Malte Kersten

Nach dem Eis


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sah sich um und meinte das verwüstete Büro. Mein Blick blieb an der aufgebrochenen Schublade hängen.

      Frau Hubertus bot den beiden Sanitätern einen Kaffee an, doch beide lehnten freundlich ab. Sie würden nur noch bis zum Eintreffen der Polizei hier warten. Wir aber gingen in das Sekretariat rüber und ich nahm gern eine Tasse Kaffee. Die Kaffeesahne malte spiralförmige Muster auf die Oberfläche und der heiße Becher wärmte mir die Hände. Der Rand der Tasse war angeschlagen. Es verwunderte mich, solch eine Tasse bei Frau Hubertus zu sehen. Ich versuchte, zunächst einmal nichts zu denken. Was mir nur bedingt gelang. Immer wieder kehrten die Gedanken zurück zum leblosen Oster. Oster klebte vor meinem inneren Auge. Letzte Worte von ihm drangen in mein Bewusstsein. Worte verbunden mit Arbeitsanweisungen, die zumindest viel Arbeit verursachten, meist auch Ärger. Denn didaktisch ausgereift waren Osters Anweisungen selten.

      Irgendwann schreckte uns die junge wissenschaftliche Hilfskraft aus den Gedanken, die ein paar Unterlagen für irgendeinen Professor abholen wollte. Perfekt gekleidet. Eine dieser Studentinnen, die das Studieren als gesellschaftliches Ereignis ansahen. Sie reagierte etwas irritiert, da wir so abwesend wirkten. Wir erklärten es ihr nicht. Sie würde es bald verstehen.

      Nicht lange, dann drang Elsters durchdringende Stimme wieder durch das Treppenhaus, den Flur, durch die angelehnte Tür bis in das Sekretariat hinein. Ohne verständliche Silben. Geräusche wie in einer Kathedrale. Der Klangteppich wurde intensiver und einzelne Silben traten hervor, bis die Gruppe das Sekretariat fast erreicht hatte.

      Frau Hubertus eilte zur Tür hinaus. Ich sah mich nach einer Möglichkeit um, meine leere Kaffeetasse abzustellen. Auf dem Arbeitsplatz von Frau Hubertus wollte ich sie nicht stehen lassen. Vielleicht sollte ich sie nachher sowieso noch abwaschen. Aber zunächst entschied ich mich für das kleine Tischchen mit der Kaffeemaschine. Etwas wenig Platz, aber es ging gerade noch.

      Vier Personen kamen uns entgegen, Elster im Gespräch mit dem Kommissar, wie ich vermutete, und zwei weitere Personen, die jeweils einen Koffer trugen. Ich nickte der Gruppe kurz zu, aber Elster steuerte schon weiter zu meinem Büro. Frau Hubertus und ich ließen alle vorbei und folgten dann der Gruppe. Der Kommissar war in mein Büro eingetreten und hatte etwas zu den Sanitätern gesagt. Dann kam er wieder in die Tür und sah sich prüfend im Flur um. Dabei trafen sich unsere Blicke.

      „Hauptkommissar Peters, Sie sind …“, sprach mich der Hauptkommissar an. Ich nannte meinen Namen und mein Angestelltenverhältnis am Institut. Er fragte, ob ich den Toten gefunden hätte. Somit hatte Elster ihm schon die knappen Fakten mitgeteilt. Er bat mich, mich zur Verfügung zu halten, da er gleich noch ein paar Fragen an mich hätte. Wobei die Bitte rein rhetorisch war, nahm ich an.

      Einer der Polizisten fragte uns, ob die Mitarbeiter der Büros auf der linken Seite des Flures auch auf anderem Weg das Gebäude verlassen könnten. Er müsse den Tatort absichern. Damit war klar, es war ein Tatort, nicht ein Unfallort. Ein kleiner Unterschied, der uns Unbehagen bereitete.

      In dieser Situation öffnete sich weiter hinten eine Tür und Johann schaute prüfend aus seinem Büro heraus, hoch erfreut, Menschen zu sehen und ganz besonders mich. Seinen Kaffeebecher schwenkend kam er fröhlich auf uns zu. Sicher wollte er bei Rolf vorbeischauen und anschließend mich von der Arbeit abhalten oder umgekehrt. Bei Rolf stand die Kaffeemaschine der Doktoranden.

      Als er bei uns anlangte, verlangsamten sich seine Schritte und er sah sich um. Der Polizeibeamte, in zivil gekleidet, jetzt wieder in ein Telefonat vertieft, machte einen konzentrierten, aktiven Eindruck, was auf dem Flur, abseits von einem Schreibtisch, hier eher unüblich war. Herr Elster war sehr in sich gekehrt, strich sich immer wieder mit einer Hand über das Kinn und schien über die ganze Angelegenheit intensiv nachzusinnen (vielleicht organisierte er im Kopf bereits die Wiederbesetzung der nun freigewordenen Professur). Frau Hubertus konnte ihre Nervosität kaum verbergen. Sie schaute mal in die eine Richtung, ging mal in die andere.

      „Was ist den hier los?“, fragte mich Johann fröhlich, nachdem er Herrn Elster begrüßt und ihn damit kurzfristig aus seinen Gedanken geholt hatte. Aufmerksam betrachtete er den Polizeibeamten.

      „Wir haben Besuch von der Polizei“, antwortete ich ausweichend.

      Mir war nicht klar, ob ich die ganze Geschichte erzählen sollte. Jetzt, da die Polizei anfing, den Tatort zu untersuchen. Hilfe suchend sah ich Frau Hubertus an. Diese besann sich kurz und meinte dann: „Herr Oster ist gestorben, die Polizei überprüft dies nun.“

      „Gestorben?“

      „Ja“, antwortete ich, „er liegt in meinem Büro.“

      „Mach kein Scheiß, tot in deinem Büro?“

      „Ja.“

      „Nein.“ Ungläubig.

      „Doch.“

      Er schaute sich kurz um, um die Situation mit diesen neuen Informationen zu erfassen.

      „Hast du ihn dort gefunden?“

      Ich erzählte ihm kurz den ganzen Verlauf meines erschreckenden Morgens.

      Johann war begeistert.

      „Mensch Alter, da kommst du morgens ins Büro, willst dir erst mal einen Kaffee holen, um richtig wach zu werden, und da liegt dein Prof tot vor dir. Wahrscheinlich hast du nicht einmal seine letzten Anmerkungen umgesetzt, oder?“

      Doch, hatte ich, wenn auch nicht alles. Ein Punkt kam mir völlig übertrieben vor. Ich ließ es darauf ankommen und schrieb den Absatz nicht neu. Hatte sich nun erledigt.

      Johann schaute mich grinsend an, bevor er sich etwas erschrocken der Gegenwart von Herrn Elster bewusst wurde. Dieser stand immerhin in Hörweite, immer noch in sich gekehrt. Aber er hatte offensichtlich nichts wahrgenommen, sodass Johann nur eine Grimasse schnitt, die zu bedeuten schien, dass er zukünftig nicht so respektlos über einen toten Professor sprechen wollte. Zu Lebzeiten Herrn Osters hatte Johann keinesfalls respektvoll über diesen gesprochen.

      „Und wie ist das passiert? Ein Unfall?“, fragte er etwas leiser.

      „Nein, sieht nicht richtig danach aus.“

      „Also normal gestorben oder hast du nachgeholfen?“

      „Quatsch. Keine Ahnung, das müssen die da herausbekommen.“ Ich nickte kurz in Richtung meines Büros.

      Johann dachte einen Moment lang nach.

      „Wo warst du zwischen drei Uhr früh und sagen wir mal acht Uhr?“, fragte er dann.

      Erstaunt sah ich ihn an.

      „Ja, meinst du etwa, du scheidest als Tatverdächtiger aus? Nach den Korrekturen, die du bekommen hast? Ich würde sagen, du bist der Hauptverdächtige. Wobei jeder Richter dafür Verständnis haben wird, wenn er erfährt, wie Oster war.“

      „Hör auf.“

      „Du kannst ein Alibi von mir haben, sagen wir, wir haben die ganze Nacht durchgezecht, okay?“

      „Johann!“

      Ich musste raus. „Wie spät ist es eigentlich, wollen wir gleich in die Mensa gehen? Oder wie lange müssen wir hier noch warten?“

      Für die Mensa war es vermutlich noch etwas früh. Aber ein Ortswechsel musste bald her.

      „Sicher möchte der Kommissar noch einige Fragen an uns richten, denke ich, besonders an Sie“, meinte Frau Hubertus und sah sich nach dem Polizeibeamten um.

      Dieser ging gerade einem uniformierten Kollegen entgegen, der die Treppe herauf kam. Gemeinsam begannen sie, den Flur mit gelben Plastikbändern abzusperren, erst auf der rechten Seite von uns, dann auf der linken.

      „Hey, ist ja geil, jetzt kann ich gar nicht mehr zurück zur Forschung“, sagte Johann fröhlich, „so richtig produktiv war ich heute sowieso nicht.“

      Wieder der vorwurfsvolle Blick von Frau Hubertus.

      Auch Professor Elster schien sich der eingesperrten Lage plötzlich bewusst zu werden.