Stefanie Landahl

Vom Falken getragen Teil 1


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Im Anschluss würde sie die Gastgeberin suchen gehen. Vielleicht konnte diese ihr sagen, wo sie eine Zeitung finden würde. Sie wollte sich die Stellenanzeigen heraussuchen. Irgendwann würde ihr Erspartes verbraucht sein, und zurück, wollte sie auf gar keinen Fall! Niemals!

      Gerade wollte sie nach der Pensionsinhaberin klingeln, da diese nirgendwo zu finden war, als Marie eine Zeitung links neben sich liegen sah. »Das ist ja ein tolles Haus«, murmelte Marie im Selbstgespräch. »Hier scheint alles wie von selbst zu funktionieren.« Mit dem Blatt in der Hand ging sie wieder in ihr Zimmer und setzte sich auf den Balkon. Verwundert stellte sie fest, dass nicht weit von ihr der Falke auf einem Baumstumpf saß. Sie freute sich darüber, ohne genau zu wissen, warum. Es fühlte sich an, als wäre er so etwas wie ein alter Freund. Eine innere Stimme sagte ihr, dass dieser Falke vielleicht etwas mit ihren jahrelangen Träumen zu tun hatte. »Ach Marie«, schalt sie sich, »sei nicht blöd. Das ist ein Vogel, einfach nur ein Vogel.« Zurzeit träumte sie nicht diesen Traum, dafür schien der Falke stets in ihrer Nähe zu sein. Schon irgendwie komisch, aber von mir aus, soll er mich halt begleiten, ging es Marie durch den Kopf. Ob nun im Traum oder real ist eigentlich unwichtig. Marie widmete sich wieder der Zeitung. Die meisten Anzeigen waren unbrauchbar, aber diese hier klang ganz ansprechend:

      »Suchen Verkaufshilfe in unserer Backwarenabteilung. Bitte wenden Sie sich an unseren Personalchef Herrn Strack, Kaufhaus Morten.«

      Das wäre vielleicht das Richtige, dachte Marie. Sie brauchte diese Arbeit und wollte lieber persönlich hingehen. Wenn da nur nicht diese verdammte Angst wäre. Maries Blick glitt suchend zum Baumstumpf, aber der Vogel war weg. Schade. Eine leichte Traurigkeit erfasste Marie. Sie wunderte sich und fand keine Erklärung dafür. Hörbar atmete sie aus, um das Gefühl wegzubekommen.

      Marie stöberte in ihren Sachen nach etwas Ordentlichem zum Anziehen. Etwas, das für das bevorstehende Gespräch geeignet wäre, wenn sie schon nicht den üblichen Weg, mit Lebenslauf und schriftlicher Bewerbung, nutzen konnte. Anschließend lief sie nach unten. Sie wollte die Dame fragen, wie sie in die Stadt käme und wann der entsprechende Zug fuhr.

      Nach fast einer Stunde Fahrtzeit war sie endlich angekommen. Sofort fühlte sie sich unwohl. Es war fürchterlich laut und stressig, und es gab kaum Luft zum Atmen. Marie quälte sich ungefähr fünfzehn Minuten durch dichtes Gedränge, bevor sie vor dem Eingang des Kaufhauses Morten stand. Die vielen Menschen überall verunsicherten sie. Mit zittrigen Knien und ziemlich blass um die Nase fuhr sie die Rolltreppen bis in den vierten Stock hinauf. Sie war sehr froh über diese Beförderungsart – die Enge in einem Fahrstuhl hätte sie nicht verkraftet.

      Hinter der letzten Glastür lag ein langer Flur, an dessen Ende ein Schild mit der Aufschrift Personalbüro stand. Den Namen Herr Strack – Personalleiter fand sie schließlich zwei Türen weiter.

      Noch einmal holte Marie tief Luft und strich den Rock glatt, bevor sie an die Tür klopfte.

      »Ja, herein, bitte«, kam eine Stimme von drinnen.

      Marie straffte sich und öffnete mit leicht zittriger Hand die Tür zum Büro.

      »Guten Tag, Herr Strack. Ich komme wegen Ihrer Anzeige im Regionalblatt. Sie suchen eine Verkaufshilfe und ich würde gerne bei Ihnen anfangen. Ich weiß, dass Sie normalerweise eine schriftliche Bewerbung wünschen, aber das …«

      Plötzlich wusste Marie nicht weiter und eine leichte Röte überzog ihre Wangen.

      Herr Strack schien sichtlich amüsiert. Oder war er beeindruckt? Nun, zumindest lächelte er.

      »Setzen Sie sich bitte, Frau? Wie darf ich Sie ansprechen?«

      Marie errötete noch ein wenig mehr. »Entschuldigen Sie, ich bin Marie, Marie Weber.«

      »Gut, Frau Weber. Haben Sie denn einen Lebenslauf mitgebracht, damit ich mir ein Bild von Ihnen und Ihren beruflichen Kenntnissen machen kann?«

      Marie bemühte sich, nicht auf den Boden zu schauen, während sie antwortete: »Nein, es tut mir leid. Ich habe keine Vorkenntnisse, ich war im Internat und …«

      Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Aber ich kann alles lernen, ganz bestimmt!«

      Herr Strack war ein sensibler Mensch, auch wenn er das in seinem Job nicht zu sehr zeigen durfte. Prüfend, aber nicht unfreundlich, schaute er Marie an. Sie machte auf ihn einen verletzlichen Eindruck und er ahnte, dass ihr der direkte Weg hierher bestimmt nicht leicht gefallen war. Das rührte ihn irgendwie. Seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass er dieser zurückhaltenden, jungen Frau eine Chance geben sollte. Auch wenn er gewisse Bedenken hatte. Ob sie dem rauen Betriebsklima im Backshop standhalten würde? Aber davon sagte er ihr nichts.

      »Okay, Frau Weber, wir versuchen es miteinander. Kommen Sie bitte am Montag früh, um acht Uhr, in mein Büro. Ich werde Sie direkt ins Geschäft bringen und Herrn Braun, dem Abteilungsleiter der Bäckerei, vorstellen. Die Arbeitskleidung bekommen Sie von uns gestellt. Bitte besorgen Sie sich zeitnah noch ein Gesundheitszeugnis. Das Vertragliche regeln wir ebenfalls am Montag. Haben Sie noch Fragen?«

      Marie schüttelte verneinend den Kopf. »Gut, wir sehen uns nach dem Wochenende. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Frau Weber, und bedanke mich für Ihren Mut, hier persönlich zu erscheinen.«

      Freundlich lächelnd schüttelte Herr Strack ihr die Hand und begleitete Marie zur Tür.

      Marie strahlte vor Erleichterung und ein großer Stein fiel ihr vom Herzen. Sie verabschiedete sich mit einem herzlichen Danke.

      Ein schönes Gefühl, dachte Marie und sie war unheimlich stolz auf sich selbst. Erst lief sie von ihrem Zuhause fort, das keines gewesen war, und nun hatte sie sich durch die Menschenmassen getraut und beim ersten Anlauf einen Job bekommen. Fast hüpfend und neugierig auf ihren neuen Arbeitsplatz bummelte sie zur Bäckerei. Dort angekommen, schaute sie sich verstohlen um und kaufte übermütig gleich einen ganzen Kuchen. Diesen wollte sie zur Feier des Tages zusammen mit der Pensionsbesitzerin genießen. Dass sie ein unangenehmes Bauchziehen bekam, während sie den Kuchen kaufte, versuchte Marie zu ignorieren. Mutig und glücklich schlenderte sie durch das Gewimmel der Stadt zurück zum Bahnhof und fuhr schließlich zur Pension.

      »Hallo, wo sind Sie?«, rief Marie, während sie durch ihr derzeitiges Zuhause lief. Marie fand die Hausherrin draußen am Kräuterbeet, das hinterm Haus angelegt war. »Da sind Sie ja, ich habe Kuchen mitgebracht und würde diesen gerne mit Ihnen teilen, wenn Sie möchten. Ich war gerade in der Stadt und habe eine Arbeit gefunden. Montag fange ich bereits an.«

      Die Frau schaute lächelnd zu Marie und meinte: »Das ist ja wunderbar, Fräulein Marie, dass Sie das geschafft haben. Ich bewundere Ihren Mut und setze mich gerne zu Ihnen. Ich werde uns schnell einen frischen Kaffee aufbrühen.«

      Sie tätschelte Marie liebevoll die Schulter und schlurfte davon.

      Marie setzte sich auf die Bank hinterm Haus und schaute glücklich in die Weite der Natur vor sich. Wo war denn ihr Vogel? Fast hatte sie sich schon an ihn gewöhnt.

      Seltsam, die Wirtin hatte eben ihren Mut angesprochen, doch woher wusste sie denn, dass es für Marie Mut erforderte, in die Stadt zu gehen? Irgendwie eigenartig war diese Frau schon, aber instinktiv wusste sie, dass sie keine Angst vor ihr haben musste. Eigenartig war sie doch selber, dachte sie schmunzelnd. Oder sonderbar, wie viele Leute sie immer betitelt hatten. Sonderbar war noch der freundlichste Begriff von allen. Von Hexe über Hure, Flittchen, Verrückte bis Bekloppte war alles dabei. Sie hatte nie verstanden, warum alle Ehefrauen der Umgebung scheinbar Angst um ihre Männer hatten, wenn Marie aufgetaucht war, als ob sie diese verführen würde. So ein Blödsinn! Bei dem Gedanken schaute Marie eher ärgerlich und verwirrt aus. Männer waren für Marie doch gleichbedeutend mit Schmerz, Angst und Ekel. Daher ging sie sicherheitshalber allen Menschen aus dem Weg.

      Marie war so in Gedanken versunken, dass sie etwas erschrak, als die Pensionsbesitzerin mit dem Kaffee zurückkam. Das duftende Getränk stand vor ihr auf einem mit Blumen geschmückten Tisch. Der Kuchen war bereits angeschnitten und diese Frau saß da und lächelte Marie freundlich an.

      »Marie, so darf ich Sie doch