Malte Kersten

Nach dem Eis


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ich etwas übertrieben. Aber irgendetwas war dort in der Tat passiert. Normal sah es nicht aus. Zumal Oster nun tot daneben saß. Gestorben an einen cholerischen Anfall? Meine letzte Textpassage, die ich ihm vor ein paar Tagen geschickt hatte? Das überarbeitete zweite Kapitel meiner Doktorarbeit?

      „Wen müssen wir denn jetzt benachrichtigen?“, fragte Frau Hubertus.

      „Doch bestimmt zuerst den Dekan oder sollen wir die Polizei rufen?“

      „Den Notarzt?“

      Überflüssig, vermutete ich, doch sollten wir nichts unversucht lassen. Daher bot ich an, einen Rettungswagen zu rufen. Frau Hubertus wollte den Dekan benachrichtigen. Sie nahm etwas zögerlich den Telefonhörer in die Hand, besann sich einen Moment und wählte dann eine kurze Nummer. Ich nahm mein Handy und wählte die Notrufnummer. Gleichzeitig nahm offensichtlich beim Dekan jemand das Gespräch entgegen.

      Mit zarter Stimme sagte Frau Hubertus: „Else, hier ist etwas Schreckliches passiert!“

      Sie stockte einen Moment und blickte mich suchend an, als würde sie jetzt eine angemessene Formulierung für diese ungewöhnliche Situation brauchen. Im selben Moment nahm die Notrufzentrale meinen Anruf an.

      Ich nannte meinen Namen und den Ort, von dem ich anrief.

      „Professor Oster liegt tot in seinem Büro.“

      Frau Hubertus übernahm in etwa meine Formulierung. Es trat eine Pause ein, in der sie der Sekretärin des Dekans lauschte.

      Ich beschrieb kurz, was wir gesehen hatten, Oster tot in seinem Stuhl, zumindest ohne Puls, ohne Atmung, mit offenen Augen, keine sichtbaren Verletzungen.

      Nach kurzer Zeit fuhr Frau Hubertus fort: „Guten Morgen Herr Professor Elster, ja – es ist schrecklich, wir haben eben Herrn Professor Oster in seinem Raum gefunden“.

      Sie lauschte kurz in den Hörer, während sie sich mit der freien Hand die Telefonschnur um den Zeigefinger wickelte.

      Es wurde mir ein Notarzt versprochen und ich beendete das Gespräch mit einer kurzen Beschreibung der Zufahrt auf dem Institutsgelände, denn mir fiel die Hausnummer unseres Gebäudes nicht ein.

      „Nein, haben wir noch nicht, wir haben noch niemanden benachrichtigt, wir haben gleich bei Ihnen angerufen. Ich glaube, das hat auch keinen Sinn.“

      Als ich mein Handy in die Tasche steckte, korrigierte sich Frau Hubertus.

      „Nein, einen Notarzt haben wir schon gerufen. Trotzdem.“

      Pause, sie lauschte.

      „Ja, der Doktorand von Herrn Professor Oster.“

      Sie lauschte.

      „Nein, es ist nichts zu sehen, wir konnten nichts entdecken. Vielleicht ein Herzinfarkt, wir wissen es nicht. Es ist alles durchwühlt. Vielleicht war es auch ein Einbruch.“

      Sie lauschte.

      „Nein, natürlich nicht, Herr Professor Oster hat ja einen Schlüssel. Irgendjemand anderes. Wir wissen es nicht. Es sieht schrecklich aus.“

      Sie lauschte.

      „Um Gottes willen, nein, wir werden nichts anfassen.“

      Sie lauschte.

      „Gut, dann warten wir hier auf Sie.“

      Damit legte sie den Hörer auf.

      Wir warteten eine Minute wortlos.

      „Wann kommt der denn bloß, das kann doch nicht so lange dauern!“

      Frau Hubertus lief zur Tür und schaute angespannt rechts und links den Flur entlang.

      Der Notarzt hätte eigentlich auch schon da sein sollen. Mein Betreuer war tot. Meine Arbeit ohne Betreuung. Meine Doktorarbeit vor dem Aus? Hatte Oster das Büro selbst so zugerichtet? Oder jemand anderes. Wäre das möglich?

      „Ich behalte mal lieber den Flur im Auge“, sagte Frau Hubertus, „es soll da niemand hineingehen, bis der Dekan hier ist.“

      Nervös ging sie einige Schritte in den Flur hinaus.

      Dass ich mich in letzter Zeit mit Herrn Oster nicht allzu gut verstanden hatte, wusste hier am Institut jeder, zumal es keiner für möglich hielt, dass man sich mit Herrn Oster überhaupt verstehen konnte. Alle Begebenheiten, die dieses Bild von Herrn Oster bestätigen konnten, hatte ich auch gern in der Runde der Kollegen erzählt und sorgte damit für großes Gelächter. Galgenhumor. Allein das äußere Bild von mir und meinem Betreuer, ehemaligen Betreuer, sorgte oft für ironische Bemerkungen. Oster klein, mitunter bissig wie ein Terrier und ich groß (an die zwei Meter, in der Schulzeit hatte ich einen nicht unerheblichen Anteil am Aufstieg der C-Jugend im Basketball in Lübeck) und eher gutmütig, würde mich jemand fragen. Irgendwie konträr oder zumindest komplementär unsere gemeinsamen Auftritte im Institut oder bei gemeinsam besuchten Tagungen.

      „Er kommt.“

      Frau Hubertus ging dem Dekan einige Schritte entgegen.

      „Es ist schrecklich“, hörte ich sie ihn begrüßen.

      „Was ist denn nur hier los, Frau Hubertus?“, vernahm ich seine etwas langsame und sehr tiefe Stimme. Er hatte einen beruhigenden Tonfall angeschlagen, um das Problem allein durch seine besonnene Art zu lösen. Ich ging zu Tür und sah beide näher kommen. Er erwiderte kaum merklich meinen Gruß. Frau Hubertus machte sich nicht mehr die Mühe, das Geschehen zu erklären, sondern führte Herrn Elster an mir vorbei zur Tür meines Büros.

      „Mein Gott!“

      Seine tiefe, kräftige Stimme drang bis auf den Flur hinaus. „Was ist denn hier passiert?“

      Als ich den Raum erreichte, sah ich Herrn Elster weit nach vorn gebeugt vor Oster stehen und dessen Gesicht betrachten. Mir kamen seine naturwissenschaftlichen Wurzeln in den Sinn.

      „Der Kollege ist tatsächlich tot. Wann haben Sie ihn gefunden?“

      Frau Hubertus warf mir einen kurzen Blick zu und erwiderte dann, dass ich es sei, der Herr Oster gefunden hätte. Herr Elster richtete sich auf und schien mich zum ersten Mal richtig wahrzunehmen.

      „Sie sind Mitarbeiter beim Kollegen Oster?“

      „Ja, war ich.“

      „Natürlich“, antwortete er und wandte sich wieder dem leblosen Körper zu.

      „Ich habe ihn so gefunden. Zuerst habe ich gar nicht erkannt, dass er tot war.“

      „Ja, natürlich.“ Herr Elster schaute sich suchend im Zimmer um. „Ist das nun Ihr Büro oder das vom Herrn Kollegen?“

      „Wir teilen uns das Büro im Moment. Herr Oster ist die meiste Zeit nicht hier, eigentlich wollte er auch erst nächste Woche wieder hier sein.“

      „Ja, richtig, Herr Oster ist ja mit einem Bein noch in Dresden. War mit einem Bein“, korrigierte sich Herr Elster.

      „Wir hatten den Notarzt verständigt. Ich will mal unten nachsehen, wo er bleibt.“

      Herr Elster machte einen zweifelnden Gesichtsausdruck. Zurecht.

      Auf der Treppe kamen mir zwei Sanitäter entgegen. Ich wies ihnen den Weg zu meinem Büro. Sie liefen mir voraus. Ich konnte noch sehen, wie sie die Koffer am Eingang abstellten und in meinem Büro verschwanden. Ich beeilte mich nicht. Als ich dort ankam, hatten sich die Sanitäter bereits vom Tod Osters überzeugt. Keine Eile mehr. Sie unterhielten sich leise mit Herrn Elster und notierten etwas. Elster wollte jetzt Hauptkommissar Peters verständigen. Er schien den Hauptkommissar zu kennen. Es klang, als würde er sich zum Golfen verabreden. Mit weit ausholenden Schritten verließ er das Büro. Er hatte die Sache in die Hand genommen.

      „Da macht er sich aus dem Staub“, murmelte Frau Hubertus mit tonloser Stimme.

      „Woran ist er denn jetzt gestorben?“ Ich sprach einen der Sanitäter an.

      „Das