Stefanie Landahl

Vom Falken getragen Teil 1


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da und beobachtete Marie. Es wirkte, als würden sie sich gegenseitig in die Augen schauen. Die Situation fühlte sich nicht bedrohlich an, eher mystisch, fast, als wäre es von Bedeutung. Sie hatte das Gefühl, diese Augen nicht das erste Mal gesehen zu haben. Irgendwann schlief sie ein, und als sie wieder erwachte, setzte der Falke gerade zum Flug an. Er umkreiste sie noch einmal und verschwand anschließend in Richtung Süden. Marie stand auf, reckte und streckte sich den letzten Schlaf aus den Gliedern und lief weiter. Richtung Süden.

      Weiter vorn schien eine kleine Ortschaft zu sein. Sie entschloss sich, dort ein Plätzchen für die Nacht zu suchen. Marie sah ein Fachwerkhaus, es wirkte alt und nahezu märchenhaft. Die Vorderfront war mit Efeu bedeckt. Ein Holzschild in Herzform, mit der Aufschrift: Schlafplatz frei, hing an der Eingangstür aus schwerem Eichenholz. Diese wurde von einer Blumenranke umrahmt. Rechts stand ein großer Blumenkübel und links eine Schubkarre aus Holz, gefüllt mit bunten Wildblumen. Zögerlich griff sie nach dem Türgriff. Als Marie diesen berührte, wirkte es, als würde sich die Tür fast von alleine öffnen.

      Sie ging zu einem Tresen, hinter dem sie die Rezeption vermutete. Weit und breit war niemand zu sehen. Auf der polierten Fläche stand eine glänzende, antike Messingglocke, mit welcher Marie auf sich aufmerksam machte. Zaghaft griff sie nach dieser und schüttelte sie vorsichtig. Kurz darauf hörte sie schnelle Schritte.

      Eine Frau kam um die Ecke und sagte mit freundlicher Stimme: »Ich komme ja schon!« Silbergraues Haar umrahmte in weichen Wellen ihr gütiges Gesicht. Sie war nicht besonders groß, aber für ihr Alter wirkte sie erstaunlich sportlich. Die Augen der Frau blickten liebevoll und ungewöhnlich aufmerksam.

      »Guten Abend, junge Frau. Sie suchen sicherlich einen Platz zum Schlafen. Es ist selten, dass hier jemand herkommt. Zurzeit könnten Sie sich ein Zimmer aussuchen, doch ich empfehle Ihnen das nach Süden hin, im obersten Stock. Der Ausblick dort ist besonders herrlich. Wenn Sie noch zu Abend essen möchten, sagen Sie es nur, ich richte Ihnen gerne etwas her.«

      »Danke, das wäre sehr nett, etwas hungrig bin ich schon.«

      Kaum hatte sie die Worte gesprochen, knurrte ihr Magen lautstark, wie zur Bestätigung. Etwas hungrig war gewaltig untertrieben, da sie vor drei Tagen das letzte Mal gegessen hatte. Marie bedankte sich, während sie den Schlüssel mit der Nummer sieben entgegennahm. Sie ging die knarrende alte Treppe hoch in den ersten Stock. Wie alt das Haus wohl sein mochte, überlegte sie. Überall sah man Deckenbalken und auch die Wände waren teilweise mit Holzbalken durchzogen, alles wirkte freundlich und gemütlich. Es passt irgendwie zu der alten Frau, dachte Marie, während ihr Magen erneut laut grummelnd verkündete, dass ein leckerer Geruch von Essen sich im Haus breitmachte.

      Nachdem Marie einen vorzüglichen Salat mit Kräutersoße, Bratkartoffeln und hinterher selbst gemachten Joghurt gegessen hatte, setzte sie sich noch ein Weilchen raus auf den Balkon und beobachtete die Natur. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, Zuhause angekommen zu sein. Marie konnte sich gut vorstellen, hierzubleiben, denn hier fühlte sie sich das erste Mal in ihrem Leben wohl. Hier war niemand, der sie anschrie. Niemand, der sie verachtend wegsperrte. Niemand, der sie als Spinnerin verhöhnte.

      Dass sie vielleicht ein wenig verrückt war, das wusste sie ja. Aber das war doch nicht ihre Schuld. Daran war das Gift schuld. Das Gift, das dieser Mann vor Jahren in sie reingespritzt hatte. Immer wieder kam er nachts, tat ihr weh und vergiftete sie mit diesem Zeug. Sein Geruch und sein Gestöhne verfolgten sie manchmal noch heute. Schnell brach sie ihre Erinnerungen ab, wusste sie doch, wohin das führen konnte. Niemals würde sie jenes vergessen können, da war sie sich sicher.

      Als Marie sich damals endlich getraut hatte, zur Internatsleitung zu gehen, glaubte man ihr nicht! Stattdessen wurde sie als Lügnerin hingestellt. Sie wäre eine, die dem männlichen Personal schöne Augen machen würde. Aufgrund dessen könne sie nicht länger im Internat bleiben. So hieß es in dem Schreiben, welches ihre Eltern bekamen, bevor sie Marie abholten.

      Von da an wurde sie von ihrer ohnehin kaltherzigen Mutter bei den geringsten Anlässen in den dunklen Keller gesperrt. Im Keller war sie nie ganz allein, es lebten dort jede Menge Spinnen, und auch Ratten liefen ihr manchmal über die Füße. Doch Marie sah sie nicht. Mit der Zeit entwickelte sie eine ausgeprägte Spinnenphobie und hatte Angst vor Ratten und der Dunkelheit.

      Eines Tages hatte sie ihren Eltern heimlich ein Feuerzeug gestohlen und es mit in den Keller genommen. Doch leider wurde es entdeckt und sie bezog mal wieder eine Tracht Prügel. Marie wurde als die Schande, die sie doch war, gemieden und als Früchtchen, Lügnerin und Diebin beschimpft. Ihre Mutter hatte sie nahezu täglich spüren lassen, wie sehr sie ihre Tochter für die Beschmutzung ihres Ansehens hasste. Mutter hatte ihr nicht glauben wollen. Die Nachbarn waren wichtiger, als die ach so missratene Tochter.

      Sie hatte es wirklich versucht. Damals, an dem Tag, als ihre Mutter die blauen Flecken an ihrem Körper entdeckte. Marie stand gerade unter der Dusche, als plötzlich ihre Mutter das Bad betrat. Vorwurfsvoll wurde sie angekeift. Ihr wurde unterstellt, dass sie sich geprügelt hätte. Zitternd und schluchzend hatte Marie erzählt, was vorgefallen war.

      Ihre Mutter lachte auf und zischte: »Erzähle mir nicht solche Märchen, Marie!« Und verließ den Raum.

      Und ihr Vater? Er war zu schwach, stand unter dem Pantoffel seiner Frau. Wenn er nur andeutungsweise versuchte, etwas zu sagen, oder zu murren, wurde er mit sexuellem und persönlichem Entzug bestraft. Er war ihrer Mutter hörig, in jeglicher Hinsicht. Was Marie nie begriff – selbst ein Eisberg hatte mehr Wärme als diese Frau. Marie liebte ihren Vater, doch gleichzeitig empfand sie Abscheu und Mitleid. Oft hatte sie das Gefühl gehabt, dass er wusste, dass sie die Wahrheit sagte.

      Lange Zeit konnte Marie nicht nachvollziehen, warum sie von ihrem Vater keine Hilfe bekam. Er konnte nicht, egal wie sehr sie sich wünschte, dass er sie beschützen möge. Vor Jahren gab es einen Vorfall in der Schule. Ein Mädchen wurde bedroht. Der Vater des Mädchens war unverzüglich in der Schule und sie hatte von da an für immer Ruhe. Der Mitschüler der höheren Klasse musste sich vor versammelter Mannschaft bei seinem Opfer entschuldigen. Marie wünschte sich damals sehnlichst, dieser Vater wäre der ihre.

      Eines Tages hatte sie gehört, wie ihre Mutter mit ihrem Vater sprach: »Die Göre hat nicht alle beisammen, heute hat sie wieder den ganzen Tag schaukelnd in der Ecke gesessen und wirres Zeugs gestammelt. Ich werde morgen Dr. Born anrufen, der wird sie in die Psychiatrie einweisen!«

      Ihr Vater antwortete stotternd: »Nein, das kannst du … das kannst du … doch nicht …«, und fügte fast flüsternd hinzu: »Sie ist doch unsere Tochter!«

      Anschließend war es ruhig. Marie wusste, ein kalter Blick hatte genügt, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er kann einem wirklich leidtun, dachte Marie, während sie ihre Sachen gepackt hatte.

      Kurz darauf war sie geflohen.

       Nun war sie im Nirgendwo und wusste eigentlich gar nicht, was sie fühlen sollte. Doch alles wäre besser als die Psychiatrie und wieder eingesperrt sein, fand Marie, während ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen.

       Neue Heimat?

      Marie hatte lange geschlafen. Als sie wach wurde, hörte sie die Vögel munter zwitschern und roch den Duft von Kaffee und frischen Brötchen. Erstaunt bemerkte sie, dass in ihrem Zimmer der Tisch mit eben diesen Dingen gedeckt war. Sie öffnete weit die Balkontür, setzte sich an den Tisch und genoss das wunderbare Frühstück. Die Mahlzeit, dieser ruhige Ort, der weite Blick und die Musik der Vögel versetzten sie in eine fast himmlische Harmonie. Sie vergaß Zeit und Raum. Gerne würde sie sich immer so fühlen, ging es Marie durch den Kopf. Ruhe. Wie lange hatte sie keine Ruhe mehr gefühlt?

      Sie war jetzt so nah bei sich, irgendwo hier draußen. Es war ein schönes Gefühl, dass es fast schon wieder unheimlich wurde. Was wäre, wenn ich einfach hier sitzen bleiben würde?

      Früher hatte sie manchmal in ihrem Baum die Ruhe gesucht, dorthin war sie oft geflüchtet. Dort fand man sie nicht. Der Baum stand auf dem unbewohnten Nachbargrundstück und hatte in seinem breiten Stamm ein großes Loch. Es war wie eine Höhle. Ihre Höhle. Sie hatte sich jedes Mal gewünscht, in seinem Schutz bleiben zu können