne Augenzeugnis eines Polizisten oder anderen Zeitgenossen, die Damen kannten uns wider allen Erwartens. Kurzum, die ganze böse Geschichte wurde im Nachhinein - ich war da schon von Tilsit fort – teuer. Beide Damen verklagten uns, und um es erst gar nicht bis zur Gerichtsverhandlung mit Inhalt Körperverletzung und Sachbeschädigung kommen zu lassen, bezahlten die Väter von uns drei Rüpeln - wir waren nach damaligem Recht ja noch nicht volljährig – den Klägerinnen im Vergleichsverfahren ein Schmerzensgeld sowie eine Ersatzsumme für die auf der vereisten Straße beim erzwungenen „Setz dich“ angeblich zerrissenen Schlüpfer beider Damen. Meine beiden Gesinnungsgenossen erhielten außerdem à cto ihrer falsch gesteuerten Tatkraft seitens der Schule - sie waren noch Schüler der Unterprima - das „consilium abeundi“ (Rat zum Abgang von der Penne - damals schärfste Schulstrafe), ich selber hatte glücklicherweise bereits mein Reifezeugnis ausgehändigt erhalten und unterlag nicht mehr irgendwelchen Schulregeln. Es bleibt nur noch zu erwähnen, dass mir auch dieses Ereignis für später eine gute Lehre gewesen ist, niemals mehr habe ich seitdem eine Berührung mit Strafrichtern gehabt. Immerhin mag nun auch ein neutraler Leser meiner Aufzeichnungen aus dem „Leben eines Taugenichts“ zu dem Standpunkt gekommen sein, dass jetzt das Maß des gerade noch Erträglichen reichlich voll sei und mein Abschied von Tilsit durchaus geboten schien.

      Abschied von der Vaterstadt Tilsit – Aufbruch in die Welt

      Ich will zur See – 1926

      Der Fortgang aus meiner Geburtsstadt geschah in den Resttagen des Aprils 1926. Es war meinerseits kein Abschied unter Tränen, weitaus mehr ein Anbeginn der Hoffnung und Erwartung auf die endlich durchsetzbare Selbstverwirklichung in einem Traumberuf, so nebulos solche Vorstellung derzeit auch immer bei mir gewesen sein mag. Warnung vor den neuen Schwierigkeiten, die sich mit viel Schweiß vor dem Preis aufbauen würden, gab es genügend. Alle bislang verschickten Bewerbungen an Heuerstellen, Reedereien usw. waren negativ beantwortet worden, nun hieß es, den Feind vor Ort selber am besten in Deutschlands größter Hafenstadt zu bestürmen. Beladen mit viel Segenswünschen und Gepäck zog ich jedenfalls frohgemut an einem dunklen Frühlingsabend in Hamburg ein. Der späten Ankunftsstunde wegen konnte ich von dieser