Malte Kersten

Nach dem Eis


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die Kommissarin. Es fühlte sich hier an wie Sommer in Kiel. Ich stöpselte mir meine Kopfhörer ein und suchte in meinem Handy einen lokalen Radiosender mit Tangomusik. Mehrere Sender spielten Musik dieser Richtung. Traditionsbewusst. Ich entschied mich für den dritten. Vielleicht war es der Sender, den ich schon im Taxi vom Flugplatz zum Hotel gehört hatte. Katja, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt zum Telefonieren. Oder doch besser meine Eltern anrufen. Erst noch ein wenig in der Sonne sitzen und beim Tango die fremde Ruhe aufsaugen.

      Vereinzelte Gesprächsfetzen vom Betreuungsprofessor meiner Doktorarbeit, meinem ehemaligen Betreuer, drangen in mein Bewusstsein. Drängten an die Oberfläche und signalisierten noch deutlicher, dass ich hier, weit weg, richtig war. Wurden aber immer intensiver und drohten, die realen Eindrücke zu überdecken. Ich stand auf.

      „Katja?“ Die Verbindung knackte, als sie endlich abhob und ich hörte neben meiner eigenen noch mindestens drei weitere Stimmen. „Ich bin es. Ich bin jetzt fast am Südpol. Kannst du mich hören?“

      „Ja“, kam es zart zurück. „Aber nur schlecht. Bist du schon auf See?“ Eine der weiteren Stimmen stellte eine Frage.

      „Nein, noch nicht, ich bin hier in Ushuaia und warte jetzt am Hafen auf das Schiff. Und ich muss dir sagen, du hast mir das Leben gerettet.“

      Katja oder eine der anderen Stimme wollte mich unterbrechen, doch ich fuhr fort.

      „Doch wirklich, ich weiß es jetzt ganz genau, hier bin ich richtig. Es war die absolut richtige Entscheidung. Ich wäre in Kiel nichts mehr geworden.“ Irgendeine spanische Antwort in doppelter Geschwindigkeit.

      Ein Signalhorn erfüllte die gesamte Bucht. Ein kleines, blaues Schiff kam direkt auf den Hafen zu. Mein Schiff?

      „Katja, ich glaube, das Schiff kommt jetzt.“

      Ich hörte nur noch ein Durcheinander von leisen Stimmen und konnte Katjas Stimme nicht mehr heraushören. Das kleine Schiff sah einsam vor dem dramatischen Hintergrund aus.

      „Katja? Danke, danke für alles. Wir sehen uns in drei Monaten wieder! Und Katja? Kannst du bitte meinen Arbeitsplatz aufräumen, einfach alles wegwerfen, okay? Alles wegwerfen.“

      Den Rest schrie ich ins Telefon und war mir trotzdem nicht sicher, ob sie das noch hören konnte. Ich hatte Kiel überstürzt verlassen und keine Zeit mehr zum Aufräumen meines Arbeitsplatzes gehabt. Es tat mir natürlich Leid, Katja mit meinem akademischen Müll so allein zu lassen. Sie hatte mich einfach hinaus geschickt. Die Zeit wäre knapp und ich müsse zu Hause noch packen. Sie werde am Institut den Rest schon regeln. Viel wäre es ja nicht, hatte sie mit einem mitleidigen Blick auf meine fast leeren Bücherregale gesagt. Also hoffte ich, dass sie erstens meine Bitte verstanden hätte und zweitens es ihr nicht allzu viel ausmachen würde, alle meine Ausdrucke, Kopien und Konzeptpapiere in den Mülleimer wandern zu lassen. Einfach wegwerfen war mein Gedanke dabei. Nichts durchsehen, sortieren oder abheften, was eher Katjas Arbeitsweise war.

      Ich steckte mein Handy ein und trat an die Kaimauer. Wie spät war es jetzt eigentlich in Kiel? Ich rechnete nach. Das kleine Schiff hielt immer noch auf den Hafen zu und wurde schnell größer. Klein war es bestimmt nicht. Wahrscheinlich mein Schiff. Die Aufbauten sahen nach Forschungsschiff aus und ich glaubte es von Abbildungen her wiederzuerkennen. Ein paar weitere Personen sammelten sich an der Kaimauer. Ein Lieferwagen kam angefahren und blieb mit laufendem Motor stehen. Ich schaute auf die Uhr. Der Fahrer vom LKW gesellte sich zu den anderen Wartenden. Hatte ich jetzt Katja morgens um fünf aus dem Bett geklingelt? Wie spät war es in Kiel? Ich nahm mein Gepäck und ging auf die Gruppe zu. Ich sollte Katja ein Geschenk mitbringen. Aber das hatte noch Zeit. Andererseits im Packeis gab es keine Geschäfte. Aber hier am Hafen waren auch keine Geschäfte zu sehen. Nur der Imbiss. Also später.

       Meine Frage nach dem Schiff verstand natürlich niemand. Ich konnte es aber auch nur in Englisch formulieren. Es waren alle sehr bemüht. Sie stellten Fragen, die ich nun wiederum nicht verstand. Lediglich das Wort „científico“ kam mir bekannt vor. Da es grob in die richtige Richtung zu weisen schien, bejahte ich vorsichtig. Anerkennendes und verstehendes Nicken. Einer erklärte den anderen etwas mit großen Worten. Ich verstand nichts. Die Gespräche drohten zu verstummen. Der Mann zu meiner Linken zündete sich eine Zigarette an. Der erste fragte wieder etwas und wies mit der Hand zum Himmel. Ich sah hin, konnte aber nichts erkennen und verstand nicht, was er meinte. Er wiederholte die Frage. Dann war es klar. Er wies nach Süden und das Wort „antárctico“ fiel. Genau richtig. Ja, da wollte ich hin. Zumindest in die Nähe. Er nickte wieder und freute sich über den Fortschritt unserer multilingualen Kommunikation. Mein Schiff ließ wieder sein Signalhorn durch die gesamte Bucht schallen. Diesmal schon ziemlich laut. Es war nur noch wenige hundert Meter entfernt. Deutlich konnte ich die Aufbauten erkennen. Sie leuchteten in der Sonne. Im Hintergrund hohe, dunkle Berge mit vereisten Gipfeln. Über mir wieder kreischende Möwen, schlanker als die Möwen in Kiel. Ich fühlte mich wie als Kind zu Weihnachten. Oder wie am Steuer des Porsches, keine Ahnung, warum mir das gerade wieder einfiel. Zu Hause hing ein zerschrammtes Lenkrad an der Wand. Mein Gesprächspartner blickte genauso gespannt wie ich dem Schiff entgegen. Mein Schiff. Mein Zuhause für die nächsten drei Monate. Schön sah es aus, als es in der Sonne im sachten Bogen auf den Anleger zuhielt. Er nickte.

      Es dauerte noch einen Moment, bis das Schiff längsseits des Anlegers die Fahrt stoppte. Die Bug- und Heckstrahlruder schäumten das Hafenwasser laut auf, als es langsam auf die Kaimauer zu glitt. Hafenarbeiter standen jetzt am Kai und fingen rufend die zugeworfenen Leinen auf. Daran zogen sie kräftigere Tampen an Land und Motorwinden zogen diese fest. Die Möwen kreischten und die sich spannenden Seile spuckten seltsame Geräusche hervor.

      Das Schiff war fest vertäut, aber die Maschinen machten weiter Krach. Jetzt, da das Schiff direkt neben mir lag und ich es fast mit ausgestrecktem Arm anfassen konnte, war es deutlich größer, als es anfangs schien. Ich legte den Kopf in den Nacken, um die Aufbauten sehen zu können. Ein Kran schwenkte über die Bordwand. Meine spanische Konversationsgruppe hatte sich aufgelöst. Der wartende Transporter kam rückwärts näher herangefahren. Ein Kollege winkte den Wagen heran und ich trat zur Seite. Wahrscheinlich sollten noch mehr Ausrüstungsgegenstände oder Proviant verladen werden. Ein Taxi kam herangefahren und stoppte.

      „Hey, Cowboy. Auf dem Weg in den Süden?“

      Weit über mir lehnte sich jemand in einer roten, dick gepolsterten Jacke über die weiße Reling und winkte mir gelassen zu. Vollbärtig und irgendwie als typischer Polarreisender zu erkennen. In Kiel hatte ich ihn nicht kennen gelernt. Aber hier war ich mir gleich sicher, Bernd vor mir zu haben. Spontan beschloss ich, mich in den nächsten Wochen nicht mehr zu rasieren.

      „Ja, bin ich. Bernd?“

      „Warte mal, ich komme runter, bin gleich da.“

      Damit verschwand er wieder aus meinem Blickfeld. Es fühlte sich seltsam vertraut an, die ersten Worte in heimatlicher Sprache seit einigen tausend Kilometern zu hören (auch wenn es nur wenige Tage waren). Eine Gangway wurde ausgefahren und ein Durchgang in der Reling geöffnet. Einige von meinen wartenden argentinischen Bekannten gingen an Bord und diskutierten eindrucksvoll mit den Mitgliedern der Besatzung. Waren die Preise für die Waren noch nicht ausgehandelt? Bernd zwängte sich zwischen den Menschen hindurch und sprang die Gangway herab.

      Ein kräftiger Händedruck war alles, er lief zum wartenden LKW hinüber und fragte den Fahrer etwas. In perfektem Spanisch, wie mir neidvoll bewusst wurde. Dann kam er wieder zu mir herüber.

      „Hey, ist der neu?“

      Bernd musterte anerkennend meinen Daunenparka und griff nach dem Preisschild. Hatte ich doch noch übersehen.

      „Ich muss noch etwas mit den Ausrüstungsgegenständen regeln, bin gleich wieder da.“

      „Wann geht es denn los?“, erkundigte ich mich schnell.

      Bernd winkte ab. Es war noch genügend Zeit. Daher verdrückte ich mich ein wenig an die Seite, um nicht im Weg herumzustehen, und wartete ab. Der Argentinier fasste mich sachte am Arm. Er deutete auf das Schiff und sagte etwas. Ja, ich werde gleich an Bord gehen. Aber zunächst wartete ich noch auf Bernd, wo war er? Ich hatte ihn aus den Augen verloren.