Malte Kersten

Nach dem Eis


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in die eiskalte Luft nach draußen. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich ein spiegelglattes, dunkelblaues Meer. Fast spiegelglatt, die Wogen des vergangenen Sturms hoben und senkten unser Schiff immer noch sehr sanft. Weiße Eisberge glänzten schimmernd und setzten sich als Spiegelbilder im Blau fort. Über allem ein fast so dunkelblauer Himmel wie das Wasser. Blau in allen Schattierungen. Blau. Und die Sonne. Sonst nichts bis zum Horizont. Und das war weit.

      „Da, schau!“

      Bernd wies mit ausgestrecktem Arm aufs Wasser hinaus. Langsam und mit einer bewundernswerten Ruhe tauchten ein paar Wale auf und bliesen mit einem eigenartigen Geräusch ihren Atem in die eiskalte Luft. Ich war überwältigt. Ich konnte nur noch schauen. Dieser Kontrast zu den letzten Tagen hätte kaum größer sein können. Oder zu den letzten Monaten. Ein Paradies aus Wasser, Sonne, Eis und einigen Lebewesen. Ich beschloss, den Rest meines Lebens hier an der Reling zu stehen und diese Ruhe und Gelassenheit zu leben. Der Zauber war nicht zu übersehen. Es war durchgestanden, überstanden. Ich war angekommen und atmete tief durch. Und musste husten. Die kalte Polarluft reizte die Bronchien. Eine anstrengende Zeit lag hinter mir, wenn ich es mal so neutral ausdrücken soll. Aber hinter mir und vor mir dieses tief blaue Meer.

      Das traumhafte Polarwetter hielt weiter an. Bei dem Wetter wäre die Expedition von Shackleton ganz anders verlaufen. Und hätte sicher nicht die Popularität erreicht, wie die dramatische Rettungsaktion der Expeditionsmitglieder. Nach dem ersten Stopp an den ersten Eisbergen, nachdem unsere Biologen ihren ersten Kontakt mit den Walen ausgiebig dokumentiert hatten und ich die ersten Fotos gemacht hatte, fuhr unser Schiff immer weiter nach Süden. Für mich gab es dabei wenig zu tun, sodass diese Tage, abgesehen von den ersten Polarfotos, aus dem Erkunden des Schiffes und den gemeinsamen Essen mit Bernd und seinen und jetzt auch meinen Kollegen in der Kombüse bestand. Gemäß alter Seemannstradition war das Essen erstaunlich gut. Drohende Meutereien wurden schon oft mit gutem Essen oder einer Extraration Rum abgefedert.

      Beim Nachtisch rief mich die Lautsprecherdurchsage zu den Satellitentelefonen. Die Gespräche bei Tisch verstummten einen Augenblick und meine neuen Kollegen schauten überrascht auf. Ich guckte Bernd fragend an, er zuckte die Achseln, zeigte mir aber eilig den Weg zu den Telefonen. Es musste dringend sein. Ich nahm den Hörer ab, das Gespräch wurde vermittelt. Es knackte und rauschte ein wenig. Ich fühlte mich hundert Jahre zurückversetzt in der Kommunikation. Als ich „Hallo?“ sagte, begriff ich, dass die Verbindung schon bestand. In der Stille hinein erkannte ich, dass ich nicht allein am Telefon war.

      „Reimann hier.“

      Trocken, tonlos, eine einfache Information. Mit Konsequenzen. Wie hatte er mich hier am Ende der Welt? Unmöglich, woher wusste er? Mit einem Mal war ich nicht mehr zehntausend Kilometer von Kiel entfernt. Nebenan, im Einflussbereich dieses Mannes. Ich suchte mit dem Blick Bernd, konnte ihn aber nicht erblicken. Alle anderen gingen ihrer Arbeit nach oder scherzten an der Ecke zum Gang. Die junge Biologiestudentin zeigte zwei Wissenschaftlern etwas und erntete herzhaftes Lachen. Waren es Fotos?

      „Sind Sie noch dran?“

      Klar und deutlich. Die paar Tage unter südlicher Sonne konnten nicht ausreichen, einen wirklichen Abstand zu meiner Zeit in Kiel herzustellen. Da reichten auch zehntausend Kilometer nicht. Ich war sofort wieder zurück an meinem Arbeitsplatz. Eingeholt von meiner Vergangenheit. Eben nicht Vergangenheit. Gegenwart. Reimann hatte mich aufgespürt. Wie konnte es nur so weit kommen? Mir war warm. Heiß. Das Telefon war an der Wand befestigt. Ich konnte mich nicht mehr als eineinhalb Meter davon entfernen. Es hatte so harmlos begonnen. So erfolgreich, so aussichtsreich. Was waren meine Eltern stolz auf mich. Ich muss sie anrufen, ging es mir durch den Kopf. Einer von der Besatzung fasste mich sanft an der Schulter und deutete auf die straff gespannte Telefonschnur. Was wollte Reimann, konnte er nicht akzeptieren, dass ich jetzt weg war? Das waren die Konsequenzen, die ich bereit war zu tragen. Wir hatten uns eben getäuscht. Wir hatten akribisch die Einzelteile zusammengefügt. Lücken hatten wir durch logische Schlussfolgerungen geschlossen. Das Ganze hatte immer mehr Gestalt angenommen. Wir hatten unseren logisch geschulten Verstand eingesetzt und mühsam die Wahrheit aus dem Wust überflüssiger Informationen herausgeschält. Letztendlich hatte das Bild konkrete Konturen angenommen. Es hatte gepasst, mehr oder weniger. Es hatte logisch richtig ausgesehen. Zumindest annähernd. Im Rahmen des Möglichen. Und dann waren es doch nur Zufälle. Eine Kette von Ereignissen. Kein kausaler Zusammenhang.

      Wenn ich hätte den Anfang benennen sollen, dann war es sicher der plötzliche Tod von meinem ersten Doktorvater. Würde er noch leben, wäre alles anders verlaufen. Mit seinem Tod hatte alles angefangen. Auf einer Sympathieskala von eins bis zehn pendelte er sich sowieso nur bei einer Fünf ein. Aber nach seinem Tod und dem, was er mir dadurch eingebrockt hatte, sank er nochmals um ein bis zwei Punkte. Denn, obwohl tot, war er daran keinesfalls unbeteiligt.

      Aus Rücksicht auf die noch lebenden Personen sind im Folgenden alle Namen verändert. Auch die Schauplätze, zum Beispiel das Forschungsinstitut, gibt es so nicht. Der hauptsächliche Handlungsort ist die Stadt Kiel, könnte aber jede andere norddeutsche Universitätsstadt sein. Meine Erlebnisse stehen hier im Mittelpunkt, nicht eine Kette von kausalen Fakten.

      Es begann etwa ein halbes Jahr vorher.

      1. Kapitel

      Das Fauchen der Espressokanne weckte mich aus meinen Träumen. Ich wollte den Tag etwas früher beginnen und war beim Warten auf den Kaffee schon wieder in einen Schlaf ähnlichen Zustand gerutscht. Mit dem Dampf verbreitete sich das Kaffeearoma in unserer kleinen Küche. Mühsam erhob ich mich und goss mir einen Kaffee ein. Leise knisterte der Toast im Toaster. Die Wanduhr vom Flohmarkt tickte gleichmäßig aber fünf Minuten zu spät.

      Hans, mein Mitbewohner, schloss die Wohnungstür auf. Er kam jetzt erst nach Hause. Erschöpft ließ er sich auf dem Küchenstuhl fallen. Dankbar nahm er eine Tasse Kaffee. Er brachte Kälte und den Geruch von Nässe und Zigarettenrauch mit herein.

      „Das war zu lange. Eindeutig.“

      Er sah fertig aus. Logisch. Obwohl ich geschlafen hatte, stand ich noch immer neben mir. Nach mehreren Schlucken Kaffee schleppte Hans sich in sein Zimmer. Schlafen. Alles andere musste warten. Ich dagegen hängte mir die Tasche über und verließ die Wohnung. Hoch motiviert, nahm ich mir jedenfalls vor. Draußen war es noch dunkel, kalt. Ideal, um aufzuwachen. Der Weg war zu kurz, um das Fahrrad aus dem Keller zu holen, aber weit genug, um beim leichten Regen nass zu werden. Heute wollte ich mal richtig etwas schaffen. Ich war stolzer Doktorand am Institut für angewandte Umweltforschung in Kiel. Die orientierungslose Anfangsphase der Doktorarbeit war fast überstanden. So langsam wusste ich, was ich wollte, was mein Professor von mir wollte. Vereinzelte Textpassagen oder zumindest Konzepte gelangen mir schon ganz gut. Vernichtende Korrekturtermine bei meinem Betreuer wurden zunehmend seltener. Ich realisierte immer mehr, dass ich in der Wissenschaft angekommen war.

      Dabei war ein Doktortitel durchaus nicht immer Bestandteil meiner gewünschten Berufsbiografie. Ich hatte mein Studium bereits ein paar Jahre zuvor abgeschlossen und mit dem Diplom in der Tasche verschiedene Jobs angenommen. Kein Job konnte mich richtig begeistern. Allerdings hatte auch das Studium mich nicht richtig begeistert. Nach dem Abschluss hatte ich keine klare Vorstellung davon, wie mein weiteres Leben aussehen sollte. Ich probierte ein wenig herum, wurde aber immer mutloser. Diese Unzufriedenheit (sehr subjektiver Eindruck, viele, so auch meine Eltern, waren oder wären sehr zufrieden mit meinem geregelten Berufsleben) bekam hin und wieder energischen Rückenwind durch meine Oma. Ja, meine Oma.

      Meine Oma verkörperte in etwa das Gegenteil von dem, was meine Eltern sich für meine berufliche Entwicklung gewünscht haben. Die Wünsche meiner Eltern tendierten zu einer soliden Ausbildung, gefolgt von einer gesicherten Anstellung innerhalb eines anerkannten Unternehmens. Obwohl ich die ersten sechs Lebensjahre überwiegend bei meiner Oma lebte, konnte ihre Lebensart nicht auf mich abfärben, leider wie sie sagte (zum Glück, wie meine Eltern dachten). Aus Sicht meiner Oma war ich genauso konventionell wie mein Vater, ihr Sohn. Bei ihm waren ihre Bemühungen umsonst gewesen. Bei mir hatte sie noch Hoffnung. Als ich später wieder bei meinen Eltern wohnte, blieb meine Oma trotzdem meine wichtigste Bezugsperson. Ich mochte ihre impulsive Art. Ihre Begeisterung war ansteckend. Sie versuchte immer