Malte Kersten

Nach dem Eis


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Das hätte ich richtigstellen müssen. Der Empfang wurde deutlich schlechter. Alle Sätze mussten zwei bis dreimal wiederholt werden. Jetzt wirklich nur das Wichtigste: meine zeitlich beschränkte Erreichbarkeit.

      „In drei Monaten bin ich zurück. Hallo? Mama? In drei Monaten.“

      Ich hörte nur noch kurz die Stimme meiner Mutter ganz leise, dann brach das Gespräch ab. Das Display zeigte keinen Empfang mehr.

      „Das kannst du jetzt wegpacken. In der nächsten Zeit gibt es keinen Empfang mehr.“

      Der Seemann kontrollierte seine aufgerollten Seile und trottete davon. Das war jetzt in allerletzter Minute und irgendwie zu kurz. Ich müsste in der nächsten Zeit mit dem Satellitentelefon noch einmal nachfragen, ob sie alles verstanden hatte. Zumindest meine zwischenzeitlich eingeschränkte Erreichbarkeit.

      In einem sanften Bogen lag unsere Spur aus weißem Schaum auf dem bewegten Wasser. Bis zum Hafen von Ushuaia reichte diese Spur zurück. Und auch diese Verbindung zum Festland verwischte sich immer mehr. Bald würde davon nichts mehr zu sehen sein. Und das war gut so. Je mehr Wasser zwischen mir und dem Festland lag, umso besser. Kurz hatte ich das Bedürfnis, mein Handy ins tiefe Wasser zu werfen. Einfach alle Brücken abzubrechen. Aber dann wurde mir bewusst, dass ohne Empfang diese Brücke sowieso nutzlos wäre. Ich schaltete es aus und ließ es in der Jackentasche verschwinden. Einige Möwen schwebten fast bewegungslos dem Schiff hinterher. Das aufgeregte Kreischen im Hafen hatte sich gelegt. Ruhig beäugten sie mich von der Seite und glichen eine Windbö mit minimaler Flügelveränderung aus.

      Ein Neuanfang. Das spürte ich ganz deutlich, als ich zurückblickte. Auf diesem zwar recht stattlichen Schiff, aber im Vergleich zum Ozean doch winzigen Nussschale, fühlte ich mich so vollkommen sicher, wie schon seit langem nicht mehr. Niemand konnte mich hier finden. Unerreichbar für alles, auch Nachrichten. Unauffindbar. Komplett abgenabelt zu meiner Kieler Zeit. Ein Schnitt, wie er deutlicher kaum sein konnte. Nicht eine Auszeit, ein Neuanfang. Auch kein Richtungswechsel, etwas ganz Neues. Und spannend dazu. Ich wollte Eisberge sehen, mit Walen schnorcheln oder unter das Packeis tauchen. Sonnencreme. Ich hatte die Sonnencreme vergessen. War nicht über der Antarktis die Ozonschicht sehr dünn? Schnorcheln und Tauchen gehörten natürlich nicht zu meinen Aufgaben und auch nicht zu meinen praktizierten Sportarten. Aber sehen und wenn möglich auch anfassen wollte ich alles.

      Es könnte ungemütlich werden, hatte Bernd gesagt. Er meinte damit den Seegang. Die brüllenden Vierziger. Nur ein paar Tage, dann wäre es überstanden. Ich kam aus Kiel. Ich wusste nicht nur, wo achtern beim Schiff war, ich war auch einigermaßen seefest. Die ersten Symptome ignorierte ich. Völlig überrascht warf ich mein Buch weg, mit dem ich den Sturm aussitzen wollte, sprang vom Bett auf und schaffte es beim beginnenden Würgen gerade noch bis zum Waschbecken. Ich umklammerte die winzige Blechschüssel, um vom Schlingern des Schiffes nicht umgeworfen zu werden. Meine Zahnbürste nebst Zahnputzbecher rollten über den Fußboden. Mit einem leichten Scheppern stieß der Becher an die Wand und machte sich auf den Rückweg. Rollendes Geräusch bis er an die Wand sprang und wieder zurück musste. Ein Schluck kaltes Wasser beruhigte ein wenig meinen Magen. Der beißende Geschmack blieb. Auf den Horizont schauen, erinnerte ich mich. Einen festen Punkt für das Auge suchen. Ich ließ das Waschbecken zögerlich los und stolperte zurück in mein Schlafzimmer. Meine Tasche lag am Boden und bewegte sich zart synchron zu den Schiffsbewegungen. Ich musste mich ein wenig bücken, um den Horizont sehen zu können, beziehungsweise den Bereich, den ich für den Horizont hielt. Tiefe Wellentäler und weiße Gischt in dreckigen Streifen zogen an meinem Fenster vorbei. Weit konnte ich nicht sehen. Bald verschwamm alles in dunklem grau. Meine Versuche, die Balance zu halten, hatten zur Folge, dass mein Bullauge vor mir auf und ab tanzte. In meiner jetzigen Verfassung pures Gift für meinen Magen. Also an Deck. Frische Luft wäre sowieso das Beste. Obwohl in einer Lautsprecherdurchsage auf die Gefahren im Freien hingewiesen wurde. Ich versuchte, mich zu orientieren und die Leeseite an Deck zu erwischen. Auf der anderen Seite hätte ich die Tür gegen den Wind nicht aufstemmen können.

      Ich war nass, bevor ich den Türgriff losgelassen hatte. Unter Deck war es laut gewesen. Das Schiff ächzte und immer mal wieder waren dumpfe Schläge zu hören, die ein gesundes Vertrauen in die Technik verlangten. Aber draußen war der Krach deutlich stärker. Niederprasselnde Wellen, zischender Wind in den Masten der Kräne und den Aufbauten sowie das Aufschlagen des Schiffs auf Wellentäler vermischten sich zu einem fast homogenen Klangteppich in erdrückender Dichte.

      Zwischen Reling und Rettungsboot fand ich mich beim nächsten Wellental wieder und klammerte mich am Befestigungsarm des Bootes fest. Ich musste mich wieder übergeben. Richtige Seite – ging es mir noch durch den Kopf, bevor ich mich zusammenkrampfte und kniend zwischen zwei Würgeattacken nach Luft rang. Das Würgen nahm kein Ende. Der Regen peitschte mein Gesicht. Immer noch froh, nicht mehr in Kiel zu sein? Das Schiff machte einen kleinen Sprung und einen Moment lang verlor ich den Halt. Meine Hände verkrampften sich an dem eisigen Eisen der Reling. Nie mehr loslassen. Verschweißt mit dem Metall. Zum beißenden Geschmack im Mund und Rachen kam jetzt noch das Salz. Tränen oder Salzwasser. Meine Arme schmerzten. Es war ein seltsames Gefühl fest an das Schiff geklammert dessen Bewegungen zu folgen. Die Bewegungen waren weit und gleichmäßig (viel weiter ausholend, als ich es je gedacht hätte), aber überlagert von kurzen, unregelmäßigen Stößen.

      Ja, ich war froh, dort zu sein. Ich schrie gegen das Getöse aus Wind und Wassermassen an und war überzeugt, dass ich dennoch nicht zu hören war. Und es tat gut. Ich war mir sicher, dass die Seekrankheit vorübergehen würde, ohne Panikattacken. Graupelkörner bohrten sich in meine Haut. Ich stieß mir den Kopf am Geländer. Die Kälte zerrte an meinen Kräften und das nasse Hemd knallte im Wind. Zeit, wieder zurück in die Koje zu gehen. Wenn da nicht die paar Meter nassen, glatten Decks wären, welches ich überbrücken müsste. Ich wartete ein Wellental ab, um zumindest grob in Richtung Tür zu fallen, und ließ mein Geländer los.

      Zittrig vor Kälte und Anstrengung taumelte ich an der Essensausgabe vorbei, um mich ein wenig mit zuckerhaltigen Getränken einzudecken. Ich begegnete niemanden auf meinem mühsamen Weg. Ein Geisterschiff. Zurück in meiner Kammer zog ich erst das Rollo runter (der Anblick der richtungslosen Wassermassen war der reinste Horror) und ließ mich dann auf das Bett fallen. Mit ganz kleinen Schlucken gelang es mir ganz passabel, etwas zu trinken. Es kamen zwar keine weiteren Durchsagen mehr aber trotzdem oder gerade deswegen hoffte ich, dass die technische Grenze unseres Schiffes noch nicht erreicht und die Besatzung noch an Bord wäre. Ganz tief in meinem Inneren war ich aber immer noch zufrieden oder gar glücklich. Obwohl mein Kopf von dem Schlag gegen die Reling schmerzte, die Bewegungen des Schiffs beängstigend waren und kleinste Gedankenfetzen an feste Nahrung mir Würgeanfälle bescherten. Dem Unglück gerade noch entkommen. Wie Robinson Crusoe, der beim Erwachen nach dem Schiffbruch zwar nasses aber doch festes Land unter seiner Wange spürte. Nur mit dem Unterschied, dass ich das Festland verlassen hatte und mich jetzt auf hoher See befand. So dämmerte ich dem Süden immer näher.

      „Na, schon eingelebt hier an Bord?“

      Ich erkannte Bernd im Dämmerlicht schemenhaft. Er beugte sich über mich und sah mich aufmerksam an.

      „Geht so.“ Matte, müde Worte. Ich musste irgendwann eingeschlafen sein.

      „Na los, dann auf, wir gehen etwas essen. Und die Lüftung solltest du einschalten.“

      „Alles, nur das nicht.“ Ich meinte das Essen und hatte noch immer nicht den geringsten Appetit.

      „In Ordnung, dann zieh dir mal was über, ich zeige dir etwas.“

      Er sah sich um und verkniff sich offensichtlich einen Kommentar.

      Den Inhalt meiner Tasche hatte ich noch nicht in die Wandschränke sortiert. Zwei Tage lang rollten meine Sachen über den Fußboden und blieben am Ende erstaunlich gleichmäßig verteilt liegen. Mit wackeligen Knien suchte ich eine Hose und einen Pullover heraus.

      Das Schiff machte keine bockigen Bewegungen mehr und die Maschine war kaum zu hören. Ich folgte Bernd die Treppe nach oben und war nicht auf das gefasst, was ich dann sah. Bernd stemmte die schwere Metalltür auf und verschwand im gleißenden Licht. Ich war derart geblendet, dass ich die Augen einen Moment lang schließen musste. Außerirdische