Stefanie Landahl

Vom Falken getragen Teil 1


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sie sich selbst. Mit dem missglückten Versuch eines Lächelns versuchte sie, ihre innere Stimme zum Schweigen zu bringen.

      In den nächsten Stunden erledigte Marie ihre Arbeit, wie ihr aufgetragen wurde. Es war eine schwere körperliche Tätigkeit, und trotzdem fand sie schnell ihren eigenen Rhythmus, doch die Aufregung blieb bestehen. Krampfhaft bemüht, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken, füllte Marie die Zutaten in den Teigmischer, im Anschluss wurde geknetet und geformt, je nachdem, was es werden sollte. Am meisten wurden Brötchen gebacken. Manche Teige wurden auch angeliefert und mussten nur noch in Ofen geschoben werden. War etwas fertig, wurde es in den Laden gebracht.

      Verstohlen wischte sie sich mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn. Ingo kam gerade in die Backstube und zwinkerte ihr aufmunternd zu. Lachend fuhr er mit einer Hand über seine Stirn und wischte sich den imaginären Schweiß ab. Danach schüttelte er seine Hand und stieß stöhnend die Luft aus. Im Laden war der Teufel los. Die Kunden standen wie so oft Schlange. Oje, hoffentlich bekomme ich im Laden das auch alles hin? Ihr wurde ein bisschen mulmig bei dem Gedanken.

      Obwohl ihr alles immer leichter von der Hand ging, wurde sie zunehmend unruhiger. Der Grund war Raimund. Wenn er ihr zeigte, wie eine Arbeit zu verrichten war, schien er den Körperkontakt zu suchen. Beim Teig ausrollen zum Beispiel, stand er dicht an Marie gedrängt. Sie konnte ihm nicht ausweichen, stand eingepfercht zwischen ihm und dem Arbeitstisch. Beklemmung machte sich breit. Am liebsten wäre sie jetzt klein wie ein Mäuschen und in der Lage, sich einfach wegzuducken, hinein ins nächste Mauseloch. Marie wurde ein wenig übel – er stank so entsetzlich. Ihre Hände begannen leicht zu zittern und sie verspürte den Drang, sich einfach umzudrehen, ihre Sachen zu schnappen und wegzulaufen.

      Raimund bemerkte ihre Unsicherheit. Er sah sie mit einem lüsternen Blick an, streifte langsam mit seiner Hand ihre Brust und drückte seinen Unterkörper noch ein wenig mehr gegen sie.

      Dazu grinste er frech und sagte: »Upps, sorry Marie, ich wollte ja, eigentlich, nur nach der Butter greifen. Eigentlich.«

      Er zwinkerte Marie zu und fuhr sich mit der Zunge genüsslich über seine Lippen.

      Marie konnte ihn nicht anschauen, sie suchte verzweifelt einen Ausweg. Das Gefühl in ihrer Brust drohte sie zu zerquetschen und ihre Atmung wurde immer hektischer. Ihre Übelkeit nahm drastisch zu. Sie ließ den Teig fallen und rannte zur Toilette und übergab ihren ganzen Ekel dem Toilettenbecken. Infolgedessen lehnte sie mit geschlossen Augen ihre Stirn an die kühlen Kacheln, während sie versuchte, das heftige Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Am liebsten würde sie sofort zu Minnie fahren, in die Ruhe und Sicherheit der Pension flüchten. Aber sie musste wieder rein, sie brauchte doch das Geld! Verdammt.

      Mit fahlem Gesicht stand sie einige Minuten später wieder brav am Backtisch. Zum Glück kam ihr Raimund nicht mehr ganz so nah, hatte er ihre Abneigung mitbekommen? Er sah irgendwie schuldbewusst aus. Oder bildete ich mir das nur ein? Vielleicht bilde ich mir das sowieso alles nur ein? Vielleicht war er gar nicht so nah an mir dran? Vielleicht war das Streifen meiner Brust wirklich ein Versehen?

      Oh Mann, Marie, hoffentlich wirst du nicht doch noch verrückt, dachte sie angstvoll.

      Der Rest des Vormittags verlief ohne weitere Zwischenfälle. Stupide und wortkarg verrichtete Marie ihre Arbeit, froh darüber, wenn sie keiner ansprach. Sie hatte das Gefühl, dass die Zeit überhaupt nicht verging, langsam schlichen die Zeiger der Uhr zum ersehnten Feierabend. Als es endlich so weit war, zog sie sich schnell um, verließ fluchtartig die Bäckerei und das Kaufhaus. Marie war vollkommen erledigt und hatte nur noch einen Wunsch, schnell nach Hause zu fahren.

      In der Pension angekommen, sagte sie zu Minnie, dass sie sich erst mal hinlegen wolle. Sie wäre zu erschöpft vom ersten Tag. Minnie nickte verständnisvoll und wünschte ihr eine gute Erholungspause. Sie hatte eigentlich immer für alles Verständnis, stellte Marie erleichtert fest. Und schloss die Tür ihres Zimmers.

      Irgendwann wurde Marie wach. Im ersten Moment wusste sie zunächst nicht, wo sie war, welcher Tag heute war und ob es nun morgens oder nachmittags war. Noch etwas benommen warf sie einen Blick auf den Wecker, welcher auf dem Nachttisch stand. Jetzt fiel es ihr wieder ein – es war Montag und ihr erster Arbeitstag lag hinter ihr. Obwohl sie ein wenig geschlafen hatte, war sie erschöpft.

      Ein angenehmer Duft stieg Marie in die Nase. Sie roch Kaffee. Sie entdeckte, dass auf dem Tisch eine Kaffeekanne und eine Tasse standen. Marie hatte gar nicht mitbekommen, dass jemand im Zimmer war. Minnie musste es irgendwann ganz leise abgestellt haben, stellt Marie erstaunt fest. Sie war froh, dass sie diese liebevolle Frau kennengelernt hatte. So umsorgt wurde sie noch nie in ihrem Leben - jedenfalls konnte sie sich nicht daran erinnern. Sie nahm den Kaffee mit auf den Balkon und trank ihn dort in aller Ruhe. Hinterher ging sie hinunter, um sich bei Minnie zu bedanken. Diese war bereits bei den Vorbereitungen fürs Abendessen.

      »Hallo Marie, wie war denn dein erster Arbeitstag? Magst du mir vielleicht davon erzählen?«

      »Ach Minnie, ich weiß nicht, was ich dir da erzählen könnte, es war ganz okay, glaube ich.«

      Minnie spürte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, aber sie spürte auch, dass Marie nicht darüber reden wollte. Mit einem prüfenden Blick auf Marie beschloss sie, das Mädchen nicht weiter zu bedrängen.

      Die beiden Frauen gingen noch eine Weile in den Garten und beobachteten, wie die Dämmerung sich herabsenkte, während sie dem abendlichen Konzert der Vögel lauschten. Anschließend aßen sie gemeinsam bei gemütlichem Kerzenlicht und plauderten über dies und das. So viel Harmonie kannte Marie nicht. Sie begann diesen Zustand zu genießen. Nach einiger Zeit wurde sie ruhiger und wirkte etwas in sich gekehrt. Sie hatte das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. In ihrem Zimmer versuchte sie mithilfe des Fernsehprogramms, ihrem unerklärlichen Sehnsuchtsgefühl zu entfliehen. Einigermaßen abgelenkt schlief sie schließlich ein.

      Irgendwann in der Nacht wurde Minnie durch laute Schreie, begleitet von einem leisen Wimmern, geweckt. Erschrocken setzte sie sich auf und eilte nach oben zu Marie. Diese lag im Bett und schlug mit ihren Armen wild um sich. Ihre Sachen waren klitschnass und ihre Stirn mit kaltem Schweiß bedeckt. Sie schien einen fürchterlichen Albtraum zu haben.

      »Sch … sch …, ganz ruhig Kleines. Es ist alles in Ordnung. Du hattest nur einen bösen Traum.«

      Marie wimmerte wie ein Kleinkind und Minnie nahm sie einfach in die Arme. Sanft schaukelte sie hin und her und redete beruhigend auf das Mädchen ein. Noch lange blieb Minnie in dieser Nacht an ihrem Bett sitzen und hielt die Hand der verstörten, jungen Frau.

      Als Marie wieder eingeschlafen war, schlurfte Minnie hinunter in die Küche, machte sich erst mal eine Tasse Tee und dachte abermals darüber nach, wie sie Marie nur helfen könnte. Irgendjemand musste für Marie da sein. Sie würde sich freuen, wenn die junge Frau hierblieb.

      Gerne würde sie so lange wie nötig für Marie da sein. Es würde schon einen Grund geben, dass Marie genau hier gelandet war. Da war sich die Frau sicher. Sicher war auch, dass diese Arbeitsstelle nicht gut für Marie war, dachte Minnie weiter, während sie wieder zurück ins Bett schlüpfte.

       Anna

      Der Zug ratterte eintönig Richtung Stadt. Marie hatte wieder Bauchschmerzen. Sie versuchte, sich auf die vorbeifliegende Landschaft zu konzentrieren, um sich und ihren Bauch zu beruhigen. In der Stadt angekommen, nahmen ihre Bauchkrämpfe solche Ausmaße an, dass sie erst einmal eine öffentliche Toilette aufsuchte. Marie stützte sich am Waschbecken ab und atmete tief durch. Sie sah ihr Spiegelbild und erschrak. Die Gesichtsfarbe war einem fast durchgängigen Weiß gewichen, dunkle Augenringe bildeten einen starken Kontrast dazu. Auf ihrer Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gesammelt. Langsam ließ sie kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen und benetzte anschließend ihr Gesicht mit dem kühlenden Nass. Erneut zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Wollte ihr Bauch sie vor etwas warnen?

      Nach einigen Minuten hatte sich Marie wieder so weit beruhigt, dass sie ihren Weg fortsetzen konnte. Kurz darauf kam sie in der Bäckerei an. Die Arbeit klappte ganz gut und auch ihr Chef,